Klostermedizin: Beinwell, Ysop und Ringelblume

Nr. 52 –

Für einige ist die mittelalterliche Heilkunde der Hildegard von Bingen eine exzentrische Therapie, die an Esoterik grenzt. Andere sehen darin einen wichtigen Gegenpol zur apparateorientierten Schulmedizin.


Ein schneller Stich mit einer Kanüle – schon fliesst das dunkelrote Blut aus der Armvene in den durchsichtigen Schlauch und tropft schliesslich in einen Plastikbecher. «Lassen Sie nur recht viel ab, mein Cholesterin ist immer so hoch», bittet die blonde Frau auf der Liege. Es ist Aderlasszeit im Hildegard-Zentrum am Bodensee. Jeden Monat, sechs Tage nach Vollmond, führt hier der Heilpraktiker Wighard Strehlow den Aderlass nach Hildegard von Bingen durch. «Dieses Blutreinigungsverfahren soll Krankheiten verhüten», erklärt er: «Körpereigene Substanzen werden frei und können Selbstheilungsvorgänge im Körper auslösen.»

Der promovierte Chemiker Strehlow beschäftigt sich seit mehr als 25 Jahren mit der Hildegard-Heilkunde, seit 1993 leitet er das Zentrum in Allensbach, westlich von Konstanz. Therapien nach Hildegard zählen zu den Naturheilverfahren und basieren auf einer speziellen Ernährungslehre – der Fastenkunde – sowie auf Behandlungen mit pflanzlichen Mitteln und Edelsteinen. Ihre Wurzeln reichen bis ins Mittelalter: Sie stützen sich auf Überlieferungen von Hildegard von Bingen, die vor rund 900 Jahren lebte. Aufgewachsen in einem Benediktinerinnenkloster westlich von Mainz, gründete sie selbst ein Kloster und entwickelte aufgrund von Visionen eine eigene Interpretation der medizinischen Theorie.

Hildegards Visionen

Im Gegensatz zu heute fand die Krankenversorgung zu Zeiten Hildegard von Bingens fast ausschliesslich in Klöstern statt. Die medizinhistorische Epoche dieser sogenannten Klostermedizin erstreckte sich vom 7. bis ins 13. Jahrhundert. Völkerwanderungen und Pestwellen in den Jahrhunderten zuvor hatten viel medizinisches Wissen aus den Zeiten des antiken Griechenlands verschwinden lassen. Bis Benedikt von Nursia um das Jahr 527 ein Kloster auf dem Monte Cassino in Süditalien gründete und die Versorgung von Kranken zu einer zentralen Aufgabe eines Klosters erklärte.

Lesen und Schreiben war zu jener Zeit Mönchen und Nonnen vorbehalten. Gestützt auf Überlieferungen aus der Antike erwarben die KlosterbewohnerInnen ein tieferes Verständnis der medizinischen Versorgung und eigneten sich insbesondere die Methoden der Pflanzenheilkunde an. In diesem Zug entwickelten sie auch die Humoralpathologie, die Viersäftelehre (siehe weiter unten), weiter, wandelten sie ab und hielten ihre Erfahrungen in Büchern fest. Hildegard von Bingen steht eine Sonderrolle in der Klostermedizin zu: Sie entwickelte ihre eigene medizinische Theorie – beruhend auf Visionen, die als von Gott gegeben angesehen wurden.

Am Würzburger Institut für Geschichte der Medizin untersuchen Ärzte, Chemikerinnen, Pharmazeuten, Philologinnen und Historiker die medizinischen Erkenntnisse aus dem Mittelalter. In den vergangenen zehn Jahren haben sie zahlreiche historische Texte übersetzt und die beschriebenen Pflanzen zusammen mit einem Arzneimittelhersteller auf ihre Wirksamkeit geprüft. «Unser Ziel ist es, traditionelles medizinisches Wissen europäischer Abteien und Konvente genau zu analysieren», sagte Johannes Mayer, der Leiter der Forschungsgruppe Klostermedizin aus Würzburg, kürzlich an einem Vortrag an der ETH Zürich. Dabei versuchen sie auch herauszufinden, ob die Beschreibungen in der mittelalterlichen Literatur tatsächlich Erfahrungswerten entsprechen oder ob es abgeschriebene Anweisungen aus anderen Büchern sind. Keine einfache Aufgabe, da ein Teil der Überlieferungen sehr alt ist.

