Langes Leben: Die Götter der Langlebigkeit

Nr. 16 –

In einem kleinen Dorf in Südchina werden die Menschen uralt. Sehr zur Freude der Forschung – und der internationalen Tourismusindustrie.


Falls er einst kein Bett mehr haben sollte, könne er ja notfalls darin schlafen, flachst Huang Pu Kang und zeigt auf die drei aufeinandergestapelten, verstaubten Holzsärge direkt neben dem Hühnerstall in seinem Schuppen. Er habe die drei Särge vor sieben Jahren gekauft. Einer sei für seine 101-jährige Mutter, einer für seine Frau und einer für ihn selbst, erklärt der 67-Jährige in seinem blauen Mao-Anzug.

Hier in Bapan im Herzen der südchinesischen Provinz Guangxi ist ein Sarg kein schlechtes Omen, sondern ein Glücksbringer. Denn «guan cai», das chinesische Wort für Sarg, erinnert an den traditionellen Glückwunsch «Sheng guan fa cai! – Mögest du einst wohlhabend und mächtig werden!». So ist im südchinesischen Kreis Bama und damit auch im 600-Seelen-Dorf Bapan, viereinhalb Busstunden vom Provinzhauptort Nanning entfernt, noch heute die Tradition weit verbreitet, seinen Liebsten rechtzeitig vor deren Ableben einen Sarg zu schenken.

Objekt der Altersforschung

So makaber es auch klingen mag: Mit der Anschaffung ihres Sarges müssten sich die BewohnerInnen von Bapan eigentlich überhaupt nicht beeilen. Die Menschen in diesem abgelegenen Flecken leben nämlich überdurchschnittlich lange. So lange, dass sie schon längst zum Objekt der Altersforschung geworden sind.

Wegen seiner vielen hochbetagten BewohnerInnen wird Bapan auch als Dorf der Langlebigkeit bezeichnet. Laut Huang Pu Kang gibt es in Bapan im Moment acht über Hundertjährige. Das grosse Hinweisschild mit den Porträts der sieben Dorfältesten (sechs Frauen!) am Ortseingang ist damit bereits überholt. Bapan ist jedoch nur eines von mehreren Dörfern im Kreis Bama, in dem die BewohnerInnen ungewöhnlich lange leben. Gemäss der fünften nationalen Volkszählung im Jahr 2000 waren 74 der insgesamt rund 240 000 EinwohnerInnen von Bama hundertjährig oder älter. Auf 100 000 EinwohnerInnen kommen damit 31 Hundertjährige – so viele wie kaum sonst wo auf der Welt. Zum Vergleich: In der Schweiz kamen bei der letzten Volkszählung im Jahr 2000 auf 100 000 EinwohnerInnen knapp 11 Personen, die hundertjährig oder älter waren. Nach Uno-Standard dürfen sich Orte mit dem Titel «Ort der Langlebigkeit» schmücken, in denen von 100 000 EinwohnerInnen 7,5 älter als hundert Jahre sind. Mit seinen 8 Hundertjährigen bei rund 600 EinwohnerInnen übertrifft Bapan diesen Standard gleich um ein Vielfaches. Zu den bekanntesten Orten ausserhalb Chinas, deren BewohnerInnen ebenfalls eine überdurchschnittlich hohe Lebenserwartung attestiert wird, zählen etwa Vilcabamba in Ecuador, die japanische Insel Okinawa oder Hunza in Pakistan.

Seit Jahren schon erforschen WissenschaftlerInnen die Gründe für dieses Phänomen. In der Stadt Bama, eine halbe Busstunde von Bapan entfernt, wurde hierfür extra ein Forschungsinstitut eingerichtet. Die günstigen natürlichen Bedingungen fernab der städtischen Zivilisation gelten als einer der Hauptgründe für die extrem hohe Lebenserwartung der Menschen in Bapan. Der Anteil negativer Sauerstoffionen in der Luft soll hier überdurchschnittlich hoch sein. Hinzu kommen das saubere Quellwasser sowie der Boden, der reich an wichtigen Spurenelementen wie Zink und Mangan ist. Der Mangangehalt im Haar der älteren Menschen in Bama soll zehnmal höher sein als der von EinwohnerInnen chinesischer Grossstädte wie Guangzhou oder Wuhan.

Als weiterer lebensverlängernder Faktor wird die fast ausschliesslich vegetarische Ernährung betrachtet. Auf dem täglichen Speiseplan der BewohnerInnen Bapans stehen hauptsächlich Gemüse, Mais, Bohnen, Süsskartoffeln, Hirse, Pilze und Huoma, ein Cannabisgewächs, das nur in den umliegenden Hügeln auf einer Höhe von rund 450 Metern wächst. Es sei wissenschaftlich bewiesen, dass Huoma nicht nur den Blutdruck und den Cholesterinspiegel senke, sondern auch krebsvorbeugend wirke, sagt Huang Cheng, der Wirt eines Restaurants im Dorfkern. Zum Essen empfiehlt er eine Langlebigkeitssuppe aus Huoma zusammen mit einem Gläschen selbstgebrannten Reisschnaps auf Heilkräuterbasis. Die Cannabissuppe und der Schnaps seien ein Grund, warum die Menschen hier so alt würden, beteuert Huang Cheng. Auch die lebenslange Feldarbeit, der geregelte Lebensablauf sowie das frohe Gemüt der BapanerInnen werden von den WissenschaftlerInnen als lebensfördernd eingestuft.

Die Feng-Shui-Landschaft

Für Huang Pu Kang hat die Langlebigkeit der Einheimischen nicht zuletzt mit Feng-Shui zu tun. Von seinem Balkon aus zeigt er auf drei Berge, die auf der gegenüberliegenden Seite des Dorfes wie Schuttkegel in die Höhe ragen: «Siehst du die Berge dort drüben? Sie sehen aus wie das chinesische Schriftzeichen für Berg [?]. Und die beiden Inseln dort unten im Fluss zwischen diesen Bergen und unserem Dorf sehen von oben betrachtet aus wie ein Fisch und ein Bambusfloss.» Diese spezielle Konstellation würde sich positiv auf sein Dorf auswirken, ist der 67-Jährige überzeugt. Um sicher zu gehen, dass ich ihn auch ja richtig verstanden habe, zeichnet er seine Feng-Shui-Theorie auch gleich noch in meinen Notizblock. Seine 101-jährige Mutter sitzt mit versteinerter Miene daneben. Für Feng-Shui scheint sie sich nicht mehr zu interessieren.

Die 104-jährige Huang Ma Gan hat nicht mehr die Kraft, um das Buch über Bapan, das ich von ihr gekauft habe, selber zu signieren. Mit leiser Stimme gibt sie mir zu verstehen, dass ich ihre Hand beim Schreiben führen muss. Eine Seh- oder Gehhilfe benötigt die zierliche Seniorin jedoch nicht. Einzig ihr Gehör scheint sie von Zeit zu Zeit im Stich zu lassen. Während mein Trommelfell fast platzt, als einige Meter von uns entfernt urplötzlich ein Feuerwerkskörper detoniert, verzieht Huang Ma Gan keine Miene. Ob sie denn gelegentlich noch auf dem Spinnrad arbeite, will ich von ihr wissen. Ja, antwortet die 104-Jährige, aber heute sei es zu kalt dafür.

Umschlag mit Kleingeld

Als Huang Ma Gan auf die Welt kam, war China noch ein Kaiserreich. Huang Buxin, der eigentliche Star des Dorfs, ist noch älter. Der 111-Jährige wurde nur fünf Jahre nach Mao Zedong geboren. Er hat drei Jahrhunderte erlebt und fünf seiner sieben Kinder überlebt. Schwere Reisigbündel oder UrenkelInnen wie auf den Bildern an der Wand hinter ihm trägt Huang Buxin inzwischen keine mehr auf seinem Rücken. Er füttere jeden Tag nur noch die Hühner, nehme den Boden auf und gehe spazieren, erklärt eine seiner Verwandten.

Die meiste Zeit jedoch sitzt das Bapaner Urgestein auf seiner Sitzbank im Wohnzimmer und wartet auf Besuch – und der kommt in immer grösserer Zahl: Während Bapan im Ausland noch nahezu unbekannt ist, ist es in China längst zu einer Touristenattraktion geworden. Selbst im fernen Beijing bieten Reisebüros Touren nach Bama an, die auch einen Kurzbesuch in Bapan beinhalten. Sie mache mit ihrer Reisegruppe jeweils eine knappe Stunde in Bapan halt und besuche einen Hundertjährigen und eine Hundertjährige, sagt die junge Reiseführerin Huang Meng Ji.

Die meisten, die hierherkommen, wollen mehr über das Geheimnis der Langlebigkeit erfahren. Insgeheim hoffen wohl nicht wenige, dass sich die Begegnung mit den Hundertjährigen positiv auf ihr eigenes Alter auswirken wird. Die Reiseunternehmen tragen dieser Hoffnung Rechnung, indem sie ihren KundInnen empfehlen, den greisen RentnerInnen einen roten Umschlag mit etwas Kleingeld zu schenken. In China werden hochbetagte SeniorInnen oft auch ehrfürchtig als «Lao Shou Xing – Gott des langen Lebens» bezeichnet. Das kleine Geldgeschenk soll sowohl den EmpfängerInnen als auch den GeberInnen Glück bringen.

