Wehrpflicht: Das nächste Tabu

Nr. 14 –

Der Militärminister und sein Armeechef handeln kopflos, an der Basis laufen die Soldaten davon: Die Armee steckt tief in der Krise. Ein guter Moment für die GSoA, die allgemeine Wehrpflicht zu Fall zu bringen?


Als Ueli Maurer Ende 2008 neuer Verteidigungsminister wurde, jauchzte er vor Freude in die Pressemikrofone und versprach, «die beste Armee der Welt» auf die Beine zu stellen. Jetzt, anderthalb Jahre später, steht der SVP-Bundesrat vor einem Scherbenhaufen. Das Militärbudget wird vom Parlament Jahr für Jahr gekürzt, sodass Material und Immobilien inzwischen schwere Mängel aufweisen.

Damit nicht genug, sorgen Armeechefs wie Roland Nef oder André Blattmann entweder mit privaten Eskapaden oder mit pikanten Äusserungen für Kritik und Kopfschütteln. Blattmann etwa denkt eigenmächtig über den «WK auf Abruf» nach und skizziert Bedrohungskarten, auf denen europäische Länder wie Spanien, Frankreich, Italien oder Griechenland als Risikostaaten auftauchen. Der seit Jahren debattierte Kauf neuer Militärjets wird von Ueli Maurer selbst gebremst und von der Volksinitiative «Gegen neue Kampfflugzeuge» torpediert; und gegen die Tradition, das Armeegewehr zu Hause im Kleiderschrank aufzubewahren, steht die «Initiative gegen Waffengewalt» bereit. Auch an der Basis bröckelt der Wehrwille massiv: Die Zahl der Diensttauglichen sinkt, jene der Dienstabbrecher und Zivildienstler aber steigt. CVP-Ständerat Bruno Frick brachte es vor dem Parlament sorgenvoll auf den Punkt: «Der Armee laufen die Leute davon.»

Soldatenschwund

Und jetzt noch das: Der Vorstand der Gruppe Schweiz ohne Armee (GSoA) wird der Vollversammlung vom 17. April (vgl. unten «Schützenhilfe von links») beantragen, eine Initiative zur Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu lancieren. Wann mit der Sammlung der Unterschriften begonnen wird, hängt vom Sicherheitspolitischen Bericht ab, den Maurer längst vorlegen müsste. Je nachdem, wie der Kauf neuer Kampfflieger darin thematisiert wird, hält die GSoA an ihrer abstimmungsreifen Kampfjetinitiative fest oder zieht diese zurück, um sich ganz auf die Wehrpflichtabschaffung zu konzentrieren. «Die militärische Wehrpflicht bedeutet die Pflicht, das Töten zu lernen; deshalb ist sie grundsätzlich abzulehnen», begründet GSoA-Vorstand und Nationalrat Jo Lang (Grüne). Die Wehrpflicht aufzuheben sei auch die angemessene Reaktion auf die sinkende Wehrbereitschaft der jungen Männer. Doch anstatt sich grundsätzliche Gedanken zum zeitgemässen Zweck einer Armee zu machen, übten sich konservative PolitikerInnen und die Militärspitze in «Rückzugsgefechten»: Sie wollen den Zugang zum Zivildienst nach nicht einmal einem Jahr bereits wieder erschweren.

Erst seit 1996 gibt es in der Schweiz einen zivilen Ersatzdienst für Personen, die keinen Militärdienst leisten wollen (zuvor wurden Dienstverweigerer kriminalisiert). Zunächst war dafür ein aufwendiges Verfahren zu überstehen; Gesuchsteller mussten eine schriftliche Begründung einreichen und sich persönlich von einer Kommission durchleuchten lassen. Im April 2009 wurde diese Gewissensprüfung fallen gelassen – seither gilt der «Tatbeweis»: Der zivile Dienst dauert anderthalbmal so lange wie der militärische. Trotzdem schlagen immer mehr Dienstpflichtige diesen Weg ein; 2008 zählte man erst 1900 Zivildienstgesuche, im letzten Jahr waren es bereits 7200. Diese Entwicklung hat das Parlament veranlasst, den Bundesrat aufzufordern, das Zivildienstgesetz umgehend wieder zu verschärfen. «Wir wehren die Offensive der Militärköpfe auf den Zivildienst ab», kontert Jo Lang, «indem wir sagen: Nicht der Zivildienst ist das Problem, sondern die tiefe Krise der militärischen Wehrpflicht und der Armee überhaupt.»

Diese Krise hat verschiedene Facetten. Das beginnt bereits bei der «Wehrgerechtigkeit», welche die allgemeine Wehrpflicht suggeriert – demnach ist jeder Schweizer wehrpflichtig, Punkt. In der Realität aber drücken sich viele um den Dienst. Entweder sie brechen die Rekrutenschule ab; rund 17 Prozent der Einrückenden werden aus medizinischen oder psychischen Gründen entlassen. Oder sie beschaffen sich ein Arztzeugnis und lassen sich vorgängig ausmustern («blauer Weg»), was sie mit happigen Pflichtersatzzahlungen büssen. Laut Verteidigungsdepartement VBS liegt die Tauglichkeitsrate insgesamt zwischen 61 und 66 Prozent. Doch die Schwankungen nach Regionen sind enorm: Die Tauglichkeit variiert zwischen 40 Prozent (Basel-Stadt, 2004) und 84 Prozent (Appenzell Innerrhoden, 2009). Medizinische Gründe können eine solche Differenz nicht erklären – die Basler leben nicht dermassen viel ungesünder als die Appenzeller. Jo Lang vermutet, dass der Bildungsgrad den Ausschlag gibt: «Die Wehrpflicht gilt in der Schweiz nur noch für die Söhne aus Arbeiter-, Angestellten- und Bauernfamilien sowie für Secondos. Kinder aus besser gestellten und bildungsnahen Familien finden den blauen Weg viel leichter.»

Budgetschwund

Werden auch die zunehmende Zahl der Zivildienstler und Dienstabbrecher mitgerechnet, so ist es mit der allgemeinen Wehrpflicht nicht mehr weit her: «Insgesamt absolvieren nur noch vierzig Prozent der Stellungspflichtigen den Militärdienst bis zum Schluss», sagt GSoA-Sekretär Patrick Angele. Deshalb stelle die allgemeine Wehrpflicht nur mehr einen Mythos dar; nach der Armeeabschaffungsabstimmung von 1989 breche die GSoA jetzt auch dieses Tabu. «Die Armee hat als ‹Schule der Nation› längst ausgedient, die einst vermittelten Werte wie Disziplin und Gehorsam sind überholt», meint Angele. Dass sich die Schweiz derart schwertue, eine wirklich freie Wahl zwischen militärischem und zivilem Dienst zu gewähren, gründe in der «tiefen Angst, die konservative Kreise vor dem mündigen, freien Bürger haben», analysiert Angele. Jo Lang geht noch einen Schritt weiter: «Spätestens seit der Zeit der Geistigen Landesverteidigung hat das Militärische ein besonderes Gewicht in der Schweiz. Dies erklärt sich aus dem paradoxen Umstand, dass die Schweizer Armee militärisch eine eher marginale Rolle spielte. Umso grösser war die politische und gesellschaftliche Rolle.»

Neben der fehlenden Wehrgerechtigkeit und der überholten Mythenbildung sprechen auch profane Gründe für die Aufhebung der allgemeinen Wehrpflicht. So wird seit Jahren lamentiert, die Armeebestände seien zu gross, die Truppen müssten schlanker und günstiger werden. Heute leisten 120 000 Aktive und 80 000 Reservisten Dienst, laut Bundesrat Maurer würden bis ins Jahr 2020 nur mehr 80 000 Aktive und 40 000 Reservisten benötigt. Betrug das jährliche Armeebudget 1990 noch 5,13 Milliarden Franken, sind es 2010 rund eine Milliarde weniger. Der Armee fehlt es an vielem, selbst an Fahrzeugen, um die Soldaten sicher von der Kaserne zum Übungsplatz zu bringen. «Es gibt Soldaten, die mit Minenwerfern im Postauto auf den Susten fahren müssen, weil wir sie nicht transportieren können», beklagte Maurer im November 2009 vor der Presse und warnte: «Gebäude zerfallen zu Ruinen, vielen Fahrzeugen geht der Schnauf schneller als erwartet aus, weil sie zu häufig benutzt werden.» Und in einem Arbeitspapier zur Finanzierung der Armee heisst es schwarz auf weiss: «Stehen die notwendigen finanziellen Mittel nicht rechtzeitig zur Verfügung, droht ernsthaft eine ‹Verlotterung› und Zwangsschliessung von Immobilien und Standorten.»