Die älteste erhaltene deutsche Handschrift der Klostermedizin, das «Lorscher Arzneibuch», dokumentiert Rezepte aus dem 8. Jahrhundert. Etwas später entstanden ist der St. Galler Klosterplan: Er beschreibt neben Klostergebäuden einen Garten für Heilpflanzen und ein Arzthaus. Die Pflanzen, die in den Beeten angebaut werden sollen, sind genau eingetragen. Auch im Gedicht «Hortulus» aus dem 9. Jahrhundert und dem «Macer floridus», dem meistverbreiteten Kräuterbuch des 12. Jahrhunderts, sind die Heilpflanzen mit ihrer medizinischen Anwendung dokumentiert.

Doch welchen Nutzen bringt die mittelalterliche Kräuterkunde für die moderne Medizin? «Die Menschen hatten schon immer ein Bedürfnis nach Tradition und Natur», sagt Johannes Mayer. «Wir wollen zeigen, dass die traditionelle europäische Medizin ebenso unverfälscht und leistungsfähig ist wie beispielsweise die traditionelle chinesische Medizin.» Indem sie die mittelalterliche Literatur systematisch überprüfen, hoffen die Würzburger ForscherInnen, auf neue Anhaltspunkte für Heilmittel aus dem Klostergarten zu stossen. Über 600 Pflanzen haben sie bereits kategorisiert und in einer Datenbank gespeichert. Verdichten sich Hinweise auf einen heilsamen Stoff, wird dieser mit Laboranalysen näher untersucht. Erste Erfolge konnten die ForscherInnen bereits verbuchen: «Wir haben dazu beigetragen, den Effekt von Beinwell nachzuweisen», sagt Mayer. Seither werden Extrakte dieses Raublattgewächs einer Salbe gegen Muskelschmerzen beigemischt.

Von der Wirkung der Heilpflanzen ist Mayer so überzeugt, dass er entschlüsselte Rezepte auch selbst anwendet: «Ein bereits damals bekanntes Hustenmittel bestand aus Ingwer, Andorn und Ysop, gemischt mit Honig. Das lässt sich ganz einfach herstellen und schmeckt zudem noch gut.»

Praxis versus Überlieferung

Eine besondere Herausforderung ist es für die ForscherInnen immer wieder, die Heilpflanzen genau zu bestimmen. «Eine Pflanze kann unter vielen unterschiedlichen Namen auftauchen», sagt Mayer. Umgekehrt kann «Caput monachi» sowohl auf die Ringelblume wie auf den Kapernstrauch verweisen. Ein Klassifizierungssystem für Pflanzen war im Mittelalter noch nicht bekannt.

Spezielle Beachtung erfordert ausserdem der Kontext, in dem die untersuchten Schriftstücke entstanden sind, wie Hermann Roth, ein weiteres Mitglied der Würzburger Forschungsgruppe, erklärt. «Mönche waren zwar die Intellektuellen ihrer Zeit, die Mentalität in den Klöstern war aber autoritätshörig.» Merkten sie, dass in ihren Abhandlungen eine Pflanze fehlte, die antike Gelehrte beschrieben, kopierten sie einfach den entsprechenden Text. «Deshalb ist es heute schwierig zu beurteilen, ob sie die genannten Pflanzen tatsächlich kannten und angewendet haben.» Der Zisterzienser und Botaniker Roth weiss noch weitere Gründe, weshalb es nicht ausreicht, sich auf die schriftlichen Überlieferungen zu verlassen: «Die praktischen Kenntnisse damals waren viel grösser, als es die Literatur vermuten lässt.» Da die Herstellung von Büchern teuer war, schrieben die Mönche vor allem theologische, philosophische und juristische Texte. «Für alles andere war man einfach nicht bereit zu zahlen», sagt Roth. Deshalb stützen sich die ForscherInnen auch auf andere Quellen wie beispielsweise die Architektur des Mittelalters. «Die Pflanzen am Westportal des Basler Münsters etwa waren der damaligen Bevölkerung sicher bekannt.»

