Fussball-WM 2010: Der Fluss ist das Ziel
Spaniens Spielweise sorgt dafür, dass sich Kollektiv und Individuum gegenseitig zur Entfaltung bringen. Eine Würdigung.
Es hat also doch der fantasievolle Fussball gewonnen. Die Kommentatoren, die sich über das «ewige Ballgeschiebe» des neuen Weltmeisters nervten, haben die tiefere Schönheit des spanischen Spiels übersehen: die Beiläufigkeit vergebener Torchancen; die stete Verwandlung des Raums, die Kunst vorübergehender Verlangsamung – das Gegenteil eindimensionalen Konterfussballs.
Es gab Phasen, in denen man hätte vergessen können, dass diese Stafetten ja eigentlich einen erfolgreichen Torabschluss zum Ziel haben sollten. Gleichzeitig war es oft dieses scheinbare L’art pour l’art, das den Umweg zum entscheidenden Abschluss bahnte. Mit ruhig fliessenden Handbewegungen signalisierte Trainer Vicente del Bosque: Die stete Rotation, der Fluss ist das Ziel.
«Als Menschen zu wachsen»
Gewonnen hat das Team mit den meisten Ballkontakten, den direktesten, schnellsten Zuspielen – die Mannschaft, die den Ball am besten laufen liess.
Diese Spielweise ist die Weiterführung dessen, was César Luis Menotti, der Trainer der argentinischen Auswahl, die 1978 Weltmeister wurde, als «linken Fussball» bezeichnete: eine Spielart, bei der es nicht allein darum geht, zu gewinnen, sondern auch darum, «Freude zu empfinden, ein Fest zu erleben, um als Menschen zu wachsen» (Menotti). Ein Spiel, das sich dadurch auszeichnet, dass sich Kollektiv und Individuum gegenseitig zur Entfaltung bringen.
Der Grundidee treu bleiben
Man könnte diese Spielweise auch als Weiterentwicklung der Schule des FC Barcelona unter erschwerten Umständen verstehen: kein permanenter Spielrausch, sondern eine leicht unterkühlte Version des variablen Kurzpassspiels; realistische Poesie als positive Antwort auf die immer ausgeklügelteren Abwehrstrategien und Raumdeckungssysteme, die in den letzten Jahren Schule gemacht haben. Die Ausgangsfrage, die zu dieser Spielweise führte, lautete weniger: Welche Taktik legen wir uns zurecht, um diesen Gegner zu besiegen? Sondern: Zu welchen neuen Formen kommen wir, wenn wir versuchen, unserer Grundidee auch gegenüber Defensivmannschaften mit einstudierten Kontern treu zu bleiben?
Dass die spanische Auswahl den Titel holte, war aber nur möglich, weil sie in besonderen Situationen die elegante Poesie mit wuchtigem Realismus ergänzte: Das entscheidende Kopftor von Carles Puyol im Halbfinal gegen Deutschland gehört zu den Szenen dieser WM, die auch nach Jahren im kollektiven Gedächtnis bleiben werden.
Dieser poetische Realismus wurde nicht auf dem Reissbrett entworfen, sondern entsteht immer wieder von neuem aus dem Spiel selbst. Kein starres System, das zum Erfolg geführt hat, sondern die Verfeinerung des Spiels unter erschwerten Umständen – aus den unendlichen Möglichkeiten immer wieder neuer Situationen. Xavi Hernandez, der Spieler mit den meisten Ballkontakten, dazu in einem Interview in «El País»: «Bei Barcelona habe ich das Selbstvertrauen bekommen, um nicht unbedingt verstehen zu müssen, warum ich die Pässe so spiele, wie ich sie spiele.»
Plötzlich ein offener Raum
Xavi sagte auch noch: «Haben Sie die Spieler Paraguays gesehen? Keinen einzigen Meter schenkten sie uns! Keine einzige Sekunde! In der Mitte des Spielfelds gibt es keinen Platz. Keinen einzigen Meter! Eine Ballkontrolle ist praktisch unmöglich. Seit die WM begonnen hat, bin ich noch kaum zum Denken gekommen.»
Besser kam man es kaum auf den Punkt bringen: Fussball kann man nicht denken, man kann ihn nur spielen. Die besondere Spielintelligenz eines Xavi ist das beste Beispiel dafür. Während des ganzen Turniers hat er genau ein Foul begangen. Pro Spiel hat er rund hundert Pässe geschlagen. Dabei landeten über achtzig Prozent in den Füssen eines Mitspielers. Sein Repertoire scheint unerschöpflich, seine Fantasie versteckte sich immer wieder in mannschaftsdienlicher Unscheinbarkeit und verschwand in der Enge des Raums.
Oft spielte Xavi einen zunächst harmlos erscheinenden Pass, der sich erst im Nachhinein als entscheidende Richtungsänderung herausstellte, die einige Pässe später zur nächsten Torchance führte. Häufig spielte er genau dort hin, wo man es nie erwartet hätte und wie es (bislang) in keinem Lehrbuch steht – nicht in den bei Ballabgabe offenen Raum, sondern in eine riskante Zone, in der sich Spieler beider Mannschaften fast schon auf den Füssen standen. Und plötzlich, nach zwei, drei schnellen Kombinationen: ein neuer Raum.
So, wie es die individuellen Fähigkeiten der Spieler sind, die ein Kollektiv erst wirklich lebendig machen, so ist es diese Art eines Kollektivs, in dem sich die individuellen Fähigkeiten der einzelnen Spieler erst wirklich entfalten – und damit auch die Fantasie.
Es gewann die Mannschaft, die am wenigsten foulte und am meisten gefoult wurde.