Die Siedler in Ostjerusalem: Der Kampf ums heilige Becken
Während Israels Regierung derzeit in Washington einmal mehr mit den Palästinensern über Frieden redet, treibt sie vor allem im besetzten Ostjerusalem den Siedlungsbau ungehindert voran. Die WOZ hat sich vor Ort umgesehen und unter anderem jenen Mann getroffen, der die israelische Mauer gebaut hat, die sich durchs Westjordanland zieht.
«Achtung!», sagt unser Tourführer, «jetzt.» Jetzt werde er vor unseren Augen die Bibel zum Leben erwecken. Behutsam zieht er ein dickes Buch aus einer silbernen Hülle und streckt es weit in die Luft. Hinter ihm sticht die Jerusalemer Altstadtmauer in den blauen Himmel, rechts liegt der Ölberg, und dazwischen, eingebettet in einem lang gezogenen Tal, erstreckt sich ein palästinensisches Quartier: Silwan.
«Zweites Buch Samuel», sagt unser Führer und beginnt mit erhobenem Zeigefinger zu lesen: «David eroberte die Burg Zion, sie wurde die Stadt Davids» – ja, und hier, gleich hier unter unseren Füssen, habe die Stadt gelegen. Rundherum ragen Überreste alter Steinmauern aus dem sandigen Boden.
Die Stadt Davids. Eben gerade waren wir noch in einem kleinen Kinosaal gesessen, mit einer 3-D-Brille auf der Nase, und hatten uns in wilden Digitalanimationen die biblische Geschichte erzählen lassen: die Geschichte von König David, der sich vor 3000 Jahren hier niederliess und Jerusalem zur Hauptstadt der Israeliten machte; und von seinem Sohn Salomon, der den ersten Tempel errichtete.
Eine Geschichte, so die letzten Worte aus dem Off, die nun endlich fortgeschrieben werde.
Fortgeschrieben wird die Geschichte seit 1967. Im selben Atemzug, in dem Israel im Sechstagekrieg das gesamte Westjordanland eroberte, nahm es auch Ostjerusalem ein. Inklusive Altstadt und des sogenannten heiligen Beckens, das diese umgibt. Kurz darauf erklärte der israelische Staat Ostjerusalem zu seinem Staatsgebiet; und bereits ein Jahr darauf leitete er die erste Enteignungswelle ein: Er entriss palästinensischen Familien ihr Land, um darauf Siedlungen aus dem Boden zu stampfen.
Seither haben sämtliche israelischen Regierungen den Siedlungsbau vorangetrieben. Auch jene der Arbeiterpartei. Von Ostjerusalems Boden wurde bis heute über ein Drittel enteignet und zum neuen Zuhause von 200 000 Israelis.
So wie im Westjordanland seit Jahrzehnten nehmen die SiedlerInnen zudem seit ein paar Jahren auch in Ostjerusalem die Geschichte zunehmend selbst in die Hand, wenn auch mit Hilfe ihres Staates: Sie lassen sich mitten in palästinensischen Quartieren nieder. In der Altstadt. Aber auch im heiligen Becken. Wie hier in Silwan. Die rund 300 SiedlerInnen kontrollieren hier, gleich unterhalb der Altstadt, bereits ein Viertel des Landes. Inklusive Ausgrabungspark.
... «Jonathan, Baltimore», «Rachel, New York» – und er heisse Mordechai, sagt unser Tourführer. Wir sitzen im Kreis unter einem Baum im Schatten. Seine Familie sei ursprünglich aus Transsilvanien. Aber keine Angst, er sei kein Vampir, sagt Mordechai, während er seine Arme, die unter einem kurzärmeligen Safarihemd hervorlugen, auf und ab bewegt. Rundherum Gelächter.
Gut gelaunt macht sich unsere Gruppe auf, Mordechai den Hügel hinunter durch die Ausgrabungen zu folgen. Ich spaziere neben Jonathan her. Einfach faszinierend sei das hier alles, meint er – ob ich mich auch so sehr wie er für Archäologie interessiere? Immer wieder führt der Weg durch den Ausgrabungspark an kleinen Häusern vorbei, auf deren Dächern israelische Fahnen wehen; davor: Frauen in langen Röcken, die Wäsche aufhängen; Kinder, die spielen. Irgendwann tauchen wir in einen 500 Meter langen Tunnel ein, den König Hiskia gebaut haben soll, um Jerusalem während der Belagerung durch die Assyrer mit Trinkwasser zu versorgen. Er endet am Fusse des Hügels, vor einem antiken Wasserbecken aus Stein.
Nach drei Stunden ist der Rundgang zu Ende. Ihm bleibe nichts anderes übrig, meint Mordechai, als uns einige abschliessende Gedanken mit auf den Weg zu geben. Zerstörung und Leid hätten 2000 Jahre lang das Leben der Juden geprägt. Auch seine Familie habe den Holocaust erlebt. Umso dankbarer sei er heute, mit der Bibel in der Hand hier auf dieser heiligen Erde stehen zu dürfen. «Und für die Zukunft», sagt Mordechai, «bin ich voller Hoffnung – wisst ihr, warum?» «Wir sind zurück!», ruft Jonathan aus Baltimore als Erster hinter meinem Rücken hervor.