«Ausländer, Ausländer!»

Huang Buxin und die anderen über Hundertjährigen sind leicht zu finden. An ihren Häusern ist wie bei den Gehegen im Zoo eine Informationstafel mit Name, Alter, Geburtsdatum und Geschlecht des jeweiligen Bewohners angebracht. Bedenken, dass sich der Rummel negativ auf die «Götter des langen Lebens» auswirken könnte, hat Reiseleiterin Huang Meng Ji nicht. Der Alterstourismus in Bapan sei eine glückliche Fügung des Schicksals, meint gar Herr Xu, ein Tourist aus Guangdong. Nicht nur die TouristInnen, sondern auch die Alten seien darüber glücklich, betont er.

Zumindest auf Huang Buxin scheint dies zuzutreffen. Jedes Mal, wenn eine Gruppe TouristInnen auftaucht, wirkt Bapans Methusalem freudig erregt. «Yang ren, yang ren! – Ausländer, Ausländer!», hallt es gleich mehrmals aus ihm heraus, als er mich sieht. Mit funkelnden Augen bittet er mich sofort, neben ihm Platz zu nehmen. Danach streicht er mir mehrmals lachend übers Haar, als ob er mir den Segen erteilen wollte.

Für Bapan sind Huang Buxin und die anderen sieben Hundertjährigen ein wahrer Segen. Bis in die neunziger Jahre zählte die Gegend um das Dorf zu den rückständigsten Regionen des Landes. Inzwischen ist von Armut im Dorf nichts mehr zu spüren. Die alten Hütten sind nahezu verschwunden. Überall wird gebaut. Mehrstöckige neue Häuser wie jenes von Huang Buxin sind die Regel. Kein Zweifel: Die Einnahmen aus den Geldumschlägen und der Erlös aus dem Verkauf von Souvenirs wie Langlebigkeitsöl, -tee und -schnaps oder von Büchern über das Geheimnis ihrer Langlebigkeit haben den DorfbewohnerInnen zu bescheidenem Wohlstand verholfen.

Ein Ende des Alterstourismus ist in Bapan nicht in Sicht – auch nach dem Ableben der jetzigen «Götter des langen Lebens» nicht. Dafür sorgen wohlhabende ChinesInnen wie Bauingenieur Yi aus Shenzhen oder sein Freund Sun, ein pensionierter Pilot aus Dalian. Die beiden sind nicht wegen der Hundertjährigen nach Bapan gekommen, sondern um hier zu kuren. Er sei im Jahr 2006 wegen Gewichtsproblemen und zu hohem Blutdruck zum ersten Mal nach Bapan gekommen, sagt der 71-jährige Sun. Bereits nach einem Monat sei sein Blutdruck wieder normal gewesen.

Inzwischen lebt Sun fast das ganze Jahr über in Bapan. Zusammen mit Freunden hat er am Dorfeingang ein Wohnhaus gebaut. Die Inhaber der sechzehn Wohnungen kommen aus ganz China. Vor dem Haus parkt unter anderem ein Wagen mit Beijinger Nummernschild. Laut Sun kommen nicht nur Leute vom Festland, sondern auch aus Hongkong, Taiwan, Singapur, Frankreich und Australien regelmässig zur Erholung nach Bapan.

Er habe hier ohne jegliche Diät binnen eines Jahres um vierzehn Kilo abgespeckt, beteuert Sun. Durch die gute Luft und das spezielle Wasser würde sich der Gesundheitszustand in Bapan automatisch verbessern. Auch sein Freund Yi schwört auf die Heilwirkung des Bapaner Quellwassers: Warum, wisse er zwar nicht genau, aber sogar Öl würde sich in diesem Wasser auflösen! Er kehre jedes Mal mit zehn Gallonen Quellwasser im Kofferraum nach Shenzhen zurück.

Touristische Grossprojekte

Der Lokalregierung ist dieser neue Trend nicht entgangen. In der Umgebung von Bapan sind gleich mehrere touristische Grossprojekte geplant. 350 Millionen US-Dollar sollen investiert werden, um Bama in ein Paradies für Erholungsbedürftige zu verwandeln. Paris gehöre den Jungen, Bapan sei für die Alten, witzelt Sun. Ob Huang Buxin und die anderen «Götter des langen Lebens» den Ausbau ihrer Heimat zu einem internationalen Kurort noch erleben werden, ist fraglich, aber nicht unwahrscheinlich: Bereits im 19. Jahrhundert gab es in Bama einen Mann, dem der Kaiser zum 142. Geburtstag gratulieren durfte.