Gegen mich andenken War die deutsche Philosophin Hannah Arendt rassistisch? Die Autorin Priya Basil über eine quälende Vermutung.
«Du kannst einfach nichts schreiben, ohne Hannah Arendt zu zitieren!», hat eine Freundin mal gescherzt. Das stimmt. Arendt steckt in all meinen Texten, selbst dann, wenn sie nicht ausdrücklich erwähnt wird. Umso beunruhigender war die plötzliche Erkenntnis, nach einem Jahrzehnt des Denkens mit ihr, dass Arendts Ansatz – und damit auch mein eigener – etwas grundsätzlich Problematisches barg.
«Ich begreife jetzt, dass ich die Komplexität der Situation einfach nicht verstanden habe.» Dieser Satz stammt aus einem Brief, den Hannah Arendt 1965 an den Schriftsteller Ralph Ellison schrieb, der, wie viele andere auch, ihre «Überlegungen zu Little Rock» kritisiert hatte. In diesem Essay über die Abschaffung der Rassentrennung an Schulen hatte Arendt 1959 die race-bezogenen Verhältnisse und die Natur des Bürgerrechtskampfs in Amerika völlig falsch eingeschätzt, und öffentlich weigerte sie sich, ihre Meinung zu revidieren. Doch die Tatsache, dass sie ihren Irrtum im Privaten zugab, hallte in mir nach, ebenso wie ein Gedanke, der mich inzwischen quälte: Hannah Arendt – rassistisch? Ein Gedanke, der irgendwo zwischen einer unvollständigen Frage und einer unfertigen Aussage in der Schwebe blieb; ein Gedanke, der die Ambivalenz, die Unsicherheit, die Beklemmung einfängt, die viele von uns erfasst, wenn wir uns mit Rassismus auseinanderzusetzen haben.
Laut der Soziologin und Kulturtheoretikerin Alana Lentin ist race «eine Technologie für die Verwaltung menschlicher Differenz, die vor allem auf die Produktion, Reproduktion und Aufrechterhaltung weisser Vorherrschaft abzielt, sowohl auf lokaler Ebene als auch weltweit». Wann immer sie öffentlich über ihre Arbeit spricht, beginnt Lentin – die sich selbst als jüdische Frau bezeichnet, die «auf kolonisiertem palästinensischem Land geboren» wurde, in Irland aufwuchs und heute in Australien lebt – mit der Feststellung, sie lebe derzeit auf Land, das die Cadigal nie abgetreten haben, das den Aborigines gehört, schon immer gehörte und immer gehören wird.
Seitenweise rassistische Sprache
Meine Neubewertung Arendts begann am 27. Mai 2020, während eines Besuchs der Hannah-Arendt-Ausstellung im Deutschen Historischen Museum in Berlin, wo zwei Tonaufnahmen zu hören waren, in denen Arendt das N-Wort verwendet. Warum hat mich das so mitgenommen? Immerhin hatte ich doch «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» samt dem ominösen Kapitel «Die Gespensterwelt des Schwarzen Erdteils» gelesen: seitenweise rassistische Sprache, die nur dazu diente, Schwarze zu erniedrigen. «Was sie von anderen Völkern unterschied, war nicht die Hautfarbe; was sie auch physisch erschreckend und abstossend machte, war die katastrophale Unterlegenheit oder Zugehörigkeit zur Natur, der sie keine menschliche Welt entgegensetzen konnten.» Weshalb hatte sich mein Blick auf Arendts Werk nicht schon damals, gleich bei der Lektüre dieser Verunglimpfungen, verändert? Hatte das mit mir zu tun, mit Arendt, mit der Welt, die uns umgab?
Erkenntnis stellt sich selten plötzlich ein, auch wenn es so scheint; für gewöhnlich entsteht sie aus Anhäufungen – von Fakten, Erfahrungen, Einsichten –, die zusammen gewichtig genug sind, die Substanz von Wahrheit anzunehmen. Mitunter muss die Last sehr schwer werden, bevor man sie bemerkt; schwerer, bevor man sie annimmt; so schwer, dass man gezwungen ist, sich mit ihr auseinanderzusetzen.
