Klima: Schluckt der Wald das CO2?

Nr. 15 –

Wer Emissionen kompensieren will, unterstützt meist Klimaschutzprojekte im Globalen Süden. Neu soll es auch Zertifikate aus dem Schweizer Wald zu kaufen geben. Ist das sinnvoll?

  • Wächst schnell und lässt sich vielfältig verwenden, verträgt die Hitze aber schlecht: Der einstige Modebaum Rottanne in einer Waldlichtung bei Sainte-Croix im Waadtländer Jura. Die Bilder sind Teil der Serie «Lichtungen» des Fotografen Alexander Jaquemet. Foto: Alexander Jaquemet
  • Es wäre kontraproduktiv, den Wald überall sich selbst zu überlassen: Lichtung am Flüsschen Areuse. Foto: Alexander Jaquemet

Besonders schön ist er nicht, der Wald, durch den wir gerade fahren. Die Fichten stehen dicht an dicht, alle gleich alt. «Das ist so eine ärgerliche Aufforstung aus den fünfziger oder sechziger Jahren», sagt Förster Mark Hunninghaus. «Entschuldigung für die Wortwahl – ich weiss, damals war das wirtschaftlich sinnvoll. Aber heute ist dieser Wald total instabil.»

Überall Fichten

Hunninghaus leitet den Forstbetrieb Bucheggberg, der die Wälder auf dem lang gezogenen Hügelrücken südwestlich von Solothurn bewirtschaftet. Wie viele FörsterInnen muss er mit dem Waldbau von längst verstorbenen Vorgängern zurechtkommen, für die vor allem eins im Vordergrund stand: der Holznutzen. Man pflanzte grossflächig Fichten, umgangssprachlich Rottannen genannt: Sie wachsen schnell, und ihr Holz lässt sich vielfältig verwenden. Dass die Fichte im Schweizer Mittelland von Natur aus nur selten vorkommt – hier dominierte einst die Buche – und die Nutzwälder eintönig aussehen, störte damals kaum jemanden.

Inzwischen hat sich die Schweizer Forstwirtschaft verändert. Ökologische Fragen sind wichtiger geworden: Förster Hunninghaus fördert Lebensräume von Gelbbauchunken und Hermelinen. Und vor allem: Die Fichte leidet. Sie erträgt die Klimaerwärmung schlecht, die heissen Sommer, die längeren Trockenperioden. Auch Stürmen wie der letztjährigen «Burglind» ist sie nicht gut gewachsen – und liegen erst einige Fichten am Boden, vermehren sich die Borkenkäfer. «Unser Ziel ist, solche Monokulturen in vielfältige Bestände zu überführen», sagt Hunninghaus. Das ist Alltag für den Förster. Daneben plant er Grosses, zusammen mit dem Solothurner Waldeigentümerverband (BWSO): ein Klimaprojekt im Forstrevier Bucheggberg, das später auf den ganzen Kanton Solothurn, vielleicht sogar die ganze Schweiz ausgeweitet werden könnte. Dazu soll der Wald mindestens dreissig Jahre lang so bewirtschaftet werden, dass der Holzvorrat wächst. «Wir werden weniger Holz ernten, als wir nachhaltig könnten.» Denn wenn Waldbäume wachsen, nehmen sie CO2 aus der Luft auf und lagern es als Kohlenstoff im Holz und im Boden ein. Sie sind eine Senke, wie es im Fachjargon heisst. Der BWSO will die Senkenfunktion seines Waldes zertifizieren und die Zertifikate an Firmen verkaufen. Diese können damit ihren CO2-Ausstoss kompensieren. Das Interesse am neuen Verein Wald-Klimaschutz Schweiz, der im Mai gegründet wird, ist gross: «Aktuell liegen uns die Zusagen von fünf Forstbetrieben sowie drei Verbänden vor.»

Es gehe darum, die Klimaleistung des Waldes in Wert zu setzen, sagt Mark Hunninghaus. «Die Gesellschaft hat einen enormen Nutzen vom Wald und der Waldbewirtschaftung» – ein Nutzen, der aber kaum abgegolten werde. «Wir produzieren nicht nur Holz, wir fördern auch die Biodiversität, pflegen den Wald als Erholungsraum, vierzig Prozent der Grundwasserreserven liegen im Wald – da kommen so viele Interessen zusammen.»

