EU: Lettische Löhne

Nr. 6 –

Mit ihrer Dienstleistungsrichtlinie ermöglicht die EU-Kommission ein Lohndumping, das bald alle Beschäftigten im Dienstleistungsbereich erfassen könnte.

Da ist es wieder, das uralte Argument von den vielen Arbeitsplätzen, die die EU-Kommission zu schaffen verspricht. Mit 33 Milliarden Euro Umsatzsteigerung und 600 000 zusätzlichen Jobs sei zu rechnen, wenn man den Handel mit Dienstleistungen in den 25 Staaten der Europäischen Union (EU) liberalisiere, behauptet die Brüsseler Kommission, die schon bei der Einführung des Binnenmarktes Millionen von Arbeitsplätzen in Aussicht gestellt hatte. Aber mehr Wachstum und mehr Arbeit klingen gut angesichts der anhaltenden Massenarbeitslosigkeit in der Union. Und so verkaufen viele PolitikerInnen, ÖkonomInnen und Unternehmerverbände die Dienstleistungsrichtlinie, über die am kommenden Dienstag das Europäische Parlament abstimmt und die den freien Dienstleistungsverkehr ermöglichen soll, als ein Heilmittel gegen wirtschaftliche Stagnation und Arbeitslosigkeit.

Gewerkschaften und GlobalisierungskritikerInnen in vielen europäischen Ländern lehnen hingegen die so genannte Bolkestein-Richtlinie - benannt nach dem ehemaligen EU-Binnenmarktkommissar Frits Bolkestein aus den Niederlanden - rundweg ab. Sie befürchten grosse Nachteile für die Beschäftigten und die KonsumentInnen, sprechen von Sozial- und Lohndumping in nie gekanntem Ausmass und rufen zu europaweiten Protesten auf.

Schon heute steht es jeder Person und jedem Unternehmen frei, innerhalb der EU Dienstleistungen zu erbringen. Das Neue an der geplanten Richtlinie ist, dass mit ihr das «Herkunftslandprinzip» eingeführt wird. Das bedeutet, dass sich der Erbringer oder die Erbringerin einer Dienstleistung künftig nur an die Rechtsvorschriften des Landes halten muss, in dem er oder sie niedergelassen ist, und nicht mehr an die Regeln und Gesetze des Landes, in dem die Dienstleistung erbracht wird.

Die deutsche Dienstleistungsgewerkschaft Verdi hält zum Beispiel folgendes Szenario für denkbar: Ein Dienstleistungsunternehmen etwa im Handels-, Transport-, Kultur-, Bildungs- oder Sozialbereich verlegt seinen Firmensitz nach Polen. Dort sind Löhne, Sozialabgaben und Steuern niedrig, Arbeitslosengeld gibt es nur für sechs Monate, und die wöchentliche Arbeitszeit liegt deutlich über dem Durchschnitt vieler anderer EU-Staaten. «Ein Lebensmitteldiscounter könnte dann polnische Verkäuferinnen zu polnischen Löhnen und Arbeitsbedingungen auch in seinen EU-Filialen ausserhalb Polens beschäftigen», sagt die Verdi-Sprecherin Cornelia Hass. Das Lohngefüge in den alten EU-Ländern würde dadurch erheblich unter Druck geraten. Dort niedergelassene Unternehmen könnten sogar auf Personalagenturen oder Zeitarbeitsfirmen in den neuen EU-Mitgliedsstaaten zurückgreifen, die Beschäftigte zu dortigen Löhnen und Arbeitsbedingungen in die alten EU-Länder entsenden. Die Vermittlung über Agenturen würde dann nicht nur den Dienstleistungssektor betreffen - etwa den Einzelhandel, die Sicherheitsdienste, das Reinigungsgewerbe oder die sozialen Dienste. «Dadurch lassen sich auch Produktionsarbeiten als ‹Dienstleistungen› auslegen», befürchtet sie.

