Weiter denken, anders handeln (4): Sighard Neckel: «Wir befinden uns überall in einer Phase des Schadenwachstums»

Nr. 39 –

Der verwilderte Kapitalismus wird von einem nachhaltigeren Verwertungsmodell abgelöst, sagt der Soziologe Sighard Neckel. Die Frage ist nur: Wer bestimmt den Transformationsprozess?

Sighard Neckel: «Die Hartz-IV-Gesetze haben die Einstellung zum Wert der Arbeit grundlegend verändert.»

WOZ: Herr Neckel, in den achtziger Jahren beschrieb Peter Glotz, Vordenker der SPD, die damalige alte bundesrepublikanische Gesellschaft als eine, die sich materiell, sozial und mental in zwei Teile spalte: Ein Drittel der Bevölkerung werde zunehmend abgehängt und verkümmere, den anderen zwei Dritteln gehe es ordentlich bis sehr gut. Wenn Sie aus einer ebenso weiten Perspektive auf die heutige Gesellschaft blicken, was sehen Sie da?
Sighard Neckel: Die Verhältnisse sind heute wesentlich komplizierter. Unverändert trifft jedoch die Beobachtung von Glotz und anderen zu, dass bereits damals die bundesrepublikanische Gesellschaft und auch andere westeuropäische Gesellschaften begannen, sich sozial und materiell zu polarisieren: in jene Bevölkerungsteile, die solide und sicher in das Erwerbssystem integriert sind, und diejenigen, die es nicht oder nur gelegentlich sind.

Was ist heute komplizierter?
Sowohl die oberen zwei Drittel als auch das untere Drittel müssen differenziert werden. Heute sind Abstiegsgefahren bis in die Mittelschichten hinein verbreitet. Da geht es um neue Risiken auf dem Arbeitsmarkt, um die Entwertung der eigenen Arbeit, Sorgen um die eigene Person und um die Zukunft der Kinder. Die oberen zehn bis fünfzehn Prozent dieser alten zwei Drittel sind dagegen im vergangenen Jahrzehnt sehr viel wohlhabender geworden. Das heisst, die damalige Gewinnerseite zerlegt sich stark. Auf der Seite des Verliererdrittels ist Ähnliches passiert. Aus einem Teil hat sich eine Unterklasse entwickelt, die wirtschaftlich unselbstständig und von Sozialtransfers abhängig ist und den modernen Methoden der sozialen Disziplinierung unterliegt, wie wir sie in Deutschland etwa im Rahmen der Hartz-IV-Gesetzgebung haben. So etwas gab es zuvor in Deutschland nicht, das ist neu.

Wer gehört in Deutschland zur Mittelschicht? Der Facharbeiter, der beim Automobilkonzern Daimler arbeitet und 4000 Euro brutto im Monat verdient? Oder der selbstständige Architekt mit seinen 150 000 Euro und mehr im Jahr?
Die Facharbeiterelite ist sicher Teil der Mittelschichten. Zum Mittelschichtler gehört jedoch nicht nur ein bestimmtes Einkommen, sondern auch kulturelles Kapital, also ein bestimmtes Bildungsniveau und auch eine Bildungsbegeisterung, die beispielsweise bei den Nachkommen der Facharbeiter besonders stark ausgeprägt ist. Der Architekt, der über 200 000 Euro im Jahr verdient, gehört mit Sicherheit bereits zu den oberen zehn bis fünfzehn Prozent der Freiberufler und Unternehmer, die die Geldelite bilden.

