Banalität des Bösen: «Was ist Ihre innerste Absicht?»

Nr. 32 –

Ein Briefwechsel erlaubt, das Konzept von Hannah Arendts Kritik der totalen Herrschaft neu zu überdenken.


Hannah Arendts Bericht «Eichmann in Jerusalem» löste 1963 einen Empörungssturm aus. Die 1933 nach Frankreich und 1941 in die USA geflüchtete deutsch-amerikanische Philosophin prägte darin den Begriff der «Banalität des Bösen».

Adolf Eichmann, Logistiker der nazistischen Judenvernichtung, vom israelischen Geheimdienst aus Argentinien entführt, in Jerusalem vor Gericht gestellt, verurteilt und hingerichtet, wurde von Arendt nicht als «Monster» oder «eiskalter Vernichtungsfanatiker», sondern als Bürokrat begriffen, dessen Funktionieren fürs Naziregime die erschreckende Normalität einer totalitären Herrschaft dargestellt habe. Arendt setzte sich aber auch kritisch mit der israelischen Prozessführung auseinander, die eine Chance verpasst habe, eine Rechtsprechung zur Verfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit zu begründen. Und sie kritisierte die Vertreter der jüdischen Gemeinden in Deutschland nach 1933 sowie die Zuarbeit der von den Nazis in Gemeinden, Ghettos und Konzentrationslagern eingesetzten «Judenräte» zur Schoah.

Auf den Punkt gebracht

Jetzt veröffentlicht die Hamburger Zeitschrift «Mittelweg 36» einen Briefwechsel zwischen Arendt und der israelischen Historikerin Leni Yahil, die sich damals über Arendts Analyse entzweiten. Die fünfzehn Briefe enthalten keine Enthüllungen oder neuen Argumente, aber sie bringen die damalige Debatte auf den Punkt und zeigen deren Aktualität.

Die beiden lernten sich im April 1961 in Jerusalem kennen. Yahil arbeitete an einer Studie über die Deportation der Jüdinnen und Juden aus Dänemark, während Arendt einigen Sitzungen des Eichmann-Prozesses beiwohnte. Nach Arendts Rückkehr in die USA wird in den ersten Briefen freundschaftlich und wissenschaftlich geplaudert. Beiläufig begründet Yahil ihre Identifizierung mit dem neuen jüdischen Staat, während Arendt skeptisch bleibt gegenüber dem Zionismus.

Dann liest Yahil im März 1963 die zuerst in der US-Zeitschrift «New Yorker» erschienenen Artikel von Arendt über den Eichmann-Prozess, und ihr Ton gefriert. Arendts Analyse begreift sie als «Angriff» auf die jüdische Sache, der sie «zwingt», eine Frage zu stellen: «Was war, rsp. ist, Ihre eigene innerste Absicht, die Sie mit diesen Artikeln verfolgen? Wem glauben Sie damit zu dienen: der historischen Wahrheit? Der Gerechtigkeit? Der Gegenwart oder der Zukunft des deutschen oder des jüdischen Volkes? Oder wollen Sie speziell von dem Letzteren beweisen, dass es nicht wert ist oder geeignet ist, als Volk unter den Völkern zu existieren?» Darin zeigt sich ein bekannter Mechanismus: Kritik an israelischer Politik wird als Fundamentalkritik am Judentum verstanden, gar des Antisemitismus verdächtigt.

Missverständnisse

Arendts Eichmann-Buch ist immer wieder «Kälte» gegenüber dem jüdischen Leid vorgeworfen worden. Aber das ist ein Missverständnis. Die scheinbare Distanz der Sprache ermöglicht die schonungslose Analyse.

Tatsächlich ist Arendts Buch noch heute ein eindrückliches Dokument. Aus der Exegese von Eichmanns Aussagen und seinen Handlungen entsteht erstens ein Psychogramm des bürokratischen Funktionärs, in all seiner Effizienz und Erbärmlichkeit. Zweitens verdeutlicht die Auswertung der damals vorliegenden Studien zur Schoah die Entscheidungsmechanismen des Naziregimes und zeigt den «Verwaltungsmassenmord» als neues historisches Phänomen. Man muss Arendts übergreifende Totalitarismustheorie nicht teilen, um diese Leistung anzuerkennen. Dabei klammert Arendt die Frage nach der individuellen Verantwortung keineswegs aus, auf die sie am historischen Beispiel antwortet, «dass unter den Bedingungen des Terrors die meisten Leute sich fügen, einige aber nicht».

Unbestritten aktuell sind Arendts Überlegungen zur internationalen Rechtsverfolgung von Verbrechen gegen die Menschheit. Die soll nicht nur der Wiedergutmachung für die Opfer dienen, sondern vor allem einer besseren Rechtsordnung und einer globalen Gerichtsbarkeit, wie sie seither in Ansätzen, unzulänglich, verwirklicht wird.

«Mittelweg 36»: Zeitschrift des ­Hamburger Instituts für Sozialforschung. Hamburg Juni/Juli 2010. 96 Seiten. 15 Franken