Nach zahlreichen Protesten im letzten Frühling und dem Einspruch der Regierungen von Frankreich und den Niederlanden - sie warben damals noch um die Zustimmung der Bevölkerung zur EU-Verfassung - hatte die EU-Kommission ihren ersten Entwurf der Bolkestein-Direktive zurückgezogen. In den folgenden Verhandlungen strich der Binnenmarktausschuss des Europaparlaments den Gesundheitssektor, den Anwaltssektor und die audiovisuellen Medien aus dem Zuständigkeitsbereich der Richtlinie. Der Ausschuss forderte zudem, dass das Arbeits- und Sozialrecht der Mitgliedsstaaten durch die Richtlinie nicht berührt werden dürfe. «Das ist nicht mehr als eine Absichtserklärung», sagt Ulla Lötzer, die für die Linkspartei im Wirtschaftsausschuss des Bundestags sitzt. Der Lohndruck wäre damit nicht verhindert, denn das Zugriffs- und Kontrollrecht des Ziellandes wäre beim Herkunftslandprinzip stark eingeschränkt und der bürokratische Aufwand ungeheuer. Im Falle von Rechtsstreitigkeiten mit Dienstleistern müssten sogar kleine Gemeinden über einen juristischen Stab verfügen, der Kenntnisse in 25 Rechtssystemen und 20 Amtssprachen besitzt. Noch schlimmer träfe es KonsumentInnen, die sich bei Reklamationen an die Behörden des Niederlassungslandes wenden müssten.

Angesichts des breiten Protests auch von KonsumentInnenverbänden und ihrer schlechten Umfragewerte will nun sogar die SPD gegen das Herkunftslandprinzip demonstrieren. «Es ist eine skurrile Vorstellung, dass die SPD gegen ihre eigene Politik auf die Strasse geht», kommentiert Detlef Larcher vom globalisierungskritischen Netzwerk Attac. Noch bei der Regierungsklausur der grossen Koalition Anfang des Jahres hatte sich die SPD gegenüber ihrem Koalitionspartner CDU bedeckt gehalten. Die CDU ist für das Herkunftslandprinzip. Der Koalitionsvertrag hält das Herkunftslandprinzip lediglich in seiner «bisherigen Ausgestaltung» nicht für «geeignet» und schlägt vor, den Text zu «überarbeiten».

Mit dem Herkunftslandprinzip treten 25 nationale Rechtssysteme innerhalb eines jeden Mitgliedsstaates direkt in Konkurrenz. Ein Unternehmen kann sich künftig für sein günstigstes Recht innerhalb der EU entscheiden, in diesem Land seinen Hauptsitz registrieren lassen und danach in einem anderen Mitgliedsstaat zu den dann geltenden «Heimatbedingungen» tätig werden. Auch eine Mehrfachregistrierung ist möglich. Die deutsche Linkspartei befürchtet, dass Firmen dann je nach Kalkül und aktueller Gesetzeslage von einem Herkunftsland ins nächste wechseln werden - zum Beispiel nach Lettland.

Die grossen Unternehmervereinigungen und der Europäische Unternehmerverband Unice begrüssen die Dienstleistungsrichtlinie. Unterstützt werden sie von der liberalen Fraktion des Europaparlaments. Auch die meisten konservativen Abgeordneten gehören zu den BefürworterInnen - mit Ausnahme einiger französischer EuropaparlamentarierInnen. Die sozialdemokratischen EU-Abgeordneten sind unentschlossen, Grüne und die EU-Fraktion der Vereinigten Linken sind grundsätzlich dagegen. Es wird auf jeden Fall noch zahlreiche Änderungsanträge und Vorschläge für Ausnahmeregeln geben, über die am 14. Februar abgestimmt wird.

Um den Protesten vorzubeugen, hat der Binnenmarktausschuss des Parlaments bereits vorgeschlagen, «das Wort Herkunftslandprinzip zu streichen». Stattdessen solle nur mehr über die «Freizügigkeit der Dienstleistungen» geredet werden. Mit dieser rhetorischen Korrektur werden sich die KritikerInnen freilich nicht zufrieden geben, die am 11. und 14. Februar in Strassburg und in anderen Städten Europas gegen die Dienstleistungsrichtlinie demonstrieren. ◊