Am 26. Mai 2020 fand in den USA die erste der bis heute andauernden Black-Lives-Matter-Demonstrationen statt, um gegen die Ermordung von George Floyd und die Gewalt an Schwarzen Frauen und Männern zu protestieren. Kurze Zeit später gab es auch internationale BLM-Proteste. Ich verfolgte sie, wobei ich mir meiner doppelten, britisch-deutschen Staatsbürgerschaft bewusst war – meiner Verbundenheit mit zwei Kolonialgeschichten, die an dem, was sich gerade auf den Strassen abspielte, grossen Anteil hatten.
Wenn Alana Lentin auf den Ort verweist, von dem aus sie spricht, dann macht sie auf diese Weise deutlich, dass uns der eigene Standort – geografisch, sozial, ökonomisch – immer prägt: Wir sind eingebettet in Machtstrukturen, die uns auf eine bestimmte Weise handeln lassen oder dazu führen, dass man uns auf eine bestimmte Weise behandelt. Lentin beschreibt Australien als Siedlerkolonialstaat und räumt ein: «Widerwillig, aber gleichwohl zwangsläufig bin ich an der Kolonisierung eines weiteren Territoriums beteiligt, das nie abgetreten wurde.» Mit dieser Haltung verdeutlicht sie das zentrale Argument ihres Buches «Why Race Still Matters»: dass Rassismus, entgegen der landläufigen Auffassung, nicht einfach eine Frage individueller Moral, sondern strukturell bedingt ist.
Die volle Wirklichkeit
Am 9. November 1962 veröffentlichte der «New Yorker» James Baldwins Essay «Brief aus einer Landschaft meines Geistes». In diesem Text verbindet Baldwin einen historischen Blick auf die rassistische Ideologie mit seiner eigenen Erfahrung von Rassismus in Amerika, um die verheerenden Konsequenzen für alle in einer Gesellschaft zu unterstreichen, die auf dem Mythos gründet, dass Schwarze Menschen weissen unterlegen seien.
Eine Woche später schrieb Hannah Arendt an William Shawn, den verantwortlichen Redaktor des «New Yorker»: «Bei unserem gestrigen Gespräch vergass ich, Ihnen zu sagen, wie tief beeindruckt ich von James Baldwins Text im Heft bin. Seit ich ihn gelesen habe, kann ich kaum an etwas anderes denken.»
Arendt hat viel gelesen. Am Ende all ihrer Bücher finden sich umfangreiche Bibliografien. Allein in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» sind mehrere Hundert Bücher aufgeführt. Wenig verwunderlich bei einer Autorin, die das Denken so ernst nahm wie sie, die den Begriff der «Pluralität» in den Mittelpunkt ihrer Philosophie stellte, die verstand, «dass niemand all das, was objektiv ist, von sich her und ohne seinesgleichen adäquat in seiner vollen Wirklichkeit erfassen kann». Aber wen las sie? Ich habe mir die Bibliografien ihrer bekanntesten Werke angesehen, und wie es scheint, stammen mindestens 99 Prozent ihrer Referenzen von Männern. Zudem war offenbar – ganz sicher bin ich mir da nicht, ich hoffe, jemand wird mich korrigieren – niemand davon Schwarz. Natürlich gehörte Arendt zu einem akademischen und intellektuellen Milieu, einem Establishment, einer Struktur, die von weissen Männern dominiert wurde. Soll das heissen, dass sie kaum oder keinen Spielraum hatte, anders zu denken und zu handeln?
«Was Weisse über Schwarze nicht wissen, offenbart also genau und unerbittlich ihr Unwissen über sich selbst», schreibt Baldwin in seinem Essay.
Am 21. November, wenige Tage nachdem Arendt mit dem Redaktor des «New Yorker» in Kontakt gewesen war, schrieb sie direkt an Baldwin.