Was sind denn die Triebkräfte dieser scheinbar unaufhaltsamen Polarisierung und sozialen Zerlegung der Gesellschaften?
Es gibt bereits seit den siebziger Jahren eine zunehmende Unfähigkeit der kapitalistischen Wirtschaftsgesellschaften, die Beschäftigten entsprechend ihren Fähigkeiten in die Erwerbssysteme aufzunehmen. Wolfgang Streeck hat dies in seinem Buch «Gekaufte Zeit» sehr gut beschrieben. Diese Unfähigkeit wurde in den ersten zwei Jahrzehnten über staatliche Wohlfahrtsleistungen und staatliche Defizitfinanzierung ausgeglichen. In den späten achtziger Jahren deutete sich bereits an, dass wir trotzdem zunehmend Bevölkerungsgruppen ohne Chancen auf dem Arbeitsmarkt haben. Die wurden dann meist zur Dauerklientel der damals sehr teuren Sozialprogramme. Also ist die entscheidende Triebfeder die Begrenztheit der Aufnahmefähigkeit der Arbeitsmärkte in den kapitalistischen Gesellschaften. Das ist elementar, denn jeder, der kein ausreichendes Vermögen hat, ist sein Leben lang auf diese Inklusion angewiesen, denn über Chancen und Positionen auf den Arbeitsmärkten werden die Lebenschancen der Individuen verteilt. Über den globalen Wettbewerb haben sich Löhne, Arbeitsbedingungen und die Zahl der Arbeitsplätze gravierend verschlechtert. Das begann bereits in den siebziger und achtziger Jahren, hat sich jedoch nach 1989 und der deutschen Wiedervereinigung erheblich beschleunigt und verschärft. Eine Folge: Qualifizierte Facharbeiter, in Deutschland und anderswo, die oft auch erfinderisch und innovativ sind und über hohe Wissens- und Erfahrungsbestände verfügen, wurden einer weltweiten Konkurrenz und einem weltweiten Lohndumping ausgesetzt.

Hat das die Politik mit vorangetrieben? Konkret: Mussten in Deutschland die rot-grünen Bundesregierungen unter Kanzler Gerhard Schröder von 1998 bis 2005 die Arbeits- und Finanzmärkte so stark deregulieren, weil die kapitalmächtigen Finanzmärkte dies erzwangen? Oder hätte es eine Alternative gegeben?
Die Regierungen, egal welche Parteien sie stellen, sagen gerne, sie seien die Getriebenen der Märkte. Das stimmt natürlich nicht. Denn was gemeinhin Neoliberalismus genannt wird, ist auch ein politisches Projekt. Ohne einen politischen Rahmen und einen erklärten politischen Willen wären diese weitreichenden Deregulierungen – von der Abschaffung der Kapitalverkehrskontrollen über die Zulassung der Hedgefonds bis hin zu diesem Wildwuchs aus prekären Beschäftigungsverhältnissen – nie zustande gekommen. Aus eigener Kraft hätten sich die neoliberalen Wirtschaftskräfte nie durchsetzen können.

Das Paradoxe in Deutschland ist zudem, dass der Wille, eine solche Art von Wettbewerbsstaat aufzubauen, weniger von den konservativ-liberalen Regierungen unter Helmut Kohl ausgegangen ist, sondern ausgerechnet von Sozialdemokraten und Grünen. Es waren ja Gerhard Schröder und Joschka Fischer, die die wesentlichen Weichen gestellt haben. Sie glaubten, über die Wertschöpfung der Finanzmärkte die Steuereinnahmen wesentlich erhöhen und zugleich die Investitionstätigkeit der Unternehmen befeuern zu können. Das Kalkül ging aus einem wesentlichen Grund nicht auf. Eine solche Art von finanzmarktgetriebenem Kapitalismus und von Wettbewerbsstaat kann eines noch weniger als zuvor: qualifizierte Arbeitsplätze schaffen. So waren die Folgekosten dieser freigelassenen Finanzindustrie wesentlich höher als die Gewinne, die der Staat sich daraus verschaffte. Und deshalb folgte auf die Deregulierung der Finanzmärkte in einer schädlichen Zwangsläufigkeit die der Arbeitsmärkte, was über die Hartz-IV-Gesetzgebung in Deutschland nicht nur zu prekären Arbeitsverhältnissen und Lohndumping, sondern darüber hinaus zu einer Destabilisierung und Prekarisierung von Lebenslagen führte.

