Afghanistan: Das grosse demokratische Schauturnen

Nr. 45 –

Die Seifenoper um den zweiten Wahlgang raubt der Demokratie in Afghanistan jegliche Chance auf eine Legitimation – jetzt droht dem Land das Chaos.


Die Art und Weise, wie sich das Projekt «Demokratie» in Afghanistan zugrunde richtete und alle Beteiligten blossstellte, hätte folgenschwerer nicht sein können: Die dreisten Wahlfälschungen im ersten Wahlgang rückten nicht nur Präsident Hamid Karzai in ein dubioses Licht, sondern auch die Uno, die bei den offensichtlichen Wahlfälschungen allzu lange beide Augen fest zudrückte (siehe WOZ Nr. 41/09). Dass die Zustimmung Karzais zu einer Stichwahl von den USA und der Uno erzwungen werden musste, offenbarte zudem die Willkür, mit der in Afghanistan Politik betrieben wird. Und der Rückzug Abdullah Abdullahs aus der Stichwahl sowie die daraus resultierende Absage des zweiten Wahlgangs vervollständigen nun das Debakel. Von diesem Legitimationsverlust der Demokratie profitieren die Taliban, während sich die internationale Gemeinschaft verstärkt fragen muss, ob sie ihr Engagement in Afghanistan noch rechtfertigen kann.

Naive DiplomatInnen

Die Wahl vom 20. August sollte der Welt signalisieren, dass die Demokratie im Land inzwischen zur Normalität gehört – allen Angriffen der Taliban zum Trotz. Doch die Unregelmässigkeiten und dreisten Fälschungen, die seitdem bekannt geworden sind, verdeutlichen die Naivität, mit der internationale DiplomatInnen glaubten, in Afghanistan demokratische Strukturen allein mit Wahlen einführen zu können. Der Fall Afghanistan zeigt, dass Wahlen und Demokratie nicht unbedingt das Gleiche sind. So kam es bei der Wahlkampagne von Hamid Karzai genauso wie bei jenen seiner Herausforderer zu Korruption, Einschüchterungen und Stimmenkauf. Gerade Karzai hatte sich durch die Vergabe von Posten in den letzten Jahren über ethnische und religiöse Grenzen hinaus ein klientelistisches und von ihm abhängiges Netz geschaffen. Auch zeigte er kaum Vorbehalte, sich mit berüchtigten Kriegsfürsten wie Rashid Dostum oder Mohammad Fahim einzulassen. Dies alles sorgte dafür, dass am Wahltag in vielen Regionen kaum Menschen den Weg zur Wahlkabine fanden, die Wahlurnen aber dennoch gefüllt waren: So wurden massenhaft Karten zur Wahlregistrierung aufgekauft und vielerorts ganze Wahlurnen bereits vor der Wahl gefüllt.

Doppelzüngige Uno

Es wäre jedoch verfehlt, den AfghanInnen per se ein demokratisches Verständnis abzusprechen. Vielmehr fragt es sich, welchen Sinn Wahlen ergeben, solange nicht gewährleistet ist, dass diese frei und fair sind. Unter den gegebenen Umständen verlor die Wahl ihre Legitimation. So hielt sich gerade die bürgerliche Elite, der eine starke demokratische Grundhaltung zugesprochen wird, von der Wahl fern, weil sie deren Fairness bezweifelte. Die Art und Weise, wie die Medien die Präsidentschaftswahl skandalisierten, lässt zudem vergessen, dass bereits die Präsidentschaftswahl 2004 sowie die Parlamentswahlen 2005 von massiven Betrugsvorfällen überschattet waren. Als Folge sank die Wahlbeteiligung von Mal zu Mal. Bereits bevor Abdullah Abdullah seinen Verzicht auf eine Kandidatur bei einer Stichwahl ankündigte, wurde prognostiziert, dass nicht einmal dreissig Prozent der Wahlberechtigten daran teilnehmen würden. Damit können Wahlen kaum noch als Prinzip der Herrschaftslegitimation herhalten.

Aber auch die internationale Gemeinschaft trug zum Debakel in Afghanistan bei. So drängten vor allem die USA und die Uno stets auf die Wahlen, wollten aber gleichzeitig bereits im Vorfeld erkennbare Unregelmässigkeiten nicht wahrhaben: So fanden sich ausserhalb der grossen Städte kaum WahlbeobachterInnen; die Uno erliess die Weisung, nur bei allzu offensichtlichen Wahlfälschungen einzugreifen. Doch vor allem der Rücktritt von Peter Galbraith, dem stellvertretenden Uno-Sondergesandten, am 30. September und dessen Vorwürfe gegen seinen Vorgesetzten Kai Eide führten diese Doppelzüngigkeit der Uno-Politik einer breiten Öffentlichkeit ins Bewusstsein.

Abdullah, der Saubermann?

Auch die Seifenoper um den zweiten Wahlgang lässt die internationale Afghanistanpolitik in einem zweifelhaften Licht erscheinen. So symbolisierte der gemeinsame Auftritt von US-Senator John Kerry, Kai Eide und Hamid Karzai am 21. Oktober, dass Afghanistan eher einem Protektorat als einem unabhängigen Staat gleicht. Die Selbstverständlichkeit, mit der hier Vertreter der US-Regierung und der Uno Hamid Karzai flankierten, verdeutlicht die Heuchelei, mit der internationale VertreterInnen immer wieder «Afghan ownership» – also afghanische Eigenverantwortung – predigen, aber gleichzeitig nicht davor zurückschrecken, ihren Einfluss auf die afghanische Politik öffentlich zu demonstrieren. Dass internationale Staatsoberhäupter wie Angela Merkel und Nicolas Sarkozy nach Karzais Zustimmung zu einer Stichwahl dessen staatsmännische Haltung würdigten, kann nur als bizarr bezeichnet werden. Und dass die US-Regierung zuvor sogar einen möglichen Truppenabzug in die Waagschale warf, um den zweiten Wahlgang zu erzwingen, wirft ein weiteres Mal die Frage auf, wozu Afghanistan mehr Demokratie braucht, wenn in entscheidenden Fragen doch nur die USA und ihre Verbündeten bestimmen.

