AKW und Leukämie: Keine Bange, da ist nichts?
Zurzeit wird auch in der Schweiz untersucht, ob Atomkraftwerke Kinder krank machen. Aber Achtung: Wenn die Studie nichts findet, heisst das noch nichts.
Claudio Knüsli ist der Arzt, den man sich wünscht, wenn man an Krebs erkrankt. Es gilt als «patientennah», er nimmt sich Zeit für die Leute. Knüsli arbeitet in Basel als Onkologe. Letzten Donnerstag erschien im «Schweizer Krebsbulletin» ein Leserbrief von Knüsli, der für einigen Wirbel sorgen dürfte. Er trägt den sperrigen Titel: «Ausreichende statistische Nachweiskraft der Canupis-Studie?» Dahinter stehen einige heisse Fragen: Machen Atomkraftwerke krank? Wie lässt sich das herausfinden? Und wenn man dies mit grösster Aufrichtigkeit erforscht: Ist die Schweiz nicht zu klein, um brauchbare Resultate zu liefern? Oder gibt man vor, etwas zu untersuchen, was sich gar nicht untersuchen lässt, um am Ende behaupten zu können: «Keine Bange, da ist nichts»?
Es trifft besonders Kinder unter fünf Jahren, die in der Nähe von Atomkraftwerken aufwachsen: Ihr Risiko, an Leukämie zu erkranken, ist doppelt so hoch wie das von Kindern, die weiter weg wohnen. Zu diesem Ergebnis kam die deutsche Studie «Kinderkrebs um Kernkraftwerke», die sogenannte KiKK-Studie, vor zwei Jahren (vgl. «KiKK und Canupis» weiter unten). Das Resultat schlug ein. AKW-kritische Kreise hatten diesen Zusammenhang schon lange vermutet, konnten ihn aber nie beweisen.
Das Problem der Nachweiskraft
Die KiKK-Resultate führten dazu, dass sich die Schweizer Krebsliga ebenfalls des Themas annahm. Sie initiierte die Studie «Kinderkrebs im Umfeld von Schweizer Kernkraftwerken» (Canupis). Auf der Canupis-Website heisst es: «Um einen allfälligen Zusammenhang zwischen der Häufigkeit von Kinderkrebs und dem Wohnort in der Nähe von Kernkraftwerken zu untersuchen, wird in der Schweiz nun erstmals vom Institut für Sozial- und Präventivmedizin der Universität Bern (ISPM) eine umfassende Studie durchgeführt.»
«Wir begrüssen die Studie grundsätzlich sehr», sagt Claudio Knüsli, der nicht nur Onkologe, sondern auch Präsident von PSR/IPPNW Schweiz ist, der ÄrztInnenorganisation für soziale Verantwortung und zur Abschaffung von Atomwaffen. Er kritisiert jedoch die sogenannte «Power» der Studie, die «statistische Nachweiskraft». In Deutschland wurde die Umgebung von sechzehn AKWs untersucht. In der Schweiz gibt es jedoch nur deren fünf – Mühleberg bei Bern, Gösgen zwischen Aarau und Olten, Beznau I und II nördlich von Baden sowie Leibstadt am Rhein.
Ein Prozent der Bevölkerung lebt in ihrer nächsten Umgebung. Wenn sich bei diesen Anlagen feststellen lässt, dass das Leukämierisiko für Kleinkinder wie in Deutschland doppelt so hoch ist, wäre das statistisch irelevant, weil es in der Schweiz zu wenig Krankheitsfälle sind: Es gäbe konkret etwa 9 kranke Kinder statt der 4,3 Fälle, die zu erwarten wären, und das reicht nicht, um eine wissenschaftlich klare Aussage zu treffen.