Lieber Herr Baldwin:
Ihr Artikel im New Yorker stellt ein politisches Ereignis von sehr hohem Rang dar, denke ich; ganz sicher stellt er in meinem Verständnis dessen, was mit der Schwarzenfrage verbunden ist, ein Ereignis dar. Und da diese Frage uns alle betrifft, fühle ich mich berechtigt, Einwände zu erheben.
Im Brief folgt noch ein kurzer Absatz. Auf diesen komme ich noch zurück.
Als Arendt an Baldwin schrieb, war sie gerade dabei, «Eichmann in Jerusalem» fertigzustellen, dessen erster Teil im Februar 1963 im «New Yorker» erscheinen und selbst ein politisches Ereignis von sehr hohem Rang darstellen sollte. Ich frage mich, ob Baldwins Essay Arendt so tief berührte, weil ihm gelungen war, was sie in ihrem Bericht über den Eichmann-Prozess im Grunde versuchte: sich zugleich innerhalb und ausserhalb einer Gruppe zu positionieren – einer Gruppe, zu der sie selbst, so Arendt, «natürlicher- und faktischerweise» gehöre. Zufällig aber ist es auch eine Gruppe, mit der man sich zwangsläufig innerhalb einer rassistischen, auf die Unterdrückung dieser Gruppe ausgerichteten Ordnung identifiziert. Wie kann man einer Gruppe nahestehen und doch weit genug entfernt von ihr sein, um die deformierenden Auswirkungen der Unterdrückung auf das Individuum und das Kollektiv zu erkennen? Danach haben beide, Arendt und Baldwin, auf sehr unterschiedliche Weise gestrebt.
In «Brief aus einer Landschaft meines Geistes» schreibt Baldwin unter anderem darüber, wie er sich der Kirche zu- und sich wieder von ihr abwendet, über die Sehnsucht, die eigene Homosexualität zu erforschen, über jüdische Mitschüler an seiner High School – darunter sein bester Freund. «Mein Umgang mit Juden», schreibt Baldwin, «rückte das Thema der Hautfarbe, das ich bisher so verzweifelt gemieden hatte, ins furchtsame Zentrum meines Bewusstseins. (…) Ich wusste, dass diese Leute Juden waren, (…) aber für mich waren sie einfach nur weiss.»
Innerhalb der heutigen antirassistischen Forschung vertreten manche die Meinung, es sei besser, über race, über Hautfarbe, nicht zu sprechen, da man sonst riskiere, rassistische Sprachbilder zu reproduzieren, unbeabsichtigt womöglich sogar zu verfestigen. Die meisten, so auch Lentin, fragen sich, «wie wir race erklären und uns gegen die in ihrem Namen begangene Entmenschlichung und Diskriminierung wenden sollen, ohne darüber zu sprechen?». Die eine richtige Art, über race zu sprechen, gibt es nicht: Dazu braucht es Diskussionen auf verschiedenen Ebenen und in verschiedenen Milieus, in jeder nur denkbaren Konstellation, in allen möglichen Geschwindigkeiten und Lautstärken.
Beteiligt, unwohl, schuldig, falsch
Ich selbst habe mich jahrelang gescheut, explizit über race zu sprechen oder zu schreiben. Das hatte viele Gründe, doch vor allem, scheint mir heute, steckte dahinter die Furcht, zu hören zu bekommen: «Komm mir bloss nicht wieder mit Rassismus!» Lange Zeit habe ich es auch vermieden, die grassierende Ungleichheit zwischen Männern und Frauen anzusprechen – um nicht zu hören zu bekommen: «Komm mir bloss nicht wieder mit Gender.» Ich glaubte, Verletzlichkeit einzugestehen – die eigene oder die von anderen –, bedeute, sie zu bejahen, obwohl dieses Eingeständnis in Wirklichkeit der erste Schritt in Richtung Konfrontation und Widerstand ist. Wer sagt: «Komm mir bloss nicht wieder mit …», sagt eigentlich: «Komm mir bloss nicht mit mir selbst, bring mich nicht dazu, mich beteiligt-unwohl-schuldig-falsch zu fühlen.»
Im Verlauf von «Brief aus einer Landschaft meines Geistes» wird die Lage der AfroamerikanerInnen mit dem europäischen Kolonialismus, der amerikanischen Besitzsklaverei und dem Holocaust in Verbindung gebracht. Baldwins Analyse erfasst, was Arendt nie ganz begriff: das globale Ausmass des Rassismus sowie dessen ganz besondere Ausformung in den USA – die ein Siedlerkolonialstaat waren, in dem bis zu neunzig Prozent der indigenen Bevölkerung von europäischen Siedlern, die ihnen das Land nahmen, ausgerottet wurden. Ich frage mich, wie Arendt von Baldwins Fähigkeit beeinflusst wurde, sich diesen verschiedenen Ereignissen derart emotional zu nähern – und von seiner Fähigkeit, sie intellektuell aufeinander zu beziehen.
Baldwin merkt an: «Weisse waren und sind überrascht vom Holocaust in Deutschland. Sie haben nicht gewusst, dass sie zu so was imstande sind. Aber ich bezweifle stark, dass Schwarze überrascht waren – zumindest auf dieselbe Weise. Mich persönlich hat das Schicksal der Juden und die Gleichgültigkeit der Welt sehr erschreckt. In dieser traurigen Zeit wurde ich das Gefühl nicht los, dass die Gleichgültigkeit der Menschen, die mir schon so vertraut war, an dem Tag, da die Vereinigten Staaten beschliessen würden, seine Schwarzen systematisch zu töten, statt nach und nach und catch-as-catch-can, auch mir zuteilwürde.»
Ich frage mich, wie es Arendt bei der Lektüre dieser Zeilen erging. Sie, die die Ursachen einer solchen Gleichgültigkeit so ausführlich analysiert, die politischen Bedingungen, die sie ermöglichten – die Kolonialgeschichte und -mentalität –, identifiziert hatte. Sie, die argumentierte, dass Pluralität für bedeutungsvolles menschliches Handeln im Bereich des Politischen entscheidend sei, die jedoch ein ums andere Mal darüber hinwegsah, dass Schwarze in ihrer Wahlheimat bewusst, ja gewaltsam von diesem Bereich ausgeschlossen wurden.
Feuer vom Himmel
Baldwin überlegt, «dass eine Zivilisation nicht von Bösewichtern zerstört wird; der Mensch braucht nicht böse zu sein, nur rückgratlos». Ich frage mich, wie dieser Satz in Arendts scharfem Verstand nachhallte, wo der Begriff «Banalität des Bösen» sicher schon Gestalt angenommen hatte, wie vermutlich auch diese vernichtende Anklage Eichmanns: «Es war gewissermassen schiere Gedankenlosigkeit (…), die ihn dafür prädisponierte, zu einem der grössten Verbrecher jener Zeit zu werden.» Ich frage mich, ob Baldwins Beispiel Arendt dazu ermutigte, sein rhetorisches Gespür, seine unerschrockene Abrechnung mit der Wirklichkeit, seine unverblümte Einschätzung, dass «der Preis für die Befreiung der Weissen die Befreiung der Schwarzen ist», seine mutige Schlussfolgerung: «Alles, so müssen wir annehmen, liegt jetzt in unserer Hand; wir haben kein Recht, etwas anderes anzunehmen. Wenn wir – damit meine ich die einigermassen bewussten Weissen und die einigermassen bewussten Schwarzen, die wie Liebende das Bewusstsein des anderen einfordern oder wecken müssen – jetzt nicht nachlassen in unserer Pflicht, sind wir, die kleine Handvoll, vielleicht imstande, diesen rassistischen Albtraum zu beenden, unser Land zu gestalten und den Lauf der Weltgeschichte zu ändern. Wenn wir jetzt nicht alles wagen, droht uns die Erfüllung jener Prophezeiung, die ein Sklave einst in Anlehnung an die Bibel im Lied wiedererweckte: God gave Noah the rainbow sign, No more water, the fire next time!»