«Um den Armeebestand und die Militärkosten massiv zu reduzieren, gibt es keine einfachere Methode als die Abschaffung der Wehrpflicht», sagt Nationalrat Lang dazu. Die Wehrpflicht binde personelle und finanzielle Ressourcen, die gescheiter für zivile Lösungen im In- und Ausland eingesetzt würden – denkbar sei ein freiwilliger Friedens-, Sozial- und Umweltdienst, der sowohl Männern, Frauen wie auch ausländischen MitbürgerInnen offenstünde. Die allgemeine Wehr- durch eine allgemeine Dienstpflicht zu ersetzen, hält Lang jedoch für keine gute Idee: «Eine allgemeine Dienstpflicht lehnen wir aus menschenrechtlichen und gewerkschaftlichen Gründen ab. Sie widerspricht dem Verbot von Zwangsarbeit durch die Europäische Menschenrechtskonvention. Und wenn zu viele Leute solche Dienste leisten, drücken sie die Löhne, wie das heute etwa im deutschen Gesundheitswesen bereits der Fall ist.»

Hinterherhinken

Die Krise der Schweizer Armee zeigt sich auch im Vergleich zur Situation in den europäischen Staaten. Pro Kopf der Bevölkerung leistet sich die Schweiz nach wie vor das grösste und teuerste Heer weit und breit. Die meisten Länder Europas haben die allgemeine Wehrpflicht abgeschafft oder sistiert. Warum ist das der Schweiz bisher nicht gelungen? Die Antwort kommt nicht von links, sondern von Karl W. Haltiner, der an der ETH Zürich Soziologie und Militärsoziologie lehrt: «Das Schweizer Volk ist und war in Militärfragen immer konservativ eingestellt. Darum hinken wir im positiven wie im negativen Sinn häufig hinter der europäischen Entwicklung her.» Der Militärexperte gibt sich aber zuversichtlich: «Ich würde die Prognose wagen, dass wir innert fünf Jahren die Wehrpflicht abschaffen», meinte er im Sommer 2008 gegenüber den Medien, schränkte dann aber ein: «Vielleicht dauert es noch ein paar Jahre länger.»

Beim Sparen sei die Schmerzgrenze erreicht, meint Haltiner, als Alternative komme nur eine verkleinerte Miliz mit etwa 25 000 Freiwilligen um einen Kern von etwa 5000 Profis in Frage. «Gemessen an den Kosten und den neuen Bedrohungen wäre das eine angemessene Wehrform», sagt Haltiner, der bei seinem Modell von einer Halbierung der Armeeausgaben ausgeht. Wer Militärdienst leisten will, meldet sich freiwillig für eine Vertragsdauer von fünf bis fünfzehn Jahren. Er bekommt eine Grundausbildung und verpflichtet sich, jährlich einen WK zu leisten, als zusätzliche Anreize gibt es einen Lohn sowie Krankenkassen- oder Steuerermässigungen. Die Freiwilligenmiliz würde wie heute nur mobilisiert, wenn man sie braucht – und die ungelösten Fragen der Wehrgerechtigkeit und der allgemeinen Wehrpflicht wären ein für alle Mal vom Tisch.


Schützenhilfe von links

An der Vollversammlung der GSoA im Hotel Kreuz in Solothurn am Samstag, 17. April, 10 Uhr, stehen die Initiativen «Gegen neue Kampfjets» und «Schutz vor Waffengewalt» im Zentrum. Zudem wird der Vorstand beantragen, eine Initiative zur Abschaffung der allgemeinen Wehrpflicht zu lancieren.

Dieses Anliegen vertritt auch die SP seit einem Grundsatzentscheid von 2001. SP-VertreterInnen haben im Parlament mehrfach die Aufhebung der Wehrpflicht gefordert, dafür aber bisher keine Mehrheit gefunden. Zurzeit ist eine Parlamentarische Initiative von SP-Nationalrätin Evi Allemann hängig, die ebenfalls darauf abzielt, den Vollzug der Wehrpflicht auf Gesetzesebene zu sistieren.

«Die SP will keine Profiarmee, sondern eine Freiwilligenmiliz», sagt Mediensprecher Andreas Käsermann auf Anfrage. Die Schweizer Armee sei «grotesk überrüstet» und weise im internationalen Vergleich viel zu hohe Bestände aus. Für die SP stehe aber die Initiative zur Wehrpflichtabschaffung im Moment nicht an erster Stelle, obwohl man politisch «zu hundert Prozent» hinter der Forderung stehe. Zunächst konzentriere man sich auf den Kampf für den Schutz vor Waffengewalt und gegen neue Kampfflugzeuge. Für die SP sei es wichtig, dass eine allfällige Initiative für die Aufhebung der Wehrpflicht «breit diskutiert und von einer breiten Koalition getragen werden müsste», meint Käsermann.

www.gsoa.ch