Pflanzen aus dem Nebensatz

Hermann Roth legt grossen Wert darauf, dass das mittelalterliche Wissen nicht unreflektiert in die heutige Zeit übernommen wird. Die Viersäftelehre gehört für ihn in die Vergangenheit. «Im Mittelalter setzte man den Aderlass anders ein als heute. Damals ging man nicht davon aus, dass es einen Blutkreislauf gibt.» Der Hildegard-Heilkunde steht der Biologe eher skeptisch gegenüber. «Es ist nicht zweifelsfrei bewiesen, dass die Schriften, die Hildegard von Bingen zugeschrieben werden, auch von ihr persönlich stammen.» Er wundere sich ausserdem, welche Bedeutung Hildegard-AnhängerInnen Pflanzen schenken, die in den Originalwerken höchstens in einem Nebensatz vorkommen. «Berücksichtigt man die technischen Vorraussetzungen der damaligen Zeit und die Pflanzen, die tatsächlich in Hildegards Umgebung gewachsen sind – da werden heutzutage wohl eher eigene Vorstellungen in die Überlieferungen reingedichtet», kritisiert er. Auch wenn Hildegard von Bingen eine imponierende Frau war: Ihre Stärke liegt für den Zisterzienser auf dem religiösen Gebiet.

Die Kritik an der Hildegard-Heilkunde ist dem Heilpraktiker Wighard Strehlow nicht fremd. Seine Konsequenz: «Mit Skeptikern setze ich mich meist gar nicht lange auseinander. Ich verwende meine Zeit und Energie lieber für die Erforschung und Verbreitung der Hildegard-Heilkunde.» Sie sei in seinen Augen sinnvoll, und er lebe selbst danach. Ausserdem kenne er viele schulmedizinische Studien, die die heilende Wirkung des Aderlasses beweisen.

Der Patientin auf der Liege lässt Strehlows Assistent rund 150 Milliliter Blut ab. Nach dieser Menge verfärbt sich das Dunkelrot in einen helleren Farbton – laut Strehlow das Zeichen, dass die Gifte ausgeleitet sind. Die Frau bestätigt prompt: «Nach dem Aderlass fühle ich mich immer wie neu geboren.» Sie kommt seit vielen Jahren in die Praxis am Bodensee und ist vom Nutzen der Therapie überzeugt. Schliesslich habe die Hildegard-Heilkunde auch ihrer Tochter geholfen, als die Schulmediziner nicht weiterwussten. Strehlow kennt viele solche Fälle. «Einige sind verunsichert, wenn sie vom Arzt kommen. Andere möchten mal eine andere Heilmethode ausprobieren.» Bis zu einer Stunde widmet er sich seinen einzelnen PatientInnen. Ausser zur Aderlasszeit: «Da kommen einfach zu viele.»


Die Viersäftelehre

Basis der Klostermedizin ist die Viersäftelehre. Sie besagt, dass den Elementen Luft, Feuer, Erde und Wasser vier Säfte im menschlichen Körper entsprechen: Blut (Luft), Gelbe Galle (Feuer), Schwarze Galle (Erde) und Schleim (Wasser). Die Viersäftelehre geht davon aus, dass im gesunden Körper ein Gleichgewicht zwischen diesen Säften herrscht. Jedem der Säfte ist ein Organ zugeordnet. So bezieht sich das Blut beispielsweise auf das Herz und der Schleim auf das Gehirn. Ausserdem besitzt jedes Organ und jeder Körpersaft bestimmte Qualitäten: Herz und Blut gelten als heiss und feucht, Gehirn und Schleim als kalt und feucht.

Sind die vier Säfte nicht im Gleichgewicht, wird der Mensch krank – so die Vorstellung. Um eine Erkrankung zu therapieren, empfahlen mittelalterliche HeilerInnen eine Arznei mit entgegengesetzter Wirkung. Gegen eine kalte und feuchte Krankheit zum Beispiel, bei der zu viel Schleim produziert wird, der dann durch die Nase vom Gehirn nach unten abfliesst, muss ein wärmendes und trockenes Mittel verabreicht werden – Thymian etwa oder Melisse.