Drei Empfehlungen des WOZ-China-Korrespondenten Wolf Kantelhardt: Romane aus China
Qian Zhongshu: «Die umzingelte Festung»
«Westler sind auf andere Weise hässlich als Chinesen: Chinesen sind hässlich, als wäre ihr Schöpfer faul gewesen und hätte Material beiseite geschafft, als hätte er seine Arbeit lieblos und schlampig verrichtet. Westler sind hässlich, als hätte ihr Schöpfer seinem bösen Willen Ausdruck verliehen, als habe er sich über ihre Gesichtszüge lustig gemacht. Ihre Hässlichkeit hat Methode», beobachtet Fang Hongjian.
Ein für den Roman typisches Zitat – in «Die umzingelte Festung» kommt niemand ungeschoren davon: konservative konfuzianische Gelehrte und deren abergläubische Ehefrauen, verwestlichte neureiche Kaufleute und deren verwöhnte Kinder, eitle und arrogante Intellektuelle, primitive BewohnerInnen der Inlandprovinzen. Fang Hongjian, die Hauptfigur selbst, war zwar in der Schule der Zweitbeste, sieht recht gut aus, macht lustige Beobachtungen und geistreiche Bemerkungen, ist aber gleichzeitig passiv und in nichts so richtig gut. Dieser Unzulänglichkeiten ist er sich durchaus bewusst, dagegen machen kann er nichts: In Deutschland kauft er sich einen gefälschten Doktortitel und kehrt in das China des Zweiten Weltkriegs zurück. Er versucht, seinen Platz zu finden in einer Gesellschaft, die sich gerade am Wendepunkt zwischen «traditionell chinesisch» und «modern westlich» befindet.
Der Autor Qian Zhongshu (1910–1998) war einer der grössten Gelehrten des vorigen Jahrhunderts. Auch ohne den «richtigen» Klassenhintergrund (sein Vater war ein berühmter Konfuzianer) und ohne die richtige politische Einstellung (in seinem Roman spielen die Kommunisten gar keine Rolle) wurde er später Übersetzer der «Mao-Bibel».
«Die umzingelte Festung» blieb deswegen Zhongshus einziger Roman. Der differenzierte, unparteiische Blickwinkel und die witzig-ironischen Schilderungen heben den Roman über alle modernen chinesischen Romane hinaus. Auch sechzig Jahre nach der Erstveröffentlichung.
Yu Hua: «Brüder»
Milliardär und Glatzkopf Li sitzt auf seiner goldenen Toilette und fragt sich, warum er so einsam ist. Sein Stiefvater Song Fanping, nicht nur körperlich der Grösste und deswegen bester Basketballspieler der kleinen Stadt Liuzhen, sondern auch liebevoller Ehemann und humorvoller Vater, kam in den Wirren der Kulturrevolution ums Leben. Sein Stiefbruder Song Gang, nicht nur der bestaussehende Mann Liuzhens, sondern auch belesen, fleissig, treuherzig und anständig, kam in den Wirren der Privatisierung und Marktwirtschaft ums Leben.
Die Besten sterben früh – ob nun in der Kulturrevolution, die den geschichtlichen Hintergrund des ersten Teils des Romans bildet, oder im Kapitalismus, der den Hintergrund des zweiten Teils bildet. Und Glatzkopf Li wird immer reicher.
In seinen bisher auf Deutsch erschienenen Romanen «Leben» und «Der Mann, der sein Blut verkaufte» stellt Yu Hua, Stargast auf der diesjährigen Frankfurter Buchmesse, jeweils eine Person in besondere Abschnitte der modernen chinesischen Geschichte. Das ist offensichtlich konstruiert, aber aufgrund Yu Huas lustiger Ideen und seines klaren Stils unterhaltsam. In «Brüder» geht Yu Hua wieder nach diesem bewährten Muster vor, es fehlt ihm dabei auch nicht an neuen Ideen. Nur beschränkt er sich nicht auf die (Stief-)Brüder Song Gang und Glatzkopf Li. Es treten auch Dichter Zhao und Schriftsteller Liu, Schmied Tong, Schneider Zhang, Messerschleifer Guan, Zahnzieher Yu, Eisverkäufer Wang sowie Mutter Su auf – alle werden in jedem Abschnitt «durchdekliniert».
