Weltsozialforum: Kuscheln statt streiten
Bereits zum neunten Mal treffen sich derzeit im brasilianischen Belém Menschen aus aller Welt, um eine gerechtere und ökologische Zukunft zu diskutieren. Doch kontroverse Debatten sind Mangelware.
«Hey Joe» von Jimi Hendrix erklingt am Eingang der brasilianischen Universität von Amazonien. Zu Hunderten strömen Rucksackreisende über den weitläufigen Campus in Richtung Jugendzeltlager. Eine Gruppe aus der brasilianischen Hafenstadt Fortaleza hat eine 29-stündige Busreise hinter sich. Die Studentin Tainara Santos, die sich dort in einer Umweltgruppe engagiert, freut sich auf die Workshops zum Thema Ökologie und Indígenas: «Ein fantastisches Angebot», meint sie zum 140-seitigen Programm. Ein junger Mann, der sich Plebeyo nennt, ist zwanzig Tage lang aus dem Bundesstaat Bahia hergeradelt. «Das Fahrrad ist das Fahrzeug der Zukunft», sagt er ins Mikrofon eines lokalen Fernsehteams und zeigt stolz auf sein Gefährt, das er an einen Baum gekettet hat. Wenig später fällt der tägliche tropische Regen auf das Gelände nieder.
Doch bereits vor Eröffnung des neunten Weltsozialforums (WSF) in Belém ist zu spüren: In der Millionenstadt am Amazonasdelta weht ein anderer Wind als im südbrasilianischen Porto Alegre, wo das Grosstreffen der GlobalisierungskritikerInnen 2001 bis 2003 und 2005 stattfand. Belém ist keine moderne Metropole, sondern das Einfallstor nach Amazonien, jenem Gebiet, dessen Ausbeutung durch brasilianische und ausländische Konzerne unverändert koloniale Züge trägt.
Die beiden zentralen Tagungsorte - die Universität von Amazonien und die Bundesuniversität von Pará - sind von den Armenvierteln Terra Firme und Guamá umgeben, in denen wegen des boomenden Drogenhandels besonders viele Gewaltverbrechen begangen werden. Die linke Gouverneurin hat für die Zeit des Forums das Polizeiaufgebot vervielfacht, sogar Sondereinheiten aus Brasília sind hergebracht worden. Viele Einheimische sind erleichtert und verärgert zugleich, denn sie kommen sich als BürgerInnen zweiter Klasse vor: Nächste Woche, nach der Abreise der erwarteten über 100 000 BesucherInnen, werden sie erneut der grassierenden Unsicherheit ausgeliefert sein.
Urwald weicht Sojaplantagen
Die Blütezeit Beléms, von der einzelne renovierte Fin-de-Siècle-Prachtbauten in der Innenstadt zeugen, ist schon lange vorbei: Nach dem Kautschukboom zwischen 1870 und 1914 ging es bergab. Anders als die ewige Konkurrenzstadt Manaus konnte Belém nicht mit Steuererleichterungen ganze Industriezweige an sich ziehen. Vom Bundesstaat Pará aus werden über transnationale Konzerne, allen voran den 1997 privatisierten brasilianischen Bergbauriesen Vale, die westlichen Industrieländer sowie China und Japan mit Mineralerzen und Aluminium versorgt. Doch selbst der Rohstoffboom der letzten Jahre hat kaum etwas an der Armut der hiesigen EinwohnerInnen geändert. Und nirgendwo in Brasilien wird der Urwald schneller vernichtet - die Sojaplantagen fressen sich immer weiter gegen Norden.
Ana Júlia Carepa, die Gouverneurin von Parà, gehört dem Partido dos Trabalhadores (Arbeiterpartei, PT) von Brasiliens Präsident Luiz Inácio Lula da Silva an - eine Voraussetzung für die geglückte Bewerbung von Belém im internationalen WSF-Rat. Zwar hat die Regierung von Pará nicht die von den sozialen Bewegungen geforderte ökosoziale Wende vollbracht. Doch dank Millioneninvestitionen des PT in Sicherheit und Infrastruktur sowie dank der traditionellen Nähe von PT und sozialen Bewegungen ist ein Abhängigkeitsverhältnis entstanden.
