Soziale Verantwortung: Nur Brosamen gegen den Hunger
Der Mensch sei «kapitalistisch geboren» und müsse deshalb zum sozialen Denken erzogen werden, sagt Frei Betto. Angesichts von hundert Millionen mehr Hungernden seit letztem Jahr bezeichnet der brasilianische Befreiungstheologe die G8-Beschlüsse zur Bekämpfung des Hungers als zynisch.
WOZ: Frei Betto, Sie waren wegen Ihrer Opposition gegen die brasilianische Militärdiktatur von 1969 bis 1973 in Haft und sind seit über vierzig Jahren in sozialen Bewegungen und in der Politik aktiv. Was ist Ihre Bilanz?
Frei Betto: Zunächst einmal hat mein Engagement meinem Leben eine Richtung gegeben, besonders seit ich aus dem Gefängnis entlassen wurde. Ich bin auch glücklich, zu sehen, dass einiges, von dem ich geträumt habe, wie die Reduktion der Armut oder der Kampf gegen die Ungleichheit, heute durch die linksdemokratischen, zum Volk hin ausgerichteten Regierungen in Lateinamerika verwirklicht wird.
Dennoch kritisieren Sie genau diese Regierungen.
Ich habe mich schon immer als kritische Person verstanden, auch innerhalb der Kirche, der ich zugehöre. Und ich habe auch kein Problem damit, selbst Kritik entgegenzunehmen. Doch gerade in der Politik gibt es viele Personen und Institutionen, die gar nicht gerne kritisiert werden – und dadurch entstehen dann grosse Hürden für Veränderungen.
Haben Sie deshalb Ihre Tätigkeit als Berater von Präsident Luiz Inácio Lula da Silva und als Koordinator des Regierungsprogramms Null Hunger bereits nach zwei Jahren aufgegeben?
Lula hatte mich eingeladen, mit den Ärmsten der Armen, den Hungernden zu arbeiten. Das sind in Brasilien rund 11 Millionen Familien – 45 Millionen Menschen. Doch nach zwei Jahren gab es eine Veränderung im Programm. Ursprünglich handelte es sich dabei um emanzipatorische Programme, bei der die Menschen schon nach etwa einem Jahr in die Lage versetzt werden sollten, ihre eigenen Produkte und Lebensmittel herzustellen. Doch stattdessen hält die Regierung die Betroffenen in einer permanenten Abhängigkeit von Lebensmittellieferungen, weil das natürlich Wählerstimmen bringt. Deshalb habe ich meine Tätigkeit in der Regierung wieder aufgegeben.
Was sind denn die Gründe für diesen Widerstand gegen Verbesserungen – auch ausserhalb von Brasilien?
Ich stosse immer wieder auf Institutionen und Personen, die ihre bestehende Weltsicht beibehalten wollen. Ein Beispiel: Wenn der US-Politikwissenschafter Francis Fukuyama sagt, wir seien am Ende der Geschichte angelangt, wir seien in der Schlussphase der politischen Systementwicklung und nur die freie Marktwirtschaft werde weiterbestehen, dann ist das für mich stupid. Denn wenn Fukuyama recht hätte, würde der Kapitalismus von heute, die Vereinnahmung des Reichtums durch einige wenige, auch noch in 3000 Jahren bestehen. Es gäbe gemäss dieser These zwar eine technische und wissenschaftliche Evolution, aber keine Veränderung des Systems selbst. Und genau daran glaube ich nicht.
Trotzdem glauben viele, dass die freie Marktwirtschaft das einzig mögliche Gesellschaftssystem ist. Sie nicht, warum?
Zum einen haben mich meine Eltern revolutionär erzogen. Meine Ideologie basiert auf dem Modell einer nachkapitalistischen Gesellschaft. Ich nenne es Sozialismus. Daran richte ich mich aus. Ausserdem lebe ich als Mönch in einer mikrosozialistischen Gesellschaft, so nenne ich meine Gemeinschaft, die des Dominikanerordens. Und in unserer Gemeinschaft teilen wir unsere Güter und unsere Ideen. Diese Erfahrung übertrage ich dann auf die Perspektive, mit der ich die gesamte Gesellschaft betrachte.
Obwohl Sie bei Ihrer Arbeit oft mit viel Widerstand konfrontiert sind, scheinen Sie die Hoffnung nie aufzugeben.
Nein, im Gegenteil. Die Widerstände, denen ich im Alltag begegne, verstärken nur meine Position. Denn meine grösste Angst im Leben ist es nicht, meinen Glauben oder mein Leben zu verlieren, sondern die Hoffnungen der Armen zu verraten.
Wie meinen Sie das?
Für mich ist es klar, dass Armut und Ausbeutung nicht gottgewollte Zustände sind. Armut ist vielmehr die Folge menschlicher Ungerechtigkeit. Auf der ersten Seite der Bibel steht, dass uns Gott als Menschen geschaffen hat, die im Paradies leben sollen. Wenn aber das Paradies nicht existiert, so ist dies nicht ein Mangel des Schöpfers, sondern auf den Menschen zurückzuführen. Wir missbrauchen unsere Freiheit und machen Platz für Ungerechtigkeit. Es liegt an uns, dies zu verändern.