Lassen Sie mich hier noch einen Punkt anfügen, der mir sehr wichtig ist. Es wird oft unterschätzt, wie gravierend die Hartz-IV-Gesetze wirken: Sie haben letztlich die Einstellung zur Arbeit und zu ihrem Wert grundlegend verändert. Arbeit wird durch sie entwertet. Denn diese Gesetze anerkennen die lebenslange Arbeitsleistung von Lohnabhängigen gar nicht oder nur sehr gering. Weil der Wert von Arbeit jedoch schon immer ein zentrales moralisches Element der Arbeiterkultur gewesen ist, den Kern der Sozialdemokratie ausmacht und zum normativen Innenleben unserer Gesellschaft gehört – das ist in anderen westlichen kapitalistischen Demokratien nicht viel anders –, hat sich die SPD mit dieser Gesetzgebung als Partei und als Milieu zersetzt. Ihre daraus folgende anhaltende politische Schwäche war in diesem Bundestagswahlkampf ja wieder einmal zu studieren.

Das ist aber nicht nur ein deutsches Phänomen, oder?
Das ist richtig. Schliesslich hat sich die Schröder-SPD Ende der neunziger Jahre ja der politischen Ideologie der britischen Labour-Partei unter Tony Blair angeschlossen. Die hatte zusammen mit Bill Clinton das Ziel, die internationale Sozialdemokratie dem Neoliberalismus zu öffnen. Deshalb haben die sozialdemokratischen Parteien in vielen Ländern nicht nur das Vertrauen der Unterschichten verloren, sondern auch das der Facharbeiter- und Angestelltenschichten. Das konnte bis heute nicht repariert werden.

Warum haben sich die Führungen der Sozialdemokratie diesem Weg geöffnet?
Da gibt es nicht einen, sondern viele Gründe. Einen sehe ich darin, dass sich das sozialdemokratische Führungspersonal nach und nach in den besseren Kreisen der Gesellschaft etablierte. Ironischerweise führte das politische Kernanliegen der Sozialdemokratie, den Aufstieg der Arbeitnehmerschichten zu ermöglichen, zur politischen Anpassung. Die Erfolge der SPD-Politik schufen die Voraussetzungen für individuelle Aufstiege, die dann vom sozialdemokratischen Weg wegführten. So gehört die Führungsschicht der SPD mit zu den Mittelschichten, die seit den achtziger Jahren erhebliche Wohlstandsgewinne für sich erzielen konnten. Teile der SPD-Führungen verloren das Gefühl für ihre zentralen Wählerschichten, aus denen sie sich auch schon lange nicht mehr rekrutieren.

Also liegen die Gründe für diese programmatische Neupositionierung in Richtung Neoliberalismus in den Parteien selbst. Die jeweiligen Führungen wollten das. Noch einmal: Hätten sie denn überhaupt anders gekonnt in Anbetracht der fast übermächtig gewordenen internationalen Kapital- und Marktgesetze? Ist an diesem Sachzwangargument irgendetwas dran?
Ja, schon, aber nicht als Sachzwang. Unbestritten ist: Die Politik geriet in vielen Ländern unter den Druck der internationalen Märkte, insbesondere der Finanzmärkte. Die Politik ist ja abhängig von den Finanzströmen. Und viele Tendenzen, die unter der These der Postdemokratie zusammengefasst werden, deuten ja darauf hin, dass die Parteien gegenüber den international agierenden Kapital- und Finanzeliten an Macht verloren haben. Aber genauso unbestritten ist, dass es Alternativen dazu gab und gibt. Allein deshalb, weil der neoliberale Weg selbst zahlreiche neue Probleme schafft. Man mag über Oskar Lafontaine als Person denken, was man will. Aber er verkörperte in der ersten Regierung von Gerhard Schröder einen anderen Weg, der dann nicht gewählt wurde. Damals ging es um mehr als um persönliche Zwistigkeiten zwischen Kanzler Schröder und seinem Finanzminister. Tatsächlich ging es um Grundsatzentscheidungen, was zeigt: Es gibt politisch immer Alternativen.