«Die Bewegungen sind in der Krise, weil sie sich zum Teil von den PT-Regierungen kooptieren, kaufen und schlucken lassen», sagt Graça Costa vom WSF-Vorbereitungskomitee in Belém. Costa hofft, dass die weit verstreuten Gruppen aus Amazonien das Forum wenigstens dazu nutzen können, um sich auf anhaltende politische Aktionen zu verständigen.
Vom guten Leben reden
Erklärtes Ziel des diesjährigen WSF ist es, die Sozial- und Umweltproblematik der neun an den Amazonas grenzenden Staaten in den Brennpunkt zu rücken. 1500 Mitglieder afrobrasilianischer Gemeinschaften, der Quilobolas, werden erwartet, zudem 3000 UreinwohnerInnen aus dem Amazonasbecken und dem Andenraum - weit mehr als bei den vorangehenden Foren in Porto Alegre.
Der Mittwoch wurde zum Pan-Amazonientag erklärt: «Wir werden darüber hinaus über die Vorstellung vom guten Leben reden, die die Andenindígenas entwickelt haben», sagt Francisco Whitaker, einer der WSF-Gründer. «In dieser Weltsicht ist Sein wichtiger als Haben, Anhäufen und Konsumieren.»
Einen Vorgeschmack lieferte das «Forum über Theologie und Befreiung», das am Sonntag zu Ende ging. Stargast war der 70-jährige Befreiungstheologe Leonardo Boff, der klarsichtig die Krise Amazoniens und der Welt analysierte. «Das Forum muss Druck auf die brasilianische Regierung ausüben, damit sie eine klare Amazonienpolitik entwickelt», sagte er. Bislang gebe es nur punktuelle Massnahmen gegen die Waldzerstörung, aber keinen kohärenten Plan, kritisiert er: «Wir brauchen keinen Plan zur Beschleunigung des Wachstums, sondern zur Integration und zum Erhalt Amazoniens.» Doch bei seinem gemeinsamen Auftritt mit der früheren Umweltministerin Marina Silva zeigte sich eine Schwäche, die typisch ist für die politische Kultur der lateinamerikanischen Linken: Kontroverse Debatten sind Mangelware, Kuscheln ist schöner als streiten.
Hugo Chávez und Co.
Der junge mutige Staatsanwalt Felício Pontes, der keinem Konflikt mit den Mafiosi von Pará aus dem Weg geht, schilderte in seiner Rede das vorherrschende Raubbaumodell. Anhand zweier Karten wies er darauf hin, dass gerade im sogenannten Entwaldungsbogen im Osten und Süden des brasilianischen Amazonasgebietes die Menschenrechte am meisten verletzt werden: Im Südwesten und Süden Parás gibt es die meisten modernen Sklaven und die meisten Morde an LandarbeiterInnen.
Doch statt einer lebendigen Debatte folgten langatmige Grundsatzreferate von Silva und Boff. Silvas selbstgefälliges Resümee ihrer fünfjährigen Amtszeit blieb unwidersprochen. Die konkreten Schwierigkeiten, Wege abseits des Wachstumswahns zu gehen, wurden nicht thematisiert. Stattdessen gab es linkes Liedgut und freundlichen Applaus für Allgemeinplätze.
Interessanter Erfahrungsaustausch in überschaubaren Workshops einerseits, folgenlose Jubelveranstaltungen mit Stars andererseits: Damit lieferte das Theologieforum einen zwiespältigen Vorgeschmack auf das WSF, das am Dienstag mit einer bunten Massenkundgebung begann. Der Höhepunkt am Jubelanlass soll am Donnerstag ein gemeinsamer Auftritt der fünf linken Präsidenten Lula da Silva (Brasilien), Evo Morales (Bolivien), Hugo Chávez (Venezuela), Rafael Correa (Ecuador) und Fernando Lugo (Paraguay) sein - was an der Basis gemischte Gefühle auslöst.
Dass die Staatschefs ihren Auftritt in Belém zum Anlass nehmen, eine umweltfreundliche, womöglich koordinierte Amazonaspolitik in Angriff zu nehmen, bezweifelt der Journalist Lúcio Flávio Pinto: «Im Grunde ist das Weltsozialforum ein Kampf der Eliten, der Ideologien», ist er überzeugt. «Meine letzte Hoffnung ist die Gesellschaft.» Denkbar wäre ein grosses Programm, in dem WissenschaftlerInnen vor Ort ausgebildet würden. «Sonst verspielen wir die erste und letzte Chance, im Gegensatz zur vorherrschenden Agrarzivilisation eine Waldzivilisation zu entwickeln.»
