Kommunikation und Macht: Schreiben, was ist

Nr. 48 –

Sprache ist immer politisch. Das wissen die Marktradikalen – anders als viele JournalistInnen, die deren Begriffe oft unbedacht übernehmen. Aber glauben die Menschen, was in der Zeitung steht?


Steuererleichterungen. Dieses Wort ist in deutschsprachigen Medien ständig zu lesen und zu hören. Was sind Steuern also? Sie sind eine Last. Und es gilt die Regel: Je niedriger die Steuern, desto befreiter sind die BürgerInnen. Von hier aus ist der Weg zur «Freiheit» und zum Begriff Steuerbefreiung nicht weit. Wir verwenden diese Worte selbstverständlich und denken darüber gar nicht mehr nach. Genau darin spiegelt sich mindestens der halbe Sieg der GegnerInnen von Staat und Sozialstaat: Steuern werden in der Alltagssprache negativ gedeutet, man will sie abschütteln und loswerden. Dabei könnte man ja auch neutral von niedrigeren und höheren Steuern sprechen – oder sie in einen positiven Deutungsrahmen setzen. Denn mit höheren Steuereinnahmen wäre der Staat, also wir alle zusammen, in der Lage, bessere Schulen, Spitäler, Verkehrssystem oder Bibliotheken zu bauen.

Noch ein Beispiel: Der Begriff «Zeitenwende». Ein paar Monate lang haben Gewerkschafterinnen und linke Politiker von einer Zeitenwende im politisch-ökonomischen Bereich gesprochen. War und ist die aktuelle Finanzmarkt- und Wirtschaftskrise nur ein Versagen im Detail – oder geht es um mehr? Der Begriff «Zeitenwende» hätte hier Signalwirkung gehabt: Wäre er in den Alltagswortschatz eingedrungen, dann hätten diejenigen die Deutungshoheit über die Finanzmarktkrise gewonnen, die sagen, hier geht es um ein Systemversagen. Mittlerweile ist dieser Begriff jedoch aus den Massenmedien, also der veröffentlichten Meinung, verschwunden. Ein kleiner Sieg der Marktradikalen. Deren grösster Erfolg liegt schon einige Zeit zurück, wirkt aber immer noch: Viel Markt plus wenig Steuern gleich Freiheit; viel Staat und hohe Steuern gleich Unfreiheit. Eine einfache Rechnung, eine falsche Rechnung, und doch immer noch erfolgreich.

Wer sagt, was Wirklichkeit ist?

Der Erfolg der Marktradikalen ist vielleicht auch darauf zurückzuführen, dass die linken Bewegungen sich so schwertun, gesellschaftliche Mehrheiten für ihre Politik zu finden, weil sie das Rationale, die Schärfe der Argumente, die Zahlen bis weit hinter das Komma so wichtig und die Mythen, Gefühle, Metaphern, Symbole und Begriffe so gering schätzen. Für den jüngst verstorbenen Ethnologen Claude Levi-Strauss hingegen sind Mythen «Geschichten, mit denen die Leute sich ihre Herkunft erklären, den gegenwärtigen Zustand ihrer Lebensbedingungen, und die Zukunft ihrer Existenz rechtfertigen».

Das Denken der Gesellschaft, die öffentliche Meinung und die in den Massenmedien veröffentlichte Meinung prägt derjenige, der seine Sicht der Wirklichkeit durchsetzen kann, der bestimmt, was für den Mainstream Wirklichkeit ist. Wirklichkeit gibt es in vielen Fassungen: Jeder Mensch deutet sie aufgrund seiner Erfahrungen, seiner Bedürfnisse, seiner Wünsche – und damit jeweils anders als die anderen. Wirklichkeit wird ausserdem von gesellschaftlicher Kommunikation und von Normen konstruiert, die wiederum von handfesten Interessen durchsetzt sind.