Ich frage mich, ob dieses Bild dasjenige inspiriert hat, das Arendt heraufbeschwört, als sie in einer erstaunlichen Passage das Urteil über Eichmann verkündet, das Urteil, das er vom Gericht in Jerusalem nicht zu hören bekam, das er ihrer Meinung nach aber verdient hätte. Direkt an Eichmann gewandt, sagt sie: «Was Sie damit eigentlich sagen wollten, war natürlich, dass, wo alle, oder beinahe alle, schuldig sind, niemand schuldig ist. Das ist in der Tat eine weitverbreitete Meinung, der wir uns jedoch nicht anschliessen können. Vielleicht erinnern Sie sich an die Geschichte aus der Bibel von Sodom und Gomorrha, den beiden Städten, die durch Feuer vom Himmel zerstört wurden, weil alle Einwohner sich gleichermassen vergangen hatten.»
Wie sehr uns ein System, eine Struktur auch konditionieren, zu einem bestimmten Verhalten veranlassen mag, wir sind niemals von der persönlichen Verantwortung für unsere Gedanken und Taten entbunden.
Kehren wir zurück zum zweiten Teil von Arendts Brief an Baldwin:
Was mir in Ihrem Artikel Angst gemacht hat, ist das Evangelium der Liebe, das Sie da zum Schluss verkünden. Der Politik ist die Liebe fremd und wenn sie sich darin einmischt, wird nichts erreicht als Heuchelei. (…)
In aufrichtiger Verehrung (…)
Hannah Arendt
So vieles hätte sie zu Baldwins langem, umfassendem Essay anmerken können, warum dies? Weshalb versteift sie sich auf die Liebe? Und, noch wichtiger, weshalb lehnt sie sie ab? Arendt selbst hatte sich schon lange mit dem Begriff beschäftigt. Ihre Doktorarbeit schrieb sie über den «Liebesbegriff bei Augustin». Sie erwog, ihr Buch «Vita activa oder Vom tätigen Leben» unter dem Titel «Amor Mundi» zu veröffentlichen. In ihrem «Denktagebuch» fragte sie: «Warum ist es so schwer, die Welt zu lieben?» Doch in der Öffentlichkeit, vor allem nach Erscheinen von «Eichmann in Jerusalem», wies Arendt wiederholt jede Andeutung zurück, dass die Liebe einen Platz im Bereich des Politischen habe.
Der Kern von Arendts Kampf
Doch was ist ihre Idee der Pluralität, wenn nicht, sowohl abstrakt als auch praktisch gesehen, eine Idee der Liebe? Sie schrieb: «Das Handeln bedarf einer Pluralität, in der wir zwar alle dasselbe sind, nämlich Menschen, aber dies auf die merkwürdige Art und Weise, dass keiner dieser Menschen je einem anderen gleicht, der einmal gelebt hat oder lebt oder leben wird.» Diese Pluralität sei «die Grundbedingung alles politischen Lebens». Für mich fassen diese Worte Liebe, wie Baldwin sie in seinem Essay definierte, «nicht nur im persönlichen Sinn, sondern als Seinszustand oder Gnadenstand – nicht im kindlichen amerikanischen Sinn des Glücklichgemachtwerdens, sondern im universellen herben Sinn des Suchens, Wagens und Wachsens».
Mir scheint, dass Arendts Kritik an Baldwin den Kern ihres ganz eigenen Kampfes trifft. Baldwin konnte nur schreiben, wie er es tat, indem er sich auf die Liebe, auf ihre Gnade berief. Arendt konnte nur schreiben, wie sie es tat, indem sie das Wort «Liebe» vordergründig ausklammerte und seine vertrackten Ansprüche, seine blossen Schmerzen von sich wies. Laut ihrer Biografin Elisabeth Young-Bruehl habe die Arbeit an «Eichmann in Jerusalem» Arendt von der emotionalen Verstrickung mit «ihrem Volk» geheilt, die der Urteilskraft im Wege steht. Ja, Emotionen können das Urteilsvermögen trüben, doch können sie es mitunter auch positiv beeinflussen. Ich frage mich, inwieweit Arendts Reaktion auf Baldwins Text ihren eigenen Ton in «Eichmann in Jerusalem» beeinflusst hat – distanziert und zugleich bissig, mit aufblitzender Ironie –, einen Ton, der gemischte Reaktionen hervorrief und den Vorwurf laut werden liess, sie liebe «ihr Volk», ihre «eigenen Leute» nicht.