Der zweite Wahlakt war eine Farce, deren Absage nur als konsequent bezeichnet werden kann. Denn auch Abdullah Abdullah spielte hier ein taktisches Spiel, da er nur zu gut wusste, dass er in der Stichwahl keine Chance gegen Karzai gehabt hätte. So forderte er von Präsident Karzai die Entlassung dreier Minister sowie des Leiters der Wahlkommission, der sich im gesamten Wahlprozess immer wieder zugunsten von Karzai geäussert hatte. Karzai lehnte diese Forderungen aus einer Position der Stärke heraus ab und zeigte sich auch nicht gewillt, Abdullah in seine nächste Regierung einzubinden. Mit dem Rückzug seiner Kandidatur präsentiert sich Abdullah Abdullah nun als Saubermann; hierüber wird leicht vergessen, dass auch ihm Wahlfälschungen zur Last gelegt werden.

Korrupte Marionette

Der Rückzug Abdullahs bereitet nun auch der internationalen Gemeinschaft Kopfzerbrechen. Das lässt sich daran ablesen, dass Uno-Generalsekretär Ban Ki Moon einen Tag später zu Gesprächen nach Kabul flog. Zuvor betrachtete die Uno den zweiten Wahlgang allenfalls als einen Pro-forma-Akt, mit dem zumindest die demokratische Fassade gewahrt werden könnte. Jetzt steht die gesamte politische Ordnung des Landes auf dem Spiel. Das ist die Tragik der Präsidentschaftswahl 2009: Sie sollte symbolisieren, dass sich das Land aus dem Würgegriff des seit dreissig Jahren dauernden Bürgerkriegs befreit hatte. Doch stattdessen verlor die Regierung ihre Legitimation. Die internationale Gemeinschaft, allen voran die Uno, wurde blossgestellt. Hamid Karzais Legitimation beruht auf einer zweifelhaften Klientelwirtschaft und auf gefälschten Wahlen. Die Bevölkerung sieht ihn seit Jahren bloss als Marionette der US-Regierung. Auf der internationalen Bühne gilt er als korrupt und unzuverlässig.

Vergangene Woche enthüllte die «New York Times» nun auch noch die Verbindungen zwischen dem US-Geheimdienst CIA und dem Präsidentenbruder Wali Karzai, der als einer der wichtigsten Drogenbarone und Kriegsfürsten Südafghanistans gilt. Das Verhältnis zwischen Karzai und US-Präsident Barack Obama wird als frostig wahrgenommen. Zudem deutete Karzai bereits an, sich verstärkt Indien, Iran und Russland zuzuwenden, um seine Abhängigkeit von der westlichen Welt zu verringern. Dies bedeutet aber auch, dass die Nato Gefahr läuft, in Afghanistan einen militärischen Einsatz zu führen, dem die afghanische Regierung die Unterstützung verweigert. Zudem wird es dadurch noch schwieriger, den Militäreinsatz in Afghanistan zu legitimieren – auch wenn schon heute kaum jemand daran glaubt, der internationalen Gemeinschaft gehe es in Afghanistan ernsthaft um den Aufbau demokratischer Strukturen. Vor diesem Hintergrund dürfte sich Obama noch schwerer tun, die Truppen in Afghanistan aufzustocken.

Die Dritten lachen

Gewinner dieses Wahltheaters sind letztlich einmal mehr die Taliban. Es offenbarte, dass die Demokratie nach westlichem Muster, die die internationale Gemeinschaft als Gegenkonzept zum radikalen Islam der Taliban anbietet, nicht funktioniert. Auch ohne die Anschläge der Taliban in Kabul und Peschawar von vergangener Woche, bei denen fast hundert Menschen getötet wurden, droht Afghanistan nun endgültig das politische Chaos. Die Hilflosigkeit der internationalen Gemeinschaft und das Taktieren von Karzai und Abdullah reichten vollends aus, das Projekt «Demokratie in Afghanistan» gegen die Wand zu fahren.


Conrad Schetter ist wissenschaftlicher Mitarbeiter am Zentrum für Entwicklungsforschung der Universität Bonn. Sein Forschungsschwerpunkt ist Afghanistan.

Der starke Karzai

Nach dem Sturz der Taliban im Herbst 2001 trafen sich verschiedene politische Gruppierungen aus Afghanistan unter der Schirmherrschaft der Uno in Bonn, um eine neue Regierung zu bestimmen und den politischen Wiederaufbau zu planen. Durch den Druck der Uno und den USA kam eine Übergangsregierung mit Hamid Karzai als Interimspräsident zustande. Im Dezember 2003 trafen sich mehrere hundert afghanische Delegierte in Kabul zu einer verfassungsgebenden Versammlung (Loja Dschirga), an der sie ein Präsidialsystem mit einer starken Stellung des Staatsoberhaupts in der Verfassung festschrieben und Karzai als Interimspräsidenten bestätigten. Aus der ersten demokratischen Präsidentschaftswahl im Sommer 2004 ging Karzai als Sieger hervor. Im September 2005 fanden die ersten Parlamentswahlen statt, die den in Bonn begonnenen Demokratisierungsprozess abschliessen sollten.