In den vergangenen zwanzig Jahren gaben die Marktradikalen in der veröffentlichten Meinung vor, was die Wirklichkeit ist. Heute ist ihre Vorherrschaft gebrochen – weil sie unglaubwürdig geworden sind und dies selbst auch noch bestätigt haben. So gestand Josef Ackermann, Vorstandsvorsitzender der Deutschen Bank, angesichts der Finanz-, Banken- und Immobilienkrise im Jahr 2008 ein, der Markt könne nicht mehr alles regeln. Noch sind die Verhältnisse nicht wieder eingefroren, noch ist der Kampf um die Deutungshoheit im Gange, noch ist das Ende offen. Dass allerdings der Begriff «Zeitenwende» schon wieder verschwunden ist, bedeutet nichts Gutes.

Bis Mitte der achtziger Jahre galt auch für die Mehrheit der wirtschaftlichen und politischen Eliten in Deutschland und in der Schweiz im Grundsatz der Common Sense: Die Wirtschaft sei auch deshalb erfolgreich, weil es einen starken Wohlfahrtsstaat gebe, der eine exzellente Infrastruktur zur Verfügung stelle und für sozialen Frieden sorge. Nach der deutschen Wiedervereinigung, mit den mächtiger werdenden Finanzmärkten und der grösser werdenden Europäischen Union brachen jedoch die Wirtschaftselite und ihre politischen Gefolgsleute mit dieser Übereinkunft und behaupteten das pure Gegenteil: Der Sozialstaat schade der Wirtschaft.

Seither fällt auf die Bevölkerung abwechselnd massenmedialer Niesel- oder Platzregen – in Form von wissenschaftlichen Gutachten, politischen Stellungnahmen und Schlagzeilen der Mainstreampresse, getextet von freiwillig gleichgeschalteten Medienleuten, die einem Herdentrieb folgen.

Die Skepsis des Publikums

Aber denkt das Publikum auch so, wie es die veröffentlichte Meinung ihm nahelegt? Nach einer Studie der Friedrich-Ebert-Stiftung vom Juli 2006 sagen 83 Prozent der Bevölkerung, soziale Gerechtigkeit sei der wichtigste zu bewahrende Wert. 61 Prozent gaben an, dass es für sie keine Mitte mehr gebe, sondern nur noch ein Oben und ein Unten. Laut zwei weiteren Umfragen der Institute Allensbach und Emnid vom Herbst 2007 sind unabhängig von Parteizugehörigkeiten jeweils breite Mehrheiten von bis zu achtzig Prozent dafür, einen Mindestlohn einzuführen und die Gewerkschaften zu stärken. Deutliche Mehrheiten sind auch gegen ein Rentenalter 67, für einen stärkeren Staat und für ein Ende der Privatisierungen.

Die dominierende veröffentlichte Meinung ist also längst nicht die dominierende Meinung der Öffentlichkeit, der Gesellschaft. In zentralen Fragen widersprechen sie sich sogar. Wer die Massenmedien für sich gewinnt, hat also noch lange nicht die Deutungshoheit in der Gesellschaft.

Warum aber hat sich solidarisches und an Gerechtigkeit orientiertes Denken trotzdem so lange halten können? Eine mögliche Antwort: Die Mehrheit der Menschen hat die marktradikalen Argumente in ihrem Leben nicht wiedergefunden. Es hiess: Das Anspruchsdenken und die Löhne seien zu hoch, die Leistungen der Lohnabhängigen zu niedrig, die Menschen zu unflexibel, die Effizienz von Privatunternehmen viel besser als die des Service public. Diese Diskrepanz zwischen persönlichem Alltag und öffentlicher Debatte liess die herrschende Politik und ihre Worte offensichtlich unglaubwürdig werden.

Seit Monaten ist in Deutschland zu erleben, wie bürgerliche Kreise, die sich im weitesten Sinne um die FDP scharen, versuchen, die Werte und Begriffe Freiheit und Leistung wieder zu besetzen und sich den Begriff Gerechtigkeit neu anzueignen. Es geht hier jedoch um eine Gerechtigkeitsdebatte der Mittelschichten, für die sich Gerechtigkeit nicht am Gut Solidarität, sondern am Gut Leistung auszurichten hat.