Die Finanzmarktkrise
Pinto, der prominenteste unabhängige Autor aus Belém, rechnet mit Lulas Amazonienpolitik ab: «Unsere Linke glaubt immer noch, zuerst müsse hier die kapitalistische Revolution stattfinden.» Nach seiner Wahl 2002 habe Lula erklärt, er bewundere die Amazonaspolitik des Militärregimes, das 1985 zu Ende ging - entsprechend sei Lulas Wachstumsprogramm die Fortsetzung der Politik des Militärregimes. «Diese Linke mag guten Willens sein, aber sie ist autoritär, messianisch, sie hat einen kolonialen Blick.» Pinto wirft Lula und dessen Wunschkandidatin für die Nachfolge, der Präsidialamtsministerin Dilma Rousseff, vor, sie hätten eine «leninistische Vision von oben»: «Indígenas oder der Wald, das interessiert sie nicht.» Das Amazonasgebiet sei im Denken Brasiliens ein Fremdkörper geblieben.
Thema Nummer eins dürfte auch in Belém die Finanzmarktkrise sein, die sich in Brasilien bereits in einem deutlichen Abschwung und in einer gestiegenen Arbeitslosigkeit zeigt. Am Montag versuchten Attac-AktivistInnen aus Europa und Lateinamerika eine Schneise in die unübersichtliche Fülle von Veranstaltungen zu schlagen und eine möglichst breite Mobilisierung für den globalen Aktionstag, der am 28. März in Paris stattfinden wird, einzufädeln - wenige Tage später werden sich die Staatschefs der G-20 zu einem Krisengipfel in London treffen.
In Belém fühlt man sich zwar von der Krise bestätigt. «Doch es ist paradox, mit der Verstaatlichung der Banken erscheint die Gegenseite plötzlich als radikal», sagt der linke Ökonom Elmar Altvater. Mit dem Pariser Aktionstag und zwei, drei griffigen Forderungen will Attac wieder in die Offensive kommen.
Aus dem gleichen Grund sind auch diesmal wieder Forderungen zu hören, das Forum solle eine offizielle Stellungnahme verabschieden. «In den letzten Jahren hat man sich auf die Organisation der Treffen beschränkt, ohne Vorschläge zur neoliberalen Krise oder zu den imperialen Kriegen vorzubringen», moniert der Soziologe Emir Sader, Mitglied des Internationalen WSF-Rates - und seit je ein Befürworter eines engeren Schulterschlusses mit Chávez, Lula und Co.
Der WOZ-Blog aus Belém
«Es dürfte auch in diesem Jahr nicht einfach sein, einen Bogen zu schlagen zwischen den Megathemen wie Finanzkrise und den aktuellen Sorgen der Menschen vor Ort. Ein Besuch in Rio Bonito, einer kleinen Landarbeitersiedlung 500 Kilometer südlich von Belém, hat uns zudem gezeigt, dass vermeintlich einfache Sachen oft etwas komplexer sind. Rio Bonito, aus einer Landbesetzung entstanden, setzt auf eine ökologisch vielseitige Landwirtschaft. Einige KleinbäuerInnen pflanzen nebst Nahrungsmitteln auch Zuckerrohr an und verkaufen es zu einem festen Preis an die Firma Pagrisa, eine Familienfirma mittlerer Grösse, die Ethanol (2008: dreissig Millionen Liter) und Kristallzucker (fünf Millionen Kilogramm) produziert.»
Pepo Hofstetter, Alliance Sud
«Dass die Zeit reif ist für neue Ideen, spürt man in Belém an jeder Strassenecke. Die Bewegung der Altermondialistes müsse in der aktuellen Situation aber davon abkommen, sich vor allem auf den Widerstand zu konzentrieren, meint Antonio Martin, einer der Mitbegründer des WSF und Herausgeber der Online-Ausgabe des brasilianischen ‹Le Monde diplomatique›. Statt Nein zu sagen, müsse man ‹die Jas› propagieren. Martin schlägt vor, sich am ‹Konzept der Rechte› zu orientieren: Man müsse davon wegkommen, Armut mit Bedürftigkeit zu verwechseln.»
Rahel Fischer, Amnesty International