Deutschland: Bunte Mitte, graue Politik

Nr. 43 –

Auf Bundesebene und in drei Ländern stehen die Koalitionsverhandlungen kurz vor dem Abschluss. Tendieren alle neuen Regierungen Richtung Mitte? Für eine Politik links davon geht es jetzt vor allem um eins – um die Glaubwürdigkeit.


Derzeit stecken alle grossen Parteien in Verhandlungen. In Berlin beraten die Unionsparteien CDU/CSU mit der FDP über ein neues Regierungsprogramm. Im Saarland tagen die Ausschüsse von CDU, FDP und den Grünen. In Thüringen debattieren SPD und CDU über eine Arbeitsgrundlage. Und in Brandenburg suchen SPD und die Partei Die Linke nach Gemeinsamkeiten. Die politische Landschaft Deutschlands ist mit der Bundestagswahl und den Landtagswahlen ganz schön bunt geworden.

Man kann diese Landschaft aber auch ganz anders beschreiben: Die AkteurInnen mögen bunt zusammengewürfelt sein, ihre Politik kommt jedoch nur in verschiedenen Grautönen daher. Im Grunde genommen bieten sie – wie die Autofirmen – nur eine Basiskarosserie an, von der es dann verschiedene Ausfertigungen gibt: mit Ledersitzen und ohne, mit hohem oder geringem Spritverbrauch. Jede der neuen Regierungen ist irgendwie eine Grosse Koalition. Nur FDP (oben) und Linkspartei (unten) signalisieren, dass das Land sozial zerklüftet ist.

Und doch darf das wichtigste Ergebnis der Bundestagswahl von Ende September nicht übersehen werden: Ab 2005 hatten SPD, Die Linke und die Grünen in allen Umfragen eine rechnerische Mehrheit. Mitten in der Finanz- und Wirtschaftskrise jedoch wählte die Bevölkerung eine konservativ-liberale Bundesregierung und stattete sie auch noch mit einer souveränen Mehrheit aus.

Wahlforscher und politische Analytikerinnen bieten drei Thesen an, warum das so gekommen ist:

Erstens: In Krisen wenden sich die WählerInnen immer denen zu, die «mit der Wirtschaft können». Ausgerechnet diese Krise zeigt jedoch, dass es die Wirtschaft ist, die es nicht kann: Diese und die sie tragenden Parteien CDU/CSU, FDP und Teile der SPD haben mit ihrem Denken und Tun die Krise mitverursacht.

Die zweite These zielt in die gegenteilige Richtung: Die Bevölkerung merkt von der Krise (noch) nichts. Etwa die Hälfte der Bevölkerung lebt von Renten oder Sozialleistungen. Über eine Million Beschäftigte sind zwar in Kurzarbeit, aber materiell geht es ihnen noch ganz gut. So richtig verloren haben eigentlich bisher nur Aktienbesitzende, und die haben in Sorge um ihr Wohlergehen und um sich vor höheren Steuern zu schützen, konsequent FDP gewählt.

Dritte These: Die BürgerInnen wollten mehrheitlich die Grosse Koalition loswerden, aber die Linke und Rot-Grün boten keine realistische Machtperspektive.

Diese Erklärungen mögen teilweise einleuchten. Und doch erzählen sie nicht die ganze Geschichte, die ja komplexer ist, wie die Koalitionsverhandlungen von Union und FDP in Berlin zeigen. Denn zuallererst hat die kommende Regierung beschlossen, die sogenannten Schonvermögen für Hartz-IV-EmpfängerInnen zu erhöhen. Dafür kämpfen Linkspartei, Grüne und Sozialverbände schon lange. Sie scheiterten aber bisher immer an der Regierungs-SPD der letzten Jahre. Diese hatte – dogmatischer, als der frühere Bundeskanzler Gerhard Schröder es je getan hätte – an dessen Erbe, der «Agenda 2010», festgehalten. Zum Sachverhalt: Verliert beispielsweise ein Facharbeiter, der zwanzig Jahre lang gearbeitet hat, seine Stelle, erhält er ein Jahr lang Arbeitslosengeld; danach bekommt er nur noch Hartz IV. Das sind maximal 359 Euro (543 Franken) im Monat. Vorher aber muss er sein ganzes Vermögen aufgebraucht haben, auch das, was er sich für die Altersversorgung angespart hat. Behalten darf er nur das Schonvermögen (bisher: 250 Euro pro Lebensjahr), dessen Anhebung die Regierungs-SPD stets abgelehnt hatte.