Dadurch wird etwa der lustige Abschnitt, als Glatzkopf Li gebrauchte Anzüge aus Japan importiert und damit eine Revolution der Herrenmode auslöst, über zehn Seiten lang und langweilig. Und der sowieso geschmacklose Abschnitt, als Glatzkopf Li einen Jungfrauen-Schönheitswettbewerb veranstaltet und damit einen Handel mit künstlichen Jungfernhäutchen in Gang bringt, ist über fünfzig Seiten lang und geradezu unerträglich.
Li Er: «Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt»
In Guanzhuang stehen Dorfwahlen an. Dorfvorsteherin Kong Fanhua hat schon ihre Stellung als Parteisekretärin verloren, weil ein alter Mann aus ihrem Dorf gestorben ist und ohne die vorgeschriebene Einäscherung heimlich begraben wurde. Nun haben Nachbarn bemerkt, dass die Bäuerin Yao Xuedai seit zwei Monaten keine blutigen Binden mehr auf dem gemeinsam benutzten Plumpsklo hinterlassen hat. Yao Xuedai hat aber schon zwei Töchter. Ihr Bauch gehört nicht zu den 37 Bäuchen des Dorfs, denen «es von Gesetz wegen erlaubt ist, anzuschwellen». Deswegen muss Kong Fanhua jetzt auch um ihre Nominierung zur Dorfwahl bangen. Ihr Kampf gegen die Zeit beginnt.
Sehr gut gelingt dem Autor Li Er die Darstellung dessen, was am besten mit «chinesische Beziehungsnetze» bezeichnet wird. Egal, ob alle SchülerInnen in Guanzhuang eine Ausgabe der «Englisch-Konversation in 300 Sätzen» kaufen müssen, weil sich das Buch des Neffen des Kreisparteisekretärs bisher schlecht verkaufte, oder ob von dem Geld lieber die Inspektoren des Schulamts eingeladen werden sollen: Es gibt nichts, was ohne Rücksicht auf «besondere Interessen» entschieden werden könnte. Auch Dorfvorsteherin Kong Fanhua hat keine eigenen Entscheidungsspielräume und würde, obwohl «demokratisch gewählt», sofort aus dem Amt entfernt, wenn sie die Anweisungen von oben nicht umsetzte oder sich auch nur einmal in Bezug auf das «Beziehungsgeflecht» verkalkulierte.
«Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt» ist laut Behauptung des Regisseurs, der das Buch verfilmte, der Lieblingsroman der deutschen Bundeskanzlerin Angela Merkel. Sie soll das Buch bei ihrem letzten Staatsbesuch sogar der chinesischen Regierung zum Geschenk gemacht haben. Leider nur auf Deutsch.
Schade. Denn die deutsche Übersetzung ist oft holperig: Ein Satz passt nicht zum vorigen, oft ist nicht klar, wer jetzt mit «er» oder «sie» gemeint ist, und chinesische Redewendungen werden mal wörtlich, mal sinngemäss wiedergegeben. Das ist verwirrend und macht das Lesen recht mühsam.
Qian Zhongshu: «Die umzingelte Festung». Aus dem Chinesischen von Monika Motsch und Jerome Shih. SchirmerGraf Verlag. München 2008. 544 Seiten. Fr. 43.90.
Yu Hua: «Brüder». Aus dem Chinesischen von Ulrich Kautz. S. Fischer Verlag. Frankfurt am Main 2009. 770 Seiten. Fr. 42.90.
Li Er: «Der Granatapfelbaum, der Kirschen trägt». Aus dem Chinesischen von Theklar Chabbi. Deutscher Tachenbuch Verlag, München 2007. 378 Seiten. Fr. 25.90.