Holzbau als Klimaschutz

Um CO2 zu vermindern, kann man entweder den Ausstoss reduzieren oder versuchen, das Gas aus der Luft zu entfernen. Wer Wälder so pflegt, dass sie als Senke dienen, macht Letzteres – eigentlich ganz ähnlich wie die Zürcher Firma Climeworks, die in Island CO2 aus der Luft filtert, in Wasser pumpt und zu Kalkstein werden lässt (siehe WOZ Nr. 5/2019 ). Mit zwei wesentlichen Unterschieden: Im Wald braucht es keine teuren Maschinen, um das CO2 aus der Luft zu holen. Die Bäume machen das gratis. Allerdings ist das Endprodukt, Holz, längst nicht so stabil wie Stein: Wenn ein Baum verrottet, geht ein grosser Teil des Kohlenstoffs, den er aufgenommen hat, wieder in die Luft. Ein heftiger Sturm wie «Lothar» reicht, und der Wald wird von der CO2-Senke zur CO2-Quelle: Dann liegt so viel Holz am Boden, dass die Forstleute nicht mehr nachkommen – zur Freude der Borkenkäfer. Der BWSO hat dieses Risiko berücksichtigt: «Wir werden bewusst nicht von allen beteiligten Waldflächen Zertifikate verkaufen», erklärt Patrick von Däniken, Forstingenieur und Geschäftsführer des BWSO. Die «überzähligen» dienen als Puffer, quasi als Versicherung bei einem Schadensereignis. «Ein Sturm trifft nie die ganze Region gleich.»

Doch ist es bei so grossen Unsicherheiten überhaupt sinnvoll, auf den Wald als Kohlenstoffspeicher zu setzen? Eine gute Nachricht kommt von der Eidgenössischen Forschungsanstalt für Wald, Schnee und Landschaft (WSL). Frank Hagedorn, WSL-Spezialist für Waldböden, sagt: «Lange dachte man, dass ein Wald ab einem gewissen Alter im Gleichgewicht ist, also kein zusätzliches CO2 mehr aufnimmt. Neue Messungen zeigen aber, dass auch alte Wälder noch CO2 aufnehmen.» Ob das irgendwann aufhöre, wisse man noch nicht: «Wir haben in Europa kaum wirklich alte Wälder.»

Hagedorn betont aber auch: «Wald ist eine temporäre, endliche Senke.» Und das Potenzial der Schweizer Wälder, CO2 zu binden, sei nicht riesig: Er schätze es auf fünf Prozent der Treibhausgasemissionen. «Holz zu nutzen, hat wohl insgesamt die beste Klimawirkung.»

Was Hagedorn hier anspricht, ist entscheidend für die Beurteilung von Senkenprojekten im Wald: Vieles spricht dafür, Wälder älter werden zu lassen – das speichert nicht nur Kohlenstoff, sondern fördert zum Beispiel auch seltene Holzkäfer. Aber vieles spricht auch für das Gegenteil: die Wälder intensiver zu nutzen, mehr Holz zu schlagen als in den letzten Jahrzehnten. Denn die Schweiz deckt nicht einmal die Hälfte ihres Holzverbrauchs selbst (vgl. «Hier fällen statt anderswo plündern» ). Und Holz aus naturnah bewirtschafteten Wäldern spielt eine zentrale Rolle in einer ökologischeren Wirtschaft: Im Hausbau kann es klimaschädliche Baustoffe zumindest teilweise ersetzen – die Zementproduktion verursacht rund acht Prozent der weltweiten CO2-Emissionen, mehr als der Flugverkehr. Kommt dazu: Holzbauten und -möbel werden im Idealfall mehrere Hundert Jahre alt, der Kohlenstoff bleibt in dieser Zeit gebunden – während im Wald, aus dem das Holz stammt, neue Bäume nachwachsen. Ausserdem können Holzheizungen Öl- und Gasbrenner ersetzen, also helfen, von den fossilen Brennstoffen wegzukommen. «Wenn wir die Dekarbonisierung ernst nehmen, müssen wir das Potenzial des Waldes möglichst ausnutzen – ohne ihn zu übernutzen», sagt denn auch Harald Bugmann, Professor für Waldökologie an der ETH Zürich.