Ausgelöst wurde die Debatte im Juni vom Philosophen Peter Sloterdijk: Er hält den Sozial- und Steuerstaat («Kleptokratie») für ungerecht, da er die «Leistungsträger» sehr belaste. Er plädiert gegen den «steuerstaatlich zugreifenden Semisozialismus». Es sei zu bedenken, ob der Steuerzahler statt einer Zwangsabgabe nicht freiwillige Gaben entrichten solle. Der Vorstoss von Sloterdijk ist nicht der erste. Mathias Döpfner, Vorstandsvorsitzender des Medienkonzerns Springer, hat 2008 in einem langen Interview erläutert: «Die Steuern sind zu hoch. Vor einigen Jahrhunderten brachen Revolutionen aus, weil man den Leuten den Zehnten nahm. Heute nimmt der Staat die Hälfte.» Und laut dem Jenaer Wissenschaftler Stephan Lessenich wüssten die gehobenen Stände, die diese neue Bürgerbewegung gegen den Sozial- und Steuerstaat ausmachten, «weite Teile der arbeitnehmerischen Mittelschichten und des freiberuflichen Mittelstands hinter sich».

Die Wirklichkeit, die zu dieser Aussage gehört: In Deutschland bezahlen tatsächlich die qualifizierten Mittelschichten, deren Angehörige Jahreseinkommen zwischen 50 000 und 70 000 Euro beziehen, wegen der Steuerprogression prozentual die höchsten Steuern. Zudem erleben sie für sich selbst und ihre Kinder, dass das Grundversprechen dieser Leistungsgesellschaft nicht mehr gilt: Leistung ist längst keine Garantie mehr für einen sozialen Aufstieg. Damit ist möglicherweise ein Punkt erreicht, vor dem der Sozialphilosoph Jürgen Habermas bereits Mitte der achtziger Jahre warnte: Er sah die Achillesferse des Wohlfahrtsstaats im Sichabwenden der Mittelschichten und Leistungsträger, weil sie das Gefühl hätten, sie bezahlten via Steuern und Gebühren für den Sozialstaat und profitierten nicht von ihm. All dies verleiht dem Kampf um die Definition von Gerechtigkeit und den Status des Steuerstaates eine gesellschaftliche Kraft und Bedeutung.

Der machtvolle Ort

Wer hat die Möglichkeit, die Wirklichkeit dominierend zu deuten? Es bedarf der jahrelangen Hartnäckigkeit und eines Minimums an Herrschaft über bewusstseinsbildende Instrumente. Es ist zudem klug, nicht alleine zu handeln, sondern Koalitionen mit gesellschaftlichen Gruppen einzugehen. Am wichtigsten aber ist die Sprache. Man muss sie beherrschen, um eine Botschaft, in Sprachbildern gekleidet, knapp, griffig und verständlich zuzuspitzen. Die Botschaft muss einleuchten. Sie muss einen Widerhall im Alltag der Menschen finden. Ideal ist natürlich, wenn das jeweilige machtpolitische Gegenüber gleich mitgedeutet wird, wie das den Marktradikalen ebenfalls gelungen ist, die ihre GegnerInnen als Besitzstandswahrer, Vorgestrige, Gutmenschen abqualifizierten.

So weit das Handwerk. Bei der Anwendung aber scheiden sich die Geister: Diejenigen, welche die Wirklichkeit deuten wollen, um die Menschen zum Zwecke der Erfüllung eigener Interessen zu verführen, haben keine Skrupel, im Zweifel etwas zu behaupten, das nur von Gefühlen und nicht von Fakten gedeckt ist. So müssen in Deutschland gerade jene sehr viel niedrigere Steuern bezahlen als früher, die der «Steuerbelastung» erneut den Kampf angesagt haben. Wer die Welt so deuten will, dass die Menschen selbst ihre Interessen vertreten, der wird sich solche Übertretungen nicht leisten können, dies auch nicht wollen.

Politische Sprache ist Politik. Der Kommunikationswissenschaftler Anil Jain weist der Metapher im politischen Geschäft eine bedeutende Rolle zu: Sie sei im Diskurs «ein machtvoller Ort». Bisher haben vor allem die Marktradikalen dieses Geschäft beherrscht. Aber das muss nicht so bleiben.

Wolfgang Storz war von 2002 bis 2006 Chefredaktor der «Frankfurter Rundschau». Er schreibt regelmässig für die WOZ.