Die Politik hätte damals also schon den Weg einschlagen können: die Finanzmärkte mehr und nicht weniger regulieren?
Richtig. Unter Hans Eichel, dem Nachfolger von Oskar Lafontaine im Amt des Bundesfinanzministers, wurden ja hochriskante spekulative Geschäftsmodelle zugelassen, die zuvor als gehobenes Glücksspiel gegolten hatten, wie beispielsweise die ungedeckten Leerverkäufe. Politisch hätte man dies alles nicht so entscheiden müssen. Im Rahmen des übergeordneten Ziels, aus Deutschland einen Wettbewerbsstaat zu machen, war jedoch damals das Argument: Frankfurt als deutsches Bankenzentrum dürfe keine Nachteile gegenüber der City of London haben. Wenige Jahre später ist uns diese Politik dann mit der Finanzmarktkrise um die Ohren geflogen.

Wir haben bisher über die Krise der sozialen Ungleichheit gesprochen. Es gibt ja noch die Umweltkrise, den fast revolutionären Umbau aller Kommunikationsmittel, der einerseits hilft, politische Umwälzungen im arabischen Raum zu befördern, und andererseits zu fast totalitären Überwachungsmassnahmen von staatlichen Sicherheitsapparaten und Grosskonzernen führt. Von all den verwirrend vielen, sich wechselseitig auch noch beeinflussenden Krisen und Veränderungen – welche ist denn die wichtigste, die prägendste?
Tatsächlich existiert so etwas wie ein Krisenquartett: Wir haben eine ökonomische Krise, die sich in einer rettungslosen Verschuldung von Staaten, aber auch von zig Millionen Privathaushalten ausdrückt; es sind die letzten finanziellen Versuche, die herkömmliche kapitalistische Reproduktion noch in Gang zu halten. Wir haben eine ökologische Krise mit einer systematischen Übernutzung endlicher Ressourcen und einem Klimawandel mit so gravierenden Folgen, dass kaum jemand weiss, wie darauf noch rechtzeitig reagiert werden kann. Wir haben drittens eine soziale Krise in Form einer Vervielfältigung der Lebenslasten für die unterschiedlichsten sozialen Schichten; das reicht von prekären Jobs über hohe Erwartungen am Arbeitsplatz bis zur Übernahme von immer mehr Lebensrisiken. Und wir haben eine Subjektkrise, weil wir inzwischen in einer Kultur der Selbstzuständigkeit und Selbstverantwortung leben, sodass sich viele Menschen über den Versuch buchstäblich erschöpfen, all diese Risiken, Lasten und Aufgaben zu bewältigen. Dieser Hochgeschwindigkeitskapitalismus ist kein abstraktes Gebilde, er kommt bei jedem einzelnen Menschen an.

Eine Zeitgleichheit verschiedener schwerer Krisen: Ist dies historisch etwas Besonderes?
In dieser Form schon. Aber wir sollten immerhin eine andere geschichtliche Besonderheit nicht vergessen: Wir befinden uns in Deutschland und in den meisten west- und mitteleuropäischen Ländern auf dem Weg in das 70. Friedensjahr. Das ist historisch einmalig. Frieden ist schon so selbstverständlich für uns geworden, dass wir uns mühen müssen, seinen Wert zu sehen. Dies muss man bei den heutigen Krisen mit bedenken.

Ist ein solches Krisenquartett von demokratischen Gesellschaften mit ihren langwierigen Beteiligungs- und Entscheidungsprozessen überhaupt verkraftbar?
Warum eigentlich nicht? Schauen Sie, in den achtziger Jahren gab es die Meinung, die Politik könne strukturell für eine individualisierte und pluralisierte Gesellschaft gar keine Angebote mehr machen. Ich war schon damals der Meinung, dass diese Tendenzen der Pluralisierung und Individualisierung, die es selbstverständlich gibt, überschätzt worden sind. Aber selbst wenn wir diese Meinung von damals akzeptieren, können wir doch konstatieren: Heute steht die Politik vor grossen Herausforderungen und epochalen Problemen, die für uns alle gemeinsam von elementarer Bedeutung sind – und die aller Individualisierung und Pluralisierung zum Trotz nur gemeinsam bewältigt werden können. Das heisst, Politik kann sich darin beweisen und daran wachsen, diese Probleme zu lösen und dafür Menschen zu mobilisieren. Die Bedeutung von Parteien und politischen Bewegungen wächst oft mit der Tragweite der Probleme und der Grösse der Bevölkerungsschichten, die von diesen Problemen betroffen sind. Zum Beispiel Gesellschaften auf Nachhaltigkeit umzustellen – damit steht doch eine Herausforderung ersten Ranges ganz oben auf der politischen Agenda.