Hagedorn und Bugmann sind sich einig: Das Beste ist die sogenannte Kaskadennutzung. Dabei wird Holz zuerst als Bau- und Werkstoff gebraucht und am Schluss noch für die Energiegewinnung verbrannt.

Ohne Pflege geht es nicht

Auch die Initianten des Klimaprojekts Bucheggberg betonen, dass die Holznutzung wichtig sei. «Es wäre falsch, den ganzen Schweizer Wald zum Reservat zu machen und alles Holz zu importieren», sagt Patrick von Däniken. «Es wäre verwerflich!», pflichtet Mark Hunninghaus bei.

Die beiden zeigen ein Stück des Forstreviers, in dem das Projekt beginnen soll. Am Waldrand oberhalb von Küttigkofen öffnet sich der Blick weit nach Süden. Eiger, Mönch und Jungfrau leuchten im grellen Frühlingslicht. Aber auch hier: zu viele Fichten. Am Waldrand wachsen schon einige kleinere Eichen und andere Laubbäume. «Wir entfernen immer wieder einzelne Fichten, bringen Licht auf den Boden», erläutert Hunninghaus. Viele Fichten auf einmal zu schlagen, würde hingegen neue Probleme schaffen: «Dann wird der Boden viel wärmer, setzt Nährstoffe frei, und Brombeeren überwuchern alles. Man muss subtil vorgehen.»

Was Hunninghaus anspricht, ist wichtig für das Klimaprojekt: Pflege ist nötig. Es wäre kontraproduktiv, den Bucheggberger Wald sich selbst zu überlassen mit der Erwartung, er binde dann optimal CO2. In den nächsten Jahrzehnten würden die überforderten Fichten grossflächig absterben – und damit wie nach einem Sturm zur CO2-Quelle werden.

Hunninghaus und von Däniken nehmen ihr Projekt sehr ernst, das spürt man. Förster Hunninghaus achtet darauf, dass das Klimaprojekt auch die Abgase der eigenen Forstfahrzeuge neutralisiert – diese Zertifikate werden nicht verkauft, sondern intern verrechnet.

Doch bei aller Sorgfalt – ein Problem lässt sich nicht aus der Welt schaffen: der sogenannte Rebound-Effekt. Ein Firmenchef, der Zertifikate kauft, um Emissionen seiner Firma zu kompensieren, entlastet sein Gewissen – und fühlt sich schon «klimaneutral», obwohl er es de facto nicht ist.

«Firmen sollen nur Emissionen kompensieren, die sie nicht vermeiden können», sagt Hunninghaus und gibt ein Beispiel: «Ein Ferienflug nach Barcelona ist vermeidbar. Bei der Holznutzung entstehen dagegen nicht vermeidbare Emissionen, zum Beispiel von Fahrzeugen und Motorsägen. Optimieren – substituieren – kompensieren. Das muss die Reihenfolge sein.» Der BWSO möchte nur Firmen Zertifikate verkaufen, die nach dieser Philosophie wirtschaften. Hunninghaus räumt aber ein: «Kontrollieren können wir das nicht.»

Die grosse Frage bleibt: Was heisst «nicht vermeidbar»? Eine Firma könnte zum Beispiel für ihren Fahrzeugpark Zertifikate kaufen, sagt Hunninghaus. Doch ein solches Vorgehen riskiert, klimaschädliche Strukturen zu zementieren, statt sie wirklich zu hinterfragen: Warum basieren die heutigen Wirtschaftsstrukturen auf so vielen unsinnigen Transporten? Und ist das, was die Firma herstellt, überhaupt kompatibel mit den Klimazielen?

«Bequeme Schweiz»

Was für Firmen dank BWSO bald möglich wird, macht der Schweizer Staat schon lange im grossen Stil: Er kompensiert einen Teil seiner Emissionen, indem er die Senkenleistung der hiesigen Wälder mitrechnet. Im Rahmen des Kyoto-Protokolls hat die Schweiz versprochen, ihren CO2-Ausstoss bis 2012 im Vergleich zu 1990 um acht Prozent zu reduzieren. Real hat sie aber nur gut halb so viel eingespart: Fast vierzig Prozent ihrer Reduktionsverpflichtung hat man den Wäldern angerechnet.