Dennoch scheint es heute mehr denn je an sozialem Denken und an Solidarität zu fehlen.
Dieses Denken für andere ist immer auch die Frucht eines kulturellen und eines erzieherischen Prozesses. Wir dürfen nicht vergessen, dass der Mensch quasi kapitalistisch zur Welt kommt, deshalb hat es der Kapitalismus auch so leicht, sich auszubreiten.
Kapitalistisch geboren?
Ich sehe das so, dass der Kapitalismus auf dem ersten Verhalten des Menschen basiert, und das ist egoistisch. Ein Säugling denkt zuerst an sich. Wenn er mitten in der Nacht Hunger hat, denkt er nicht an die Mutter, die aufstehen muss. Er denkt nur an seine Rechte und will seinen Hunger gestillt haben.
Und das sehen Sie als Ursache des Kapitalismus?
Ja. Ich glaube wie Karl Marx, dass wir uns noch immer in der Vorgeschichte des Menschseins befinden. Der Wunsch nach einer Menschheit, einer Gesellschaft, die auf Liebe aufbaut, ist ein sehr zukunftsgerichtetes Projekt. Aber die Spuren des Egoismus sind in uns allen noch sehr stark. So haben Aristoteles wie auch Thomas von Aquin gesagt, dass der Mensch in allem, was er tut, auch im Schlechten, stets nur sein eigenes Glück sucht. Die grosse Wende passiert erst dann, wenn es uns gelingt, in all unserem Handeln das Glück der anderen zu suchen.
Aber bevor ein Mensch die Gesellschaft verändern kann, müssen erst einmal seine Grundbedürfnisse gestillt sein, so wie bei einem Säugling, der Hunger hat.
Richtig. Aber das Problem liegt darin, dass das kapitalistische System keine echten Grundbedürfnisse stillt. Stattdessen schaffen Menschen im Kapitalismus immer neue Bedürfnisse und vergessen dabei, dass bis heute viele Menschen hungern und ums Überleben kämpfen.
Welche Bedürfnisse meinen Sie?
Wie viele Sachen gibt es auf der Welt, die ich nicht brauche, um glücklich zu sein? Auf dem Weg hierher hat mir jemand eine Nespresso-Kaffeemaschine gezeigt, und das braucht nun wirklich niemand. Aber in einer kapitalistischen, konsumorientierten Gesellschaft wird es zu einer Notwendigkeit zum Glücklichsein hochstilisiert.
Diese Bedürfnisse werden uns also von aussen aufgezwungen?
Ja, es wird uns aufgedrückt. Ich erwarte von einer Erziehung, dass sie dem Menschen beibringt, Mitgefühl für die Bedürfnisse der anderen zu haben, und nicht, dass er glaubt, eine solche Kaffeemaschine zu benötigen. Das bestehende System ent-erzieht uns. Nur so ist es möglich, dass für einen Menschen ein Kratzer an seinem neuen Auto schlimmer sein kann, als dass ein Mensch vor seiner Haustür an Hunger stirbt.
Vor einem Monat hat die Regierung in Guatemala den Hungernotstand erklärt. Und auch in anderen lateinamerikanischen Ländern braucht es noch immer für viele Menschen Nahrungsmittelhilfe. Hat die Weltwirtschaftskrise diese Tendenz verstärkt?
Absolut. Laut der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation der Uno gab es 2007 noch 850 Millionen chronisch hungernde Menschen. Im letzten September waren es plötzlich 950 Millionen. Pro Tag sterben noch immer 23 000 Menschen, meistens Kinder, an Hunger. Als Reaktion haben die Staatsoberhäupter der G8 bei ihrem letzten Treffen in Aquila beschlossen, fünfzehn Milliarden US-Dollar in einen Fonds zur Bekämpfung des chronischen Hungerproblems einzuzahlen. Das zeugt von einem furchtbaren Zynismus. Denn die gleichen Staatschefs haben vom vergangenen September bis zu diesem Juni hundertmal mehr eingesetzt, um das globale Finanzsystem zu retten. Betrachtet man die Finanzkrise, dann steht dahinter ein ethisches Problem. Die Staatschefs wollen das Finanzsystem retten und nicht die Menschheit.
Ist denn Hunger tatsächlich das grösste Problem unserer Zeit?
Ja. Es gibt vier Faktoren für verfrühtes Sterben auf der Welt: Krankheiten, Unfälle, Gewalt und Hunger. Doch die Summe der ersten drei Faktoren zusammen ist viel kleiner als die Summe des vierten Faktors: Hunger. Trotzdem mobilisieren die Menschen weltweit fast nur gegen Krankheiten wie Aids, gegen Terrorismus, gegen Unfälle im Verkehr oder bei der Arbeit. Weshalb aber machen wir nicht im gleichen Mass mobil gegen den Hunger, der die meisten Toten auf der Welt fordert?
Haben Sie eine Antwort darauf?