«Das Risiko eines falsch negativen Resultats ist unverantwortbar hoch», sagt Knüsli. Man bekommt also ein «negatives» Ergebnis, was eigentlich erfreulich wäre, weil es ein erhöhtes Krebsrisiko negiert – fälschlicherweise. Die Gefahr, das «positive Resultat» zu verfehlen, liege bei etwa fünfzig Prozent, sagt Knüsli: «Da könnte man ebenso gut eine Münze aufwerfen und müsste keine aufwendige Studie machen, die dazu missbraucht werden kann, zu behaupten, es gebe keinen Zusammenhang zwischen Leukämie und Atomkraftwerken. Eine Behauptung, die vor allem im Hinblick auf die geplanten AKW-Neubauten politisch ausgeschlachtet werden könnte.»
Kein Risiko? So stimmt das nicht!
Aus diesem Grund müsse dieses Problem angesprochen werden, bevor die Resultate publiziert und instrumentalisiert würden, sagt Knüsli. Etwas, das übrigens mit einer britischen, einer finnischen sowie mit einer französischen Studie vor kurzem passiert ist. Die Studien waren statistisch nicht aussagekräftig, doch wurde überall die Botschaft verbreitet: In der Umgebung der AKWs lassen sich keine erhöhten Krebsrisiken nachweisen – was eben so nicht stimmt.
Knüsli weist noch auf ein weiteres Problem hin: Canupis erfasst die Kinder erst ab Geburt. «Man weiss», sagt er, «dass der Embryo respektive das ungeborene Kind extrem empfindlich ist für radioaktive Strahlung.» Eine der zentralen Fragen sei deshalb die nach dem Wohnort der Mutter während der Schwangerschaft eines Kindes, das später an Krebs erkrankt: «Das wird im Studienkonzept leider noch nicht eingeschlossen.» Studienleiterin Claudia Kuehni habe allerdings signalisiert, dies könne noch berücksichtigt werden.
Die Studie wird von einem wissenschaftlichen Beirat begleitet. Darin sitzt auch Maria Blettner vom Mainzer Kinderkrebsregister, die massgeblich für die KiKK-Studie verantwortlich war. Blettner ist in Deutschland umstritten, weil sie behauptet, die Atomkraftwerke «könnten grundsätzlich nicht als Ursache für das erhöhte Leukämierisiko gelten».
Viele ExpertInnen halten Blettners Aussage für unwissenschaftlich. Zwar stimmt es, dass niemand genau sagen kann, wodurch die Leukämie bei den Kindern verursacht wird. Man weiss aber, dass die AKWs auch im Normalbetrieb radioaktive Stoffe wie Tritium oder Kohlenstoff-14 abgeben. Lösen nun diese niedrigen Strahlendosen bei Embryonen und Kleinkindern Krebs aus? Passiert es über Väter, die im AKW arbeiten? Oder sind es ganz andere, bislang unbekannte Zusammenhänge?
Man weiss es nicht. Deswegen aber die Atomkraftwerke freizusprechen, wäre grob fahrlässig – denn alle Indizien sprechen dafür, dass sie an den hohen Leukämieraten mitschuldig sind.
Hagen Scherb arbeitet am Institut für Biomathematik und Biometrie des Helmholtz-Zentrums in München. Er sass bei der KiKK-Studie im beratenden Expertengremium und hat Knüslis Brief im «Krebsbulletin» mitunterzeichnet. Er sagt wie Knüsli, dass es Unvoreingenommenheit und völlig neue Ansätze brauche, um die Effekte und Zusammenhänge erklären zu können. Und er spricht von einem «kollektiven Verdrängungsmechanismus» – in der wissenschaftlichen Fachgemeinde getraue sich kaum jemand eine Abweichung von der gültigen Lehrmeinung, weil man sonst sofort ausgegrenzt werde. Und die offizielle Lehre heisst eben: Niedrige Strahlendosen sind ungefährlich – obgleich viele hochkarätige Studien genau das Gegenteil belegen würden, sagt Scherb.