Aber fast zeitgleich verlieren die Parteien an Glaubwürdigkeit.
Dieses Problem besteht schon länger, seit bald drei Jahrzehnten. Zumindest für Deutschland ist aber festzustellen, dass bei entscheidenden Wahlen, bei denen es um Alternativen geht, die Bevölkerung immer noch in hohem Mass interessiert und in Teilen auch aktiv ist. Ich bin sicher, wenn Parteien beginnen würden, mutig diese Probleme anzupacken, dann wären viele Nörgeleien und Glaubwürdigkeitsprobleme wie weggeblasen.

Sie haben von einer Erschöpfung von Millionen Menschen gesprochen, weil die Arbeit immer belastender und intensiver wird, weil viele Risiken und Aufgaben, die zuvor der Staat organisierte, nun von jedem Einzelnen erledigt und verantwortet werden müssen. Nun sagen Sie in Ihrem neuen Buch, in dieser Erschöpfung könne auch «der Beginn eines neuen Wertschöpfungszyklus» stecken. Was meinen Sie damit?
Wir bewegen uns in einem ökonomischen Übergang. Der Kapitalismus, der verschwenderisch und rücksichtslos mit Natur und Menschen umgeht, gerät an die Grenzen seiner eigenen Reproduktion. Der Klimawandel macht uns beispielsweise diese Grenzen deutlich. Wir befinden uns überall, ob beim Klima, beim Konsum oder bei der Staatsverschuldung, bereits in einer Phase des Schadenwachstums. Es wachsen also nicht mehr der Nutzen und der Wohlstand, es wachsen nur noch die Schäden. Dieser Verschwendungskapitalismus verwandelt sich nach und nach allein aus Gründen der Selbsterhaltung in einen Nachhaltigkeitskapitalismus, der lernt, rein aus Interesse an der eigenen Wertschöpfung haushälterischer mit begrenzten Ressourcen umzugehen. Deshalb machen die Chinesen momentan beides: Sie sind die letzten Heroen eines rücksichtslosen ressourcenvernichtenden Wachstumskapitalismus, und sie versuchen zugleich, die Instrumente des Nachhaltigkeitskapitalismus zu entwickeln. China dokumentiert genau diese Übergangssituation, in der wir uns befinden.

Wichtig ist nun: Dies gilt auch für menschliche Ressourcen, zumal wir sowieso in eine Phase kommen, in der qualifizierte Arbeitskraft knapp wird. Die Ressource Mensch kann der Kapitalismus nicht länger bedenkenlos verbrauchen, er muss sie erhalten. Dies spiegelt sich auch bei uns in den gegenwärtigen Debatten wider: Gesundheitsmanagement in den Betrieben, Weiterbildung, die Reden von der guten Arbeit und von Work-Life-Balance, eine neue Phase der Humanisierung der Arbeitswelt. Die Ideologie der grenzenlosen Selbstoptimierung ist jedenfalls ziemlich am Ende und mit ihr die Predigten der Managementberater und der Coaches in den vergangenen Jahren. Diese alten Kräfte sind zwar alle noch da und beharren auf den alten Parolen. Aber die Gegenkräfte, die auf Innovationen setzen, machen sich ebenfalls massiv bemerkbar. Und über dieser anderen neuen Wirtschaft wird die Losung stehen: Ressourcen müssen erhalten und dürfen nicht verbraucht werden.

Und was hat das nun mit der Burn-out-Debatte zu tun?
Burn-out scheint mir ein Indikator dafür zu sein, dass wir uns in einem Übergang befinden und dass dies in der Gesellschaft selbst gespürt wird. Ich meine weniger die tatsächliche Verbreitung von Burn-out, zumal das diagnostische Bild dieser Krankheit alles andere als geklärt ist. Aber das Ausmass und die Intensität der öffentlichen Debatte darüber scheinen mir den Übergang in diesen anderen Kapitalismus zu symbolisieren. Mit ihr wird das beschleunigte und grenzenlose Ausbeuten von Ressourcen gesellschaftlich als etwas Krisenhaftes wahrgenommen.