Die Sozialdemokratin

Und jetzt kommen ausgerechnet Angela Merkel und Guido Westerwelle – mit denen, wie viele während des Wahlkampfs argumentierten, «der soziale Kahlschlag» drohe – und klären diesen Streit zugunsten der Hartz IV-EmpfängerInnen. Ihr Beschluss, das mögliche Schonvermögen auf 750 Euro im Monat zu verdreifachen, hat dem Ansehen der SPD weiter geschadet. Denn was ist das für eine SPD, wenn sich eine schwarz-gelbe Koalition mit einer so simplen Massnahme (die zudem auch der FDP-nahen Versicherungswirtschaft zugute kommt) als sozial ausweisen kann? Wie nebenbei haben die neuen KoalitionärInnen auch auf dem Feld der inneren Sicherheit ein paar jener Masslosigkeiten zulasten der bürgerlichen Freiheiten korrigiert, die der bisherige CDU-Innenminister Wolfgang Schäuble zu verantworten hat; der bisher mitregierenden SPD waren diese Punkte nicht einmal eine Rede wert gewesen. Und dann hofiert die Kanzlerin die Gewerkschaften, wo immer sie kann, und hat von Anfang klargemacht: Am Kündigungsschutz, an der Mitbestimmung, an all diesen Eckpfeilern der Betriebspolitik wird nichts geändert. «Angela Merkel verwaltet jetzt nolens volens die Dienstgeschäfte der SPD», schrieb kürzlich die «Süddeutsche Zeitung».

Spätestens nach diesen Koalitionsverhandlungen wird Merkel Deutschlands fleischgewordene politische Mitte sein. In diese Mitte passt viel hinein: mal mehr oder weniger Soziales, mal mehr Atomenergie oder Windkraft, mal mehr Staat oder weniger. Sozialdemokratisiert sie nach ihrer eigenen Partei auch noch die FDP? Immerhin habe die Sozialdemokratisierung, so der Politikwissenschaftler Joachim Behnke, der CDU den Wahlsieg gebracht. Bei Sachthemen wie der Regulierung des Finanzmarktes und dem Mindestlohn neige die Mehrheit der Bevölkerung programmatisch viel mehr den Positionen der SPD zu als denen von Union und FDP. Wären die WählerInnen den Programmen gefolgt, so Professor Behnke, dann hätte es «auf keinen Fall für eine schwarz-gelbe Koalition gereicht». Die SPD aber habe als unglaubwürdig gegolten, Merkel hingegen als verlässlich und vor allem als sozialdemokratischer als ihre Partei. So sei es ihr gelungen, WählerInnen am linken Rand der Mitte zu gewinnen; dafür musste sie wirtschaftsliberale und konservative Stimmen an die FDP abgeben. Merkels Ziel sei, so schrieb das wirtschaftsnahe «Handelsblatt», «der CDU in dem neuen Fünfparteiensystem einen zentralen Mittelplatz zu erkämpfen und damit ihre Zukunft als Volkspartei zu sichern».

Die Grünen im Niemandsland

Die neue Regierung wird dem politischen Lager links des Mainstreams nicht als Feindbild dienen, an dem es sich wieder aufrichten kann. Sowohl die Grünen als auch die Linkspartei haben zwar nennenswert an Prozenten hinzugewonnen, vor allem aber auf Kosten der SozialdemokratInnen. Aber nicht nur deshalb gehen die drei Parteien eigene Wege. Bei den Grünen sieht es so aus, als führe ihr Weg sie aus dem linken Lager hinaus. Sie haben in zwei Bundesländern – einmal durch ihr Zuschauen, einmal durch ihr Handeln – rot-rot-grüne Koalitionen verhindert. In Thüringen spielten sie zwar nicht die entscheidende Rolle, taten jedoch nichts, um SPD und Die Linke zusammenzubringen; dort wird jetzt die SPD als Juniorpartnerin mit der grossen Wahlverliererin CDU regieren.

Und im Saarland, in der eine rot-rot-grüne Landesregierung bereits zum Greifen nahe war, schwenkte der Landesverband der Grünen unter dem Einfluss seines umstrittenen Vorsitzenden Hubert Ulrich in letzter Sekunde zu einer Koalition mit FDP und CDU um. Die Grünen trotzen den beiden Parteien zwar einiges ab: Die Studiengebühren werden wieder abgeschafft. Es werden keine neuen Kohlekraftwerke gebaut. Und die künftige saarländische Jamaika-Landesregierung wird sich gegen die geplante Verlängerung der Laufzeiten für Atomkraftwerke wenden, die Union und FDP auf Bundesebene bereits beschlossen haben. Nur: Das alles und noch viel mehr hätten die Grünen im Saarland auch mit der SPD und der Linkspartei erreicht.