Ja, aber es ist eine zynische Antwort: Der Hunger bedroht nur die Ärmsten der Welt. Und wir gehören nicht dazu. Unsere Sensibilität richtet sich immer nur auf die Verteidigung unserer eigenen Bedürfnisse. Und weil wir von der biologischen Lotterie in eine Familie und eine soziale Schicht geboren wurden, die keinen Hunger leidet, bleibt das Denken so bestehen. Das Drama, der Skandal ist, dass uns das Bewusstsein fehlt, wir alle hätten genauso wahrscheinlich in Eritrea oder in einer brasilianischen Favela auf die Welt kommen können. Diese biologische Lotterie ist eine riesige Ungerechtigkeit, denn das Privileg der Geburt sollte kein Privileg sein, sondern eine soziale Verantwortung den anderen gegenüber.
Wie kann man das jenen vermitteln, denen ein Bewusstsein für die Ungerechtigkeit fehlt?
Langfristig werden uns die Opfer der Ungerechtigkeiten und des Hungers zwingen, unser Denken zu verändern. So macht die Umweltzerstörung ja nicht halt vor Klassenunterschieden, und sie zwingt alle Länder dazu, ihre Haltung zu hinterfragen. Es ist auf Dauer nicht möglich, nur an Profit zu denken und dabei gleichzeitig die Umwelt und die Natur zu schützen. Es wird keine andere Möglichkeit geben, als dass die Regierungen in Zukunft viele Firmen dazu zwingen, kleinere Gewinnmargen anzustreben und die Natur zu respektieren. Ein anderes Beispiel ist die weltweite Migration. Es gibt keine Mauern, keine Gesetze, keine Polizei, die verhindern können, dass die Armen dieser Welt in Richtung der reichen Länder migrieren.
Was muss sich also verändern?
Die Reichen müssen sich selbst davon überzeugen, dass sie auf einer isolierten Insel des Überflusses nicht glücklich werden können. Und wir müssen die Menschenrechte in einer globalen Perspektive betrachten. Es geht nicht, dass die Europäer glauben, sie hätten ein Recht auf ihren Wohlstand. Auch deshalb nicht, weil dieser Wohlstand mit dem Elend der Länder im Süden bezahlt worden ist. Das war so zur Zeit des Kolonialismus, und das ist heute so durch die Ausbeutung der natürlichen Ressourcen durch transnationale Konzerne.
Wie viel Hoffnung haben Sie eigentlich für die Zukunft?
Ich bin zwar eine von Hoffnung durchdrungene Person, aber ich bin nicht naiv. Ich bin überzeugt, dass die Menschheit in verschiedenen Bereichen wie zum Beispiel im Umweltschutz schnell Verbesserungen zustande bringen wird. Gleichzeitig bin ich tief besorgt, wenn ich sehe, in welchem Ausmass beispielsweise die Produktion des Agrotreibstoffes voranschreitet, den ich angesichts des Hungers in der Welt Todessprit nenne. Und noch schlimmer sind für mich die Widersprüche und der Zynismus der G20 oder der G8, die nur Brosamen für die Lösung des Hungerproblems übrig haben.
Was ist Hunger?
Wer weniger zu essen hat, als er täglich braucht, um sein Körpergewicht zu halten und eine leichte Arbeit zu verrichten, hat Hunger. Gemäss der Uno-Organisation für Ernährung und Landwirtschaft beträgt die benötigte Nahrungsmenge je nach Alter, Geschlecht, Beruf oder Wohngegend rund 1900 Kalorien pro Tag. Bei weniger als 1400 Kalorien pro Tag spricht man von extremer Unterernährung und chronischem Hunger.
Ein Mensch, der hungert, verliert seine Initiative und seine Konzentrationsfähigkeit. Unterernährung bedroht die Gesundheit und macht anfällig für alle möglichen Krankheiten. Sie verursacht Wachstumsstörungen, Durchfallerkrankungen, Blutarmut, Organschäden und schwächt das Immunsystem. Gerade bei Kindern, die an Hunger leiden, sind die Schädigungen oft bleibend, ihre geistige und körperliche Entwicklung ist unumkehrbar beeinträchtigt.
Quelle: www.caritas.ch/weltweitFrei Betto
Frei Betto (Bruder Betto), eigentlich Carlos Alberto Libânio Christo, gehört zu Lateinamerikas wichtigsten Befreiungstheologen und politischen Aktivisten. Der 1944 im brasilianischen Belo Horizonte geborene Frei Betto studierte Journalismus und trat im Alter von zwanzig Jahren dem Dominikanerorden bei. Während der brasilianischen Militärdiktatur war er vier Jahre in Haft. Danach lebte und arbeitete er in verschiedenen Armenvierteln. 2003/04 war er zudem Berater des brasilianischen Präsidenten Luiz Inácio Lula da Silva. Er hat über fünfzig Bücher publiziert, darunter «La mosca azul», in dem er sich mit der Ausübung von Macht auseinandersetzt. Frei Betto arbeitet mit der Schweizer Hilfsorganisation E-Changer zusammen.
www.e-changer.ch