Und was lernen beispielsweise Politik und Unternehmer von dieser Debatte?
Das geht natürlich in kleinen Schritten. Zunächst findet eine Debatte in den Medien, aber auch in kleineren Öffentlichkeiten statt. Nach und nach erfasst sie auch wirtschaftliche und politische Instanzen.

Sie sehen in der Burn-out-Debatte das Signal der Gesellschaft an den rücksichtslosen Hochgeschwindigkeitskapitalismus: Jetzt ist Schluss?
Ja, denn das ist ein Thema, bei dem sich die Gesellschaft mit ihren unterschiedlichen Kräften neu darüber verständigt: Wohin hat uns diese Entwicklung des Kapitalismus gebracht, und wohin wollen wir? Das Besondere an dieser Debatte ist, dass sich diese Fragen für jeden Einzelnen und zugleich für die ganze Gesellschaft stellen. Die Erfahrungen der Individuen verschränken sich mit einem gesamtgesellschaftlichen Prozess. Im individuellen Schicksal kommt auch ein kollektives Schicksal zum Ausdruck. Die Krisen von Beschleunigung, Selbstoptimierung und Entgrenzung zeigen an, dass nicht nur ein Arbeitsmodell, sondern ein ganzes Lebensmodell erschüttert ist, jenes Lebensmodell nämlich, in dem sich alles in einen Betrieb verwandelt, das Verhältnis zum eigenen Selbst, zum eigenen Körper, zur Familie, zu den Kindern.

Wenn es so ist, dann hat diese Demokratie nicht mit hellwachen Bürgern, sondern mit erschöpften vereinzelten Menschen zu tun, die alle Energie darin investieren, sich durchs Leben zu schlagen. Sie kümmern sich also um alles, nur nicht mehr um diese Gesellschaft, weil sie nicht mehr können. Ist diese Gesellschaft also gerade im Umbruch, auf der Suche nach neuen Wegen, oder versinkt sie in Apathie?
Ich sehe die Gesellschaft eindeutig im Umbruch. Ob das durchweg positiv ist, da bin ich vorsichtig.

Sie sehen nirgends Apathie?
Apathie meint eine passive Hinnahmebereitschaft. Die sehe ich nicht. Allein schon deshalb nicht, weil sich auch ein normaler Arbeitnehmer heute gar nicht mehr erlauben darf, apathisch zu sein. Der Einzelne wird doch in den Unternehmen mit all seinen Fähigkeiten und Eigenschaften permanent mobilisiert.

Aber um, wie Sie gesagt haben, als Betrieb zu funktionieren. Und nicht, um die Welt zu verbessern.
Ja, das ist richtig. Aber wenn ich Menschen ständig auffordere: Bringe deine ganze Persönlichkeit in deine Arbeit ein, nicht nur deine kognitiven Fähigkeiten, sondern deine Gefühle, deine Werte, deine Kreativität, stelle dir selbst deine Aufgaben, erledige deine Projekte eigenständig, uns als Management interessiert nur dein Ergebnis – wenn das so ist, dann mobilisiert man permanent die besten Seiten des Menschen. Wenn die Unternehmen diese Mobilisierung jedoch gleichzeitig auf das ökonomisch Verwertbare begrenzen wollen und sagen, es zählt von dem, was du eingebracht hast, aber nur das, was auch Gewinn abwirft, und du sollst zwar selbstständig sein, aber unsere Hierarchien gibt es selbstverständlich weiter – wenn es also zu solch widersprüchlichen Botschaften kommt, dann kann ich das als Management irgendwann nicht mehr kontrollieren, weil mit dieser Aktivierung zugleich die Ansprüche der Beschäftigten wachsen. Ich lasse damit also einen Geist aus der Flasche. Burn-out ist sicher Ergebnis eines Lebensmodells, in dem man sich selbst zum Betrieb macht. Ein wichtiger Punkt dabei, dies weiss man seit der «Entdeckung» von Burn-out unter Sozialarbeitern, ist darüber hinaus aber auch die Enttäuschung, nicht die Anerkennung und Belohnung zu erhalten, die man sich mit seiner Anstrengung eigentlich verdient hat. Die Mobilisierung der persönlichsten Motive im Erwerbsleben scheint sinnlos zu sein.