Mordechai nickt. «Ja. Wir sind zurück.»
Die Palästinenser
Am Morgen danach. Er könne nicht lange machen, sagt Dschuad am anderen Leitungsende. «Sie sind gerade daran, mit Bulldozern Häuser abzureissen.» – «Sie?» – «Ja, die Israelis.» Wenn ich wolle, könnten wir uns um 12 Uhr beim kleinen Café unten am Ausgrabungspark treffen. Dann legt er auf.
Das palästinensische Café liegt nur wenige Meter neben dem Wasserbecken, auf der anderen Seite des Metallgitters, das die SiedlerInnen rund um den Ausgrabungspark gezogen haben. Mitten in Silwan. Das Café: eine Holzbaracke, davor eine kleine Terrasse mit zwei, drei Tischen. An einem sitzt ein junger Palästinenser, rund dreissig, vor einem Glas Tee. Dschuad Siam hat ein bleiches, knochiges Gesicht. Zusammen mit ein paar Freunden hat sich Dschuad dem zivilen Widerstand verschrieben: Er führt ein kleines Informationszentrum und betreibt eine Internetseite mit Berichten und Videos über die Lage in Silwan.
«Diesmal haben sie nur einen kleinen Stall und einen Krämerladen demoliert», sagt Dschuad – da, gleich hinten um die Ecke. «Aber siehst du die da?» Dschuad zeigt auf eine Reihe kleiner Häuser, die gleich auf der anderen Strassenseite liegen. «Die sollen bald alle abgerissen werden.» Mindestens 22 Häuser hier sollen einem israelischen Freizeitzentrum weichen. Mit einem Park, Boutiquen, Restaurants und Kunstgalerien. Das hat die Jerusalemer Gemeinde vor zwei Monaten entschieden. Die Abrissorders sind bereits verfügt. Die Bulldozer können jeden Tag auftauchen.
«Komm», sagt Dschuad. Er wolle mir etwas zeigen. Wir zahlen, steigen in einen alten grauen Jeep und fahren los. Ende der achtziger Jahre habe alles begonnen, sagt Dschuad, während wir durch Silwans Strassen kurven. Damals sei ein Mann namens David Beeri erstmals im Quartier aufgetaucht. Der Chef der Siedlerorganisation Elad – wie sich später herausstellen sollte – habe begonnen, Touristen durch die Ausgrabungen zu führen. Damals habe niemand etwas Böses geahnt. Die Touristen hätten den BewohnerInnen Zitronen abgekauft, unten im Café etwas getrunken. Und schon bald habe sich Beeri mit einem Quartierbewohner angefreundet.
Doch dann kam der 10. Oktober 1991: Mitten in der Nacht hätten ein paar Siedler von Elad das Haus von Beeris vermeintlichem Freund gestürmt. Während die Familie drinnen am Schlafen war, seilten sich die Siedler vom Dach die Hausfassade hinunter ab, schlugen die Fenster ein, drangen ins Innere und warfen sämtliche Möbel in den Innenhof. Noch im selben Jahr folgten zehn weitere Häuser. Die Vorfälle wurden von mehreren israelischen Menschenrechtsorganisationen dokumentiert.
Diese ersten Enteignungen stützten sich allesamt auf das Absentee Property Law: Der Staat erklärte die Häuser für verlassenes Eigentum und übergab sie den SiedlerInnen – nicht selten aufgrund von Informationen, die aus Siedlerkreisen stammten. Später begannen die SiedlerInnen, sich die Häuser mit gefälschten Kaufverträgen anzueignen, wie ebenfalls von zahlreichen israelischen Organisationen protokolliert wurde; und schliesslich vertraute 1997 Israel den SiedlerInnen den gesamten Ausgrabungspark zur Verwaltung an.
Eine rechtliche Grundlage hat angeblich auch der neuste Entscheid: Die 22 palästinensischen Häuser, die einem israelischen Freizeitzentrum Platz machen sollen, seien illegal, argumentiert der israelische Staat. Man habe sie ohne israelische Bewilligung gebaut.
Das stimmt. Doch gemäss internationalem Recht ist das irrelevant. Auch wenn Israel den Osten der Stadt einseitig zu eigenem Staatsgebiet erklärte: Unter internationalem Recht bleibt Ostjerusalem besetztes Land, für das somit das humanitäre Völkerrecht gilt. Und dieses verbietet der Besatzungsmacht nicht nur, das besetzte Land zu besiedeln, sondern auch, irgendwelche Häuser abzureissen.
Plötzlich hält Dschuad das Auto an. «Hier», sagt er, zeigt auf ein Stück Brachland am Rande der Strasse und steigt aus. «Hier», wiederholt Dschuad draussen, «da stand die Scheune, die heute Morgen abgerissen wurde.» Am Boden liegt ein kleiner Haufen aus Ziegeln und Balken, auf dem ein Huhn nach Körnern pickt; daneben raucht noch etwas Asche.
«Weisst du», sagt Dschuad, «sie folgen der Bibel, und sie sind auch frei, dies zu tun – aber sie sollen mich nicht zwingen, dafür mein Leben aufzugeben.» Und er? