Die afghanische Übergangsregierung: Taugt sie bloss als Stadtverwaltung Kabuls?

Der Ausgang der Konferenz auf dem Petersberg überraschte sogar wohl gesonnene BeobachterInnen. Dass nach neun Tagen Verhandlung nicht nur ein von der Uno entworfener «Fahrplan in den Frieden», sondern auch noch eine Übergangsregierung präsentiert wurde, übertraf alle Erwartungen. Galt doch immer das Sprichwort, dass es 15 Millionen EinwohnerInnen und 30 Millionen Parteien in Afghanistan gibt. Trotz aller Euphorie: Die tatsächlichen Machtverhältnisse in Afghanistan sind für die Zukunft des Landes entscheidender als das Blatt Papier, auf dem die Übergangsregierung geschrieben steht. Diese Regierung hat nur dann eine Chance, wenn sie von einer Schutztruppe mit robustem Uno-Mandat unterstützt wird.

Die Übergangsregierung kam nur unter enormem Druck auf die Konferenzteilnehmer durch Diplomaten der Uno und beobachtender Staaten, vor allem der USA, zustande. Deshalb handelt es sich eher um einen ad hoc benannten «Zwangsverbund» als um eine Regierung, die auf Vertrauen aufbaut. Dabei scheiterten alle politischen Abkommen über Afghanistan in den letzten zwanzig Jahren gerade am fehlenden Vertrauen.

Die Uno und die USA setzten Hamid Karsai als designiertes Staatsoberhaupt gegen den Willen der afghanischen Konferenzteilnehmer durch. Selbst die Rom-Gruppe, der Karsai nominell angehört, favorisierte ihn nicht. Die USA drängten auf Karsai, da er als US-freundlich gilt und im Unterschied zu den anderen Kandidaten über eine gewisse Machtbasis im Land verfügt. Besonders unter den zerstrittenen Paschtunen geniesst Karsai eine erstaunlich breite Akzeptanz. Doch die Machtkämpfe in Kandahar nach dem Abzug der Taliban am vergangenen Freitag zeigten, dass Karsai noch Schwierigkeiten hat, die Machtverhältnisse im Land richtig einzuschätzen. So unterstützte er anfangs Mullah Nakibullah, einen Paschtunen aus dem Stamm der Alikosai, und unterschätzte dessen Rivalen Gul Agha Schirsai vom mächtigen Paschtunen-Stamm der Baraksai. Karsai muss daher zunächst in Südafghanistan alle Kräfte unter seiner Führung bündeln, um in Kabul einen Machtanspruch geltend machen zu können. Denn in Kabul, gerade in der Übergangsregierung, überwiegt die Zahl seiner Gegner.

Karsais wichtigste Gegenspieler in der Übergangsregierung dürften die Minister Yunus Kanuni (der Verhandlungsführer der Nordallianz), Abdullah Abdullah und Mohammed Kassim Fahim sein, die für die Schlüsselämter Inneres, Äusseres und Verteidigung vorgesehen sind. Die drei stammen aus dem persönlichen Umfeld des ermordeten Ahmad Schah Massud und kommen allesamt aus dem Pandschirtal. Diese enorme Machtkonzentration in den Händen einer eingespielten Clique schürt unweigerlich den Argwohn vieler AfghanInnen und dürfte über kurz oder lang zu einer Polarisierung innerhalb der Regierung führen.

Die Übergangsregierung widerspiegelt die Machtverhältnisse in Afghanistan nur unzureichend. So finden sich auf der Liste der designierten MinisterInnen kaum Namen der Kriegsfürsten, die in den vergangenen zwanzig Jahren die Geschicke des Landes lenkten. Es fehlt etwa Burhanuddin Rabbani, bis zum 22. Dezember noch amtierender Präsident Afghanistans, der, wohl unter dem Druck der USA, die Petersberger Beschlüsse anerkannte. Doch Rabbani überstand in den letzten dreissig Jahren alle politischen Ränkespiele unversehrt, und sein Drang zur Macht ist enorm. Überdies ist Rabbani mit einem alten Weggefährten, Rasul Sayyaf, verbunden, mit dem er eine ähnlich fundamentalistische Islamauffassung teilt. Sayyaf verfügt über gut ausgerüstete Milizen bei Kabul, in deren Reihen sich auch von den Taliban übergelaufene Araber befinden sollen.

Der Usbeke Raschid Dostum, der den Norden des Landes kontrolliert, tat gleich nach Bekanntwerden der Kabinettsliste kund, dass er die Übergangsregierung ablehne, da die Usbeken nur mit unwichtigen Ministerien abgespeist worden seien. Auch Ismail Chan, der Westafghanistan kontrolliert, sowie Karim Chalili, der Zentralafghanistan beherrscht, gingen auf Distanz zur Übergangsregierung. Beide kündigten zwar an, die Regierung nicht zu bekämpfen, zeigten sich aber über die Zusammensetzung des Übergangskabinetts enttäuscht. Die Regierung wird es schwer haben, ausserhalb Kabuls Fuss zu fassen.

Die Uno stellte in ihrer Strategie unvorsichtigerweise die ethnische Zugehörigkeit ins Zentrum: Die Übergangsregierung sollte die ethnischen Verhältnisse im Land möglichst proportional widerspiegeln. Auf der abschliessenden Pressekonferenz hatte Lachdar Brahimi, der Uno-Sondergesandte für Afghanistan, noch verkündet, dass sich die Regierung aus 11 Paschtunen, 8 Tadschiken, 5 Hazara, 3 Usbeken und 3 anderen zusammensetzen werde. Doch die endgültige Kabinettsliste umfasst 6 Paschtunen, 12 Tadschiken, 4 Hazara, 3 Usbeken und 4 andere. Dass unter Paschtunen die Vorbehalte gegen diese Regierung, in der sie sich nicht proportional repräsentiert sehen, enorm anstiegen, muss sich daher die Uno selbst zuschreiben.

Wenn es der Regierung Karsais gelingt, die von der Uno vorgesehenen Etappen umzusetzen, gibt es eine Chance auf einen andauernden Frieden in Afghanistan. Wird sie dagegen keinen Fuss auf den Boden bekommen oder sich in internen Grabenkämpfen aufreiben, droht das Land wieder in Krieg und Chaos zu versinken. Daher ist ein Uno-Mandat nicht nur für Kabul, sondern für das gesamte Land unbedingt erforderlich. Afghanistan muss demilitarisiert werden, um der Regierung das Gewaltmonopol zu sichern. Eine grosse Gefahr ist, dass die Übergangsregierung von Afghanen aus dem Norden des Landes und aus dem Exil dominiert wird: Mindestens vier vorgesehene Minister haben einen westlichen Pass. So schnell als möglich müssen neben Hamid Karsai weitere Führungspersönlichkeiten aus dem paschtunischen Süden in die Machtausübung eingebunden werden. Geschieht dies nicht, wird eine Teilung Afghanistans in eine nördliche und eine südliche Hälfte eine immer wahrscheinlichere Option – ein Szenario, das freilich niemand in Afghanistan haben will.