Aber daraus folgt doch Niedergeschlagenheit und nicht Veränderung.
Trotzdem hinterlässt diese ständige Aktivierung ihre Spuren. Die Akteure verstricken sich mit den gesellschaftlichen Verhältnissen, unter denen sie leiden und die ihnen Grenzen setzen. Aber man leidet ja am meisten unter Problemen bei Aufgaben, mit denen man sich identifiziert, die einem wichtig sind. So kann es trotz Niedergeschlagenheit zu einem millionenfachen Überschuss an Motivationen kommen, die das reine Gewinnstreben und die Enge der Hierarchien sprengen.

Wie kann aus solchen Leiden, Identifikationen und Mobilisierungen eine politische Bewegung werden, die diese Verhältnisse abschafft oder verändert?
In Demokratien entstehen politische Bewegungen nur über öffentliche Debatten. Und Burn-out trägt die grundsätzliche Kritik am heutigen Hochgeschwindigkeitskapitalismus in jeden Haushalt, von den Angestellten bis zu den Führungskräften. Natürlich schliesst dies nicht aus, dass über Burn-out als rein individuelles Phänomen debattiert und der gesellschaftliche Zusammenhang geleugnet wird. Aber in der öffentlichen Auseinandersetzung darüber steckt eine Chance der Politisierung.

Die Debatte über Burn-out könnte also der mögliche Auftakt einer politischen Bewegung sein?
Es ist der Beginn einer Selbstverständigung dieser Gesellschaft. Daraus kann eine politische Bewegung werden.

Dann ist eine solche Debatte also prägender und bedeutender als eine über soziale Ungleichheit?
Das hängt doch zusammen. Die Lasten, die die Individuen heute zu schultern haben, bestehen ja aus Paketen, die ganz ungleich verteilt sind: die Verdichtung der Arbeit, prekäre Arbeitsverhältnisse, Niedriglohnsektor, Zunahme von Armut, Individualisierung und Selbstzuständigkeit für Lebensrisiken – all diese Entwicklungen summieren sich ja nicht in allen Sozialschichten gleich. Und die Summe ist das Entscheidende, das Empfinden, dass es zu viel ist und gleichzeitig nicht reicht.

Warum wird über Burn-out so intensiv und erregt debattiert und über die masslose Zunahme von Armut und Reichtum nicht?

Kann man das so sagen? Das glaube ich nicht. Es gibt doch einen deutlichen öffentlichen Unwillen über die sozialen Verwilderungen, die der heutige Kapitalismus zu verantworten hat.

Wo wird das gebündelt? In welchen Parteien? Wer stellt die Lokomotiven der Veränderung?
Das ist etwas anderes. Schauen wir uns die Organisationen einmal an, die am ehesten mit der sozialen Frage in Verbindung stehen. Die Linkspartei in Deutschland leidet darunter, dass sie einerseits immer noch als Nachfolgepartei der SED gilt und andererseits ein Sammelbecken linker Sektierer aus der alten Bundesrepublik ist. Beide Vergangenheiten erschlagen ihre Zukunft. Über die SPD haben wir gesprochen. Aber die Gewerkschaften könnten diese Themen politisieren. Immer wenn Gewerkschaften die Verbindung von Arbeit und Leben angesprochen haben, ob im Fall der 35-Stunden-Woche oder einst beim Achtstundentag, wurden daraus grosse politische Projekte. Bis heute ist da noch nicht viel zu erkennen. Aber lassen Sie mich in diesem Zusammenhang eine grundsätzliche Anmerkung machen. Ich denke, wir stehen auch in dieser Hinsicht vor einer neuen Situation: Es sind nicht mehr die herkömmlichen Organisationen, die die Lokomotiven der Veränderung sind. Stattdessen gibt es überall Initiativen, die im Alltag Alternativen zum verwilderten Kapitalismus entwickeln: ob die nachhaltige regionale Landwirtschaft, ob Commonsprojekte wie Wikipedia oder die ethischen Banken mit ihren beachtlichen Zuwachsraten an Kunden.

