Deutschland: Schröders Erbe

Nr. 40 –

Fast alle Parteien sind zufrieden mit dem Wahlergebnis, die SPD aber starrt in den Abgrund. Jetzt muss die ausserparlamentarische Opposition zeigen, was in ihr steckt.


Am schnellsten reagierten die AtomkraftgegnerInnen. Nur Stunden nach Bekanntgabe des Wahlergebnisses verschickte die Umweltgruppe Campact einen Aufruf. Die neue schwarz-gelbe Regierung müsse am Atomausstieg festhalten und die ältesten Meiler sofort stilllegen, heisst es in dem offenen Brief, den Zehntausende innerhalb eines Tages unterschrieben. Ausserdem dürfe nicht an der Förderung der erneuerbaren Energien gerüttelt werden.

Wie berechtigt die Sorge der AKW-GegnerInnen ist, zeigten die Kurssprünge der Frankfurter Börse am Tag nach der Wahl: Vor allem die Werte der Energieriesen Eon und RWE legten zu; die AnlegerInnen spekulieren auf ein Ende des 2002 vereinbarten Atomkompromisses, der die Laufzeiten der bestehenden Kraftwerke befristet.

Gegen die eigenen WählerInnen

Nicht nur die AKW-Bewegung wird nach dem Wahlerfolg der marktradikalen FDP und der Unionsparteien wieder in die Gänge kommen müssen. Denn auch die Lobbyverbände der Wirtschaft haben ihrer neuen Regierung den Tarif durchgegeben. Nun seien «mutige Reformen» angesagt, verkündeten die Vorsitzenden gleich mehrerer Unternehmensverbände schon am Montag: Abschied von «lieb gewonnenen Staatsausgaben» im Sozialbereich, weitere Flexibilisierungen des Arbeitsmarkts, Aufweichung des Kündigungsschutzes, nochmalige Reduzierung der Einkommens- und Unternehmenssteuern. Um auch den politischen Druck zu erhöhen, werden die Firmen und Konzerne zu Massnahmen greifen, die sie in Absprache mit der alten Regierung auf die Zeit nach der Wahl verschoben haben: Massenentlassungen im grossen Stil.

Aber können die Organisationen der sozialen Opposition, insbesondere die Gewerkschaften, einen ernst zu nehmenden Widerstand mobilisieren? Allzu lange haben sich die Gewerkschaften auf eine Partei verlassen, die jetzt abgestürzt ist wie keine Partei – und schon gar keine Regierungspartei – seit der Gründung der Bundesrepublik. Und die damit die Quittung bekam für eine Politik, die konsequent den Interessen ihrer StammwählerInnen zuwiderlief.

Die Gründe für den Fall der SPD (minus elf Prozentpunkte) liegen ebenso auf der Hand wie die für den Wahltriumph der FDP. Während die Liberalen vom Zulauf jener Wohlhabenden profitierten, die dem sozialdemokratisierten Gehabe der CDU-Kanzlerin Angela Merkel nicht mehr trauten und die sich noch mehr Umverteilungsgewinne erhoffen, wandten sich Millionen von einer SPD ab, die in den letzten elf Jahren vor allem Sozialabbau betrieb. Hartz IV, die massenhafte Durchsetzung von Billiglöhnen, die Anhebung des Rentenalters auf 67, die Kriegseinsätze in Jugoslawien und Afghanistan – angesichts dieses Leistungsausweises blieben knapp zwei Millionen bisherige SPD-WählerInnen lieber zu Hause. Und über eine Million wechselte zur radikal-sozialdemokratischen Linkspartei, die sich mit knapp zwölf Prozent aller Stimmen endgültig etabliert hat. Die grüne Mittelstandspartei hat zwar auch einen so hohen Stimmenanteil bekommen wie nie zuvor, verliert aber zunehmend an Profil.

Der Dritte Weg ist gescheitert

Schafft die SPD die Wende? Oder marschiert sie weiter in Richtung Kleinpartei? Das wird sich wohl erst am Parteitag im November zeigen. Die Traditionspartei hat nicht nur ein programmatisches Problem, sie hat auch ein personelles: Anders als etwa die Schweizer SP verfügt sie über keinen starken linken Flügel mehr. Alle namhaften KritikerInnen des neoliberalen «Modernisierungskurses», den der frühere SPD-Kanzler Gerhard Schröder durchsetzte, politisieren mittlerweile bei der Linkspartei. Der bevorstehende Kurswechsel hin zu ihren sozialdemokratischen Wurzeln wird der Partei nicht leicht fallen: Wie grenzt man sich von der Linken ab, wie geht man auf sie zu? Aber der Wechsel wird kommen. Der Aufstand gegen die Parteispitze hat bereits begonnen. Spätestens in ein, zwei Jahren fällt das Tabu einer bundesweiten Kooperation der SPD mit der Linken.

Eines aber ist heute schon gewiss: Das rechtssozialdemokratische Projekt des Dritten Wegs, des Wegs in die Mitte, ist gescheitert. Vom einst umjubelten Strategiepapier der damaligen Hoffnungsträger Tony Blair und Gerhard Schröder will nicht nur in der SPD niemand mehr etwas wissen. Auch in Britannien, wo diese Woche die Labour-Partei tagt, sind die Hoffnungen geplatzt. Dort könnte New Labour ein ähnliches Desaster blühen wie der SPD bei der Bundestagswahl und der SPÖ bei den Landtagswahlen in Vorarlberg und Oberösterreich.

Für die deutsche Linke ist das absehbare rot-rote Oppositionsbündnis nicht ohne Risiko. Oskar Lafontaines Vision von einer Vereinigung aller linken Parteien mag zwar machtpolitisch ihre Berechtigung haben, aber erreichbar ist sie nur um den Preis einer Konzentration der Politik auf der institutionellen Ebene. Ein Zusammenschluss oben mit all seinen autoritären Begleiterscheinungen würde den Spielraum und den Einfluss der Bewegungen unten begrenzen. Er würde der Linkspartei das entziehen, was sie in den letzten Jahren so stark hat werden lassen: die Diversität der politischen Ansätze und Meinungen. Welche Auswirkungen es hat, wenn eine Partei ihr ausserparlamentarisches Standbein verliert, zeigt das Beispiel der deutschen Grünen: Die wissen nicht mehr, wohin sie wollen.