«Das war von Anfang an fragwürdig und ein falsches Signal», sagt ETH-Waldökologe Harald Bugmann. «Man sollte zuerst die Emissionen so weit wie möglich reduzieren, bevor man Senken in Betracht zieht. Die Senken sollten nicht zuerst, sondern zuletzt kommen. Die Schweiz hat einen sehr bequemen Weg gewählt.»

Bald läuft Kyoto aus. Das Parlament wird frühstens in der Herbstsession wieder über das neue CO2-Gesetz streiten. Der Bundesrat möchte die Senkenleistung des Waldes auch in Zukunft anrechnen, wie er in der Botschaft zum neuen Gesetz schreibt. Details sind noch unklar. Darüber hinaus soll weiterhin ein Teil der Schweizer Emissionen im Ausland kompensiert werden – gestritten wird nur über den Anteil. Obwohl Kompensieren grundsätzlich nicht zum Pariser Klimaabkommen passt: Um eine katastrophale Klimaerhitzung abzuwenden, muss das Verbrennen von fossilen Brennstoffen ganz aufhören. Da gibt es nichts mehr zu kompensieren.

«Wir lösen mit unserem Projekt das Klimaproblem nicht», sagt Förster Mark Hunninghaus. «Wir schaffen nur einen temporären Puffer.» – «Die Politik muss Drastischeres beschliessen», ergänzt Patrick von Däniken.

Die Frage bleibt, ob auch dieser unbequeme Teil der Botschaft aus dem Solothurner Wald ankommt. Oder ob viele nur das hören, was sie hören wollen: Der Wald nimmt unser CO2 auf – also können wir weitermachen wie bisher.

Wald und Holz in der Schweiz : Beschränkter Raubbau

Fast ein Drittel der Schweiz ist bewaldet. Allerdings ist der Wald ungleich verteilt: Im Jura und auf der Alpensüdseite bedeckt er die Hälfte der Fläche, im Mittelland nur knapp ein Viertel. Dass die Schweizer Waldfläche zunimmt, hat mehrere Gründe. In den Alpen und auf der Alpensüdseite wachsen ehemalige Wiesen und Weiden zu. Dazu kommt das strenge Waldgesetz: Für jede Rodung muss anderswo aufgeforstet werden.

Die häufigste Baumart ist die Fichte (Rottanne) mit 44 Prozent, gefolgt von der Buche mit 18 und der Weisstanne mit 15 Prozent. Mehr als zwei Drittel der schweizerischen Waldbäume sind Nadelbäume. 71 Prozent des Schweizer Waldes gehören der öffentlichen Hand, vor allem Bürger- und politischen Gemeinden.

Bis ins 19. Jahrhundert waren viele Schweizer Wälder in einem schütteren Zustand. Der hohe Brennholzbedarf für Industrie und Heizungen setzte ihnen zu; ausserdem trieben viele BäuerInnen ihre Tiere zum Weiden in den Wald. Das «Forstpolizeigesetz für das Hochgebirge» von 1876 und folgende Gesetze beschränkten den Raubbau dann radikal. Noch mehr zur Entlastung der Wälder trugen Kohle, Erdgas und Öl bei – kurzfristig gut für den Wald, langfristig katastrophal fürs Klima. Seit Jahrzehnten wächst in den Schweizer Wäldern mehr Holz nach, als geerntet wird. Die Schweiz verbraucht jährlich elf Millionen Kubikmeter Holz und Holzprodukte, davon stammt nicht einmal die Hälfte aus Schweizer Wäldern.

Die Klimaerhitzung bringt den Wald unter Druck: Viele Baumarten ertragen die heisseren Sommer und längeren Trockenperioden schlecht. Letztes Jahr starben auf den Beobachtungsflächen, die mehrere Kantone zusammen betreuen, so viele Buchen ab wie noch nie. Auch die Überdüngung macht dem Wald zu schaffen: Stickstoff aus der Landwirtschaft und Verbrennungen landet über die Luft im Wald, versauert die Böden und führt zu einer unausgewogenen Ernährung der Pflanzen.  

Bettina Dyttrich

Quellen: Zeitschrift «Die Umwelt» und «Jahrbuch Wald und Holz» des Bundesamts für Umwelt (Bafu), www.bafu.admin.ch/bafu/de/home/themen/wald/publikationen-studien/publik….