Ihre grosse Überschrift ist also: Es kommt nach und nach zu einer Transformation hin zu einem nachhaltigen Kapitalismus.
Der kommt sowieso. Das organisieren die Unternehmen aus Eigeninteresse. Politisch geht es jetzt darum, während dieser Transformation möglichst viel Freiheit für das Individuum und möglichst viele Kollektivgüter für das Gemeinwohl herauszuholen.

Weiter denken, anders handeln

Die Finanzmarktkrise steht im sechsten Jahr, europaweit wächst die Arbeitslosigkeit, die Kluft zwischen Arm und Reich weitet sich – und doch hält sich die Empörung in Grenzen. Was ist da los? Wohin entwickeln sich die Gesellschaften? Welche Perspektiven gibt es überhaupt noch? Diese Fragen stellen wir in einer lockeren Serie Fachleuten, die sich seit langem mit gesellschaftlichen Verhältnissen befassen. Das nächste Mal antwortet Peter Niggli von Alliance Sud.

Sighard Neckel: Finanzwelten, Erfolgskult und alternative Ökonomie

Der Soziologe Sighard Neckel (56) ist Lehrstuhlinhaber an der Goethe-Universität Frankfurt am Main. Er beschäftigt sich seit Jahren mit Fragen von sozialer Ungleichheit und aktuellen ökonomischen Tendenzen. So veröffentlichte er im Jahr 2010 unter anderem mit Claudia Honegger, emeritierte Soziologieprofessorin an der Universität Bern, den Interviewband «Strukturierte Verantwortungslosigkeit. Berichte aus der Bankenwelt». Die ForscherInnen hatten dafür mit zahlreichen BankerInnen und Finanzfachleuten über Ursachen und Verantwortung der Finanzmarktkrise gesprochen. Die Porträts geben erkenntnisreiche Einblicke in Verhalten und Denkwelten der Banken- und Finanzbranche.

In seinem Buch «Flucht nach vorn. Die Erfolgskultur der Marktgesellschaft» (2010) beschäftigte sich Neckel mit Fragen des «Erfolgskults», der Dominanz des Ökonomischen auch über Gefühle und Sinne, der Neudefinition von Leistung und Erfolg, der zunehmenden Bedeutung von Inszenierung und der abnehmenden Bedeutung von beruflicher Erfahrung und Qualität. Diese Erkenntnisse und weitere Beobachtungen – exorbitante Managergehälter, Boni, Luxuskonsum, statusgeprägte Bildungssysteme – flossen auch in seine Arbeiten über Tendenzen der Refeudalisierung von Gesellschaften ein.

In diesem Jahr publizierte Neckel zusammen mit Greta Wagner (ebenfalls Universität Frankfurt am Main) den Sammelband «Leistung und Erschöpfung. Burnout in der Wettbewerbsgesellschaft», in dem die gesellschaftlichen Ursachen und Folgen der Zunahme von Depressionen und individueller Überarbeitung in den Mittelpunkt gerückt werden. Derzeit beschäftigt er sich mit Modellen einer nachhaltigen Ökonomie.

Sighard Neckel ist seit vielen Jahren Mitglied der Leitung des Instituts für Sozialforschung in Frankfurt. Zuvor lehrte er in Wien, Siegen, Wuppertal, Giessen, als Gastprofessor an der Duke University (USA) und in Bielefeld. Ihn zeichnet aus, dass er als Wissenschaftler mit einer lobenswerten Systematik aktuelle gesellschaftliche Entwicklungen bearbeitet. Zudem publiziert er in einer Sprache, die auch NichtwissenschaftlerInnen verstehen.

Wolfgang Storz

Recherchierfonds

Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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