Trotz der rohen emotionalen Kraft seines Schreibens und der im Allgemeinen begeisterten Rezeption seines Essays entkam auch Baldwin ähnlichen Anschuldigungen nicht. Er trat aus der Kirche aus, er verweigerte die Mitgliedschaft in der NAACP (National Association for the Advancement of Colored People), er schloss sich nicht dem Kampf der Schwarzen im Namen der Nation of Islam an, er ging nach Europa, um nicht einfach als «schwarzer Schriftsteller» betrachtet zu werden – und doch galt er als Vertreter der Schwarzen Amerikaner. Und doch gab es Leute wie Eldridge Cleaver, Schriftsteller und Mitbegründer der Black Panther Party, der behauptete, Baldwin sei «das wertvollste Werkzeug der Weissen bei der Unterdrückung anderer Schwarzer».
In dieser grotesken Ordnung
Was hat das alles zu sagen?, mögen Sie sich fragen. Worum geht es hier? Um den Versuch, die Lage in ihrer ganzen Komplexität zu erfassen. Darum, nicht zu vergessen, dass es verschiedene Arten der Liebe gibt, so wie es verschiedene Arten der Suche gibt, der Verwendung von Sprache, des Leidens, des Kämpfens, des Überlebens. Darum, nicht zu vergessen, dass race unsere Welt weiterhin zum Vorteil der einen, zum Nachteil der anderen gliedert. Darum, nicht zu vergessen, dass die Beibehaltung der Vorteile für einige die Untermauerung der Unterschiede – Hautfarbe, Religion, sozialer Status – für andere bedeutet. Um die Erkenntnis, dass man innerhalb dieser grotesken Ordnung, was auch immer man versucht/erfindet/wählt, wo immer man sich ebenfalls zugehörig fühlt, dazu verdammt ist, bei-für-gegen «die eigenen Leute» zu sein – egal, ob man sie liebt oder nicht (oder dazu verurteilt ist).
«Die Welt ist voller Unterschiede», stellte der Kulturtheoretiker Stuart Hall fest, «entscheidend sind die Denk- und Sprachsysteme, derer wir uns bedienen, um diese Unterschiede zu verstehen.»
Hat Arendt Baldwin oder Ellison weiterhin gelesen? Schwer zu sagen. In ihren Texten werden sie nirgends zitiert, in den veröffentlichten Briefen an Mary McCarthy oder Karl Jaspers, zwei ihrer engsten BrieffreundInnen, nicht erwähnt. Ihr Essay «Macht und Gewalt» liest sich wie eine allergische intellektuelle Reaktion auf Frantz Fanons «Die Verdammten dieser Erde»; hier zeigt sich, dass die Begegnungen mit Baldwins und Ellisons Werk, die Momente der Offenbarung, Arendt kaum nachhaltig beeinflussten. In «Macht und Gewalt», 1970 veröffentlicht, wiederholt sie eine Reihe der rassistischen Verunglimpfungen und erweitert sogar noch die ignoranten Verallgemeinerungen über Afrika, die sie fast zwanzig Jahre zuvor in «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» verwendet hatte. In Arendts politischem Konzept waren die Schwarzen die Fremden, sie konnte nicht zulassen, dass deren Notlage ihre Gedanken störte, ihr Bedürfnis, an die Tugenden der amerikanischen Republik und den konzeptionellen Überbau zu glauben, den sie, basierend auf dem Glauben an diese Republik, entwickelte. Ein Glaube, der sicherlich zum Teil der Dankbarkeit geschuldet war, im neuen Land willkommen geheissen und akzeptiert (geliebt?) zu werden, nachdem man sie in Nazideutschland geschmäht und vertrieben hatte.