Die Grünen haben sich in grossen Schritten hin zu einer modernen FDP entwickelt: sehr viel ökologischer, ein bisschen sozialer und geistig-politisch auf viel höherem Niveau. Bei Wahlen siegen sie vor allem in den Grossstädten des eher konservativ geprägten Südens. Aber auch in Hamburg, wo es einst den linksten aller grünen Landesverbände gab, regieren sie seit geraumer Zeit gedeihlich und in Wohlgefallen mit der CDU.

So scheinen die Grünen auf dem Weg in das politische Niemandsland zu sein, als Funktionspartei, die im Zweifel mit allen können will. In ihrem Kernthema Ökologie ist diese Vielfalt durchaus angelegt: Umweltschutz kann als Wettbewerbsvorteil für die deutsche Volkswirtschaft im Kampf um die Märkte interpretiert werden, aber auch als Ansatz, um Wachstumsideologie oder gar das kapitalistische System zu überwinden. Diesen Weg wählen die Grünen jedoch nicht ganz freiwillig: Zum einen treiben ihre WählerInnen sie in diese Richtung, zum anderen die Schwäche der SPD. Denn böte diese eine Regierungsperspektive, müssten die Grünen keine zweite suchen.

Warum eigentlich?

Die SPD wird in dieser Hinsicht auf längere Zeit nichts zu offerieren haben. Und das nicht nur, weil die von Gerhard Schröder angerichtete «Agenda 2010»-Politik unsozial ist. Schröder und seine ErbInnen – und das ist noch viel schlimmer – boten nie eine plausible Erklärung für den Sozialabbau an; sie argumentierten nur mit dem Sachzwang der Globalisierung. Vielleicht verteidigten Schröders Nachfolger gerade aus diesem Grunde das Projekt dogmatischer, als es der Erfinder je getan hat. Schröder wollte aus zwei sich widerstrebenden Elementen eine grosse neue Botschaft formulieren: Die SPD bleibt sozial und steht zugleich für eine Politik der wirtschaftlichen Innovation. Die kollektive Solidarität und der notfalls egoistische Wettbewerbsindividualismus sollten vereint werden – eine Aufgabe, an der er grandios scheiterte. Und an diesem Scheitern zerfällt seine Partei noch heute. Ihre WählerInnen strömen in alle Richtungen, Hauptsache weg (vgl. Kasten «Wie die SPD verlor» weiter unten).

Die Niederlage der SPD hat freilich auch der erfolgreichen linken Partei Die Linke ein dienliches Feindbild entzogen, das sie nicht nur gross machte, sondern auch einte. Ihr steht ein Generationenwechsel bevor, den Oskar Lafontaine ebenso richtig wie ungeschickt mit seinem Teilrückzug ins Saarland einleitete, eine Programmdebatte und eine strategische Diskussion: Wie kann Die Linke die SPD stärken, ohne sich dabei zu schwächen?

Komfortable Zeiten also für die Regierung Merkel. Und doch zeichnet sich eine Legislaturperiode ohne grosse Überschrift ab. Eine schwarz-grüne Regierung hätte ein ökologisches Wirtschaftswunder organisieren können. Eine erneute Grosse Koalition hätte Stabilität verkörpert. Eine rot-rot-grüne Regierung hätte sich an der ökologischen und sozialen Rekonstruktion der Industriegesellschaft versuchen oder wenigstens sagen können: Wir wollen gerecht durch diese Krise kommen. Aber was fällt einem zu einer Bundesregierung von Angela Merkel und Guido Westerwelle ein? Dass sie wenigstens markant unsozial ist. Aber das will wiederum die Kanzlerin nicht.


Wie die SPD verlor

Bei der Bundestagswahl fiel die SPD von 34,2 auf gerade noch 23 Prozent. Die Wahlbeteiligung sank von 77,7 auf 70,8 Prozent. 2,1 Millionen dieser NichtmehrwählerInnen hatten zuvor der SPD ihre Stimme gegeben. Ausserdem verlor die SPD 1,1 Millionen WählerInnen an die Linke, 870000 an die Unionsparteien sowie 860000 an die Grünen. Und 520000 «Agenda 2010»-WählerInnen, die an die SPD als neue Mitte glaubten, gingen zur FDP.