Canupis und die Politik
Matthias Egger, Leiter des Berner Instituts für Sozial- und Präventivmedizin, reagiert auf die Kritik an der Canupis-Studie wenig erfreut. Man wolle eigentlich nicht mehr Stellung nehmen, bis die Resultate vorlägen, sagt er. «Wahrscheinlich ist es die beste Studie, die zu diesem Thema je gemacht wurde, weil wir den Wohnort der Kinder bei Geburt sowie bei der Krebsdiagnose erfassen können.» Die KiKK-Studie könne beides nicht leisten.
Egger räumt aber ein: «Schon möglich, dass unsere Studie zu klein ist – aber wir können keine Studie machen, die mehr Power hat, das geht aufgrund der Rahmenbedingungen einfach nicht.» Dass man IPPNW-ÄrztInnen nicht einbezogen hat, begründet er damit, dass man einen «rein wissenschaftlichen Beirat» haben wollte: «Hätten wir Herrn Knüsli und seine Leute dabei gehabt, hätten wir einen politischen Beirat, dann hätten wir auch die Betreiber der Kernkraftwerke holen müssen. Dsas wollten wir aber nicht.»
In der Canupis-Studiengruppe sitzt aber auch Felix Niggli, der sich nicht scheut, auf der Seite der AKW-BetreiberInnen aufzutreten. Er ist leitender Onkologe am Kinderspital Zürich und Mitglied des atomfreundlichen «Forums für Medizin und Energie». Im August trat er auf Einladung des Berner Energieunternehmens BKW auf und referierte laut der Zeitung «Der Bund» über den Stand der Forschung. Es sei ein Trugschluss, Kernkraftwerke für das Leukämierisiko verantwortlich zu machen, sagte Felix Niggli. Es bestehe schon lange die These, dass es zwischen Kinderkrebs und Kernkraftwerken einen Zusammenhang gebe, doch seien weltweit über fünfzig Studien unternommen worden, und keine habe eine Häufung von Leukämiefällen gezeigt. Niggli erwähnte weder die KiKK- noch die Canupis-Studie. Doch verstieg er sich – laut «Bund» – zu einer kruden Aussage: Es habe auch überraschende Ergebnisse gegeben, so sei etwa eine Häufung von Todesfällen auch in Gebieten vorgekommen, in denen ein KKW zwar geplant war, aber später gar nicht gebaut wurde. Womit der Onkologe Niggli suggeriert, dass es unbegründete Ängste sind, die Krebs verursachen. Die WOZ wollte wissen, auf welche Studie sich Niggli da genau beruft. Und ob solche Aussagen nicht heikel seien.
Niggli antwortete per Mail, er sei nicht in der Lage, diese Fragen bis Redaktionsschluss zu beantworten. Er sei aber gerne zu einem späteren Zeitpunkt bereit, über die Ursachen von Kinderleukämie zu diskutieren. Wir nehmen das Angebot gerne an.
KiKK und Canupis
Im Dezember 2007 wurde die deutsche Kinderkrebs-Studie KiKK publiziert, die auf Druck AKW-kritischer Kreise zustande gekommen war. Die Studie lieferte folgende Resultate:
⇒ Kinder, die im Umkreis von fünf Kilometern um ein AKW leben, haben ein doppelt so hohes Risiko, an Leukämie zu erkranken, wie unbelastete Kinder.
⇒ Dieses erhöhte Risiko nimmt zwar ab, lässt sich aber bis zu einem Umkreis von fünfzig Kilometern feststellen.
⇒ Vor allem das Leukämierisiko ist überdurchschnittlich hoch.
⇒ Ganz kleine Kinder sind wesentlich gefährdeter als ältere Kinder.
Die Schweizer Canupis-Studie will ähnliche Fragestellungen wie die deutsche KiKK-Studie beantworten, wählt aber ein anderes Verfahren (Canupis ist eine Kohortenstudie, KiKK war eine Fall-Kontroll-Studie). Die Arbeit wurde im Herbst 2008 aufgenommen, 2011 sollen die Resultate vorliegen. Die Studie wird 840000 Franken kosten; je 210000 Franken bezahlen die AKW-BetreiberInnen und das Bundesamt für Gesundheit, 420000 Franken kommen von der Krebsliga.