Der nüchterne Rassist
Inzwischen ist mir klar, dass es schmerzlich einfach ist: Hannah Arendt war, trotz all ihrer grossartigen Theorien über Rassismus, über Macht, über die Möglichkeiten von Pluralität in der Politik, rassistisch. Ihre Voreingenommenheit war nicht intendiert, sondern strukturell – immer wieder aufs Neue, nachdrücklich bekräftigt durch alles, was sie umgab, durch ihre Geschichte, sodass andere Perspektiven, selbst wenn sie eindrangen, kaum bleibende Spuren hinterliessen. Das soll nicht heissen, dass es nicht auch anders hätte sein können. Ich frage mich, wohin sich ihr Denken hätte entwickeln können, wenn es mehr dieser Baldwin-Ellison-Momente der Einsicht gegeben hätte, sie aktiv nach solchen Perspektiven Ausschau gehalten hätte.
Was bedeutet das für uns, wie wir sie lesen, ihre Konzepte verwenden? Verschiedene Menschen werden verschiedene Antworten auf Fragen dieser Art finden. Die Schwierigkeit liegt darin, einen Weg zu finden, wie wir mit dem Dilemma von Arendts Vermächtnis umgehen können und dem Vermächtnis anderer, die uns mit ihrer makelbehafteten, kompromittierten Brillanz herausfordern. Für mich sind ihre Grenzen, ihr Versagen ebenso erhellend wie ihre Einsichten: Sie zeigen mir, wie ich Aspekte meiner eigenen rassischen Konditionierung und Positionierung ausgeblendet habe – und mitunter noch immer ausblende.
Wie ein Alkoholiker, der mit dem Trinken aufhört, weiter als Alkoholiker gilt – nur eben als ein nüchterner –, bleibt ein Rassist, der versucht, vom Rassismus abzulassen, ein nüchterner Rassist. Wie könnte es auch anders sein, wenn wir von bigotten Strukturen durchdrungen sind, wenn wir mit berauschenden Geschichten von vermeintlicher Unter- oder Überlegenheit aufwachsen und regelmässig den billigen Cocktail der Geschichtsverleugnung gereicht bekommen?
Was auch immer wir über die Denker-GestaltenSchriftstellerinnen nicht wissen (wollen), die wir verehren-ignorieren-verteidigen, offenbart genau und unerbittlich, was wir über uns selbst nicht wissen (wollen).
Und doch, so scheint es, ist allein das Wissen darum nicht genug. Wissen ändert nicht unbedingt etwas, es kommt darauf an, was man denkt und damit macht. Diese Einsicht beseelte Hannah Arendts gesamtes Werk. Sie forderte sich selbst, sie forderte uns-mich-dich auf, «dem nachzudenken, was wir eigentlich tun, wenn wir tätig sind». Und immer, immer vom Standpunkt der anderen aus zu denken.
Worte können uns täuschen, und wir sie. Und doch setzen Worte die Massstäbe, nach denen wir versuchen zu leben, zu lieben.
Aus dem Englischen von Beatrice Fassbender.
Autorin, Filmemacherin, Aktivistin
Die britisch-indische Autorin Priya Basil wuchs in Nairobi auf, studierte in Grossbritannien und lebt seit 2002 in Berlin. 2019 erschien ihr Buch «Gastfreundschaft», 2020 erkundete sie im Kurzvideoessay «Locked in and out» das Berliner Humboldt-Forum aus postkolonialer Perspektive, diesen März kam ihr Buch «Im Wir und Jetzt. Feministin werden» im Suhrkamp-Verlag heraus. Von Mai bis Juli ist sie zu Gast im Aargauer Literaturhaus.
An den Literaturtagen tritt Priya Basil, am Samstag, 15. Mai 2021, um 14 Uhr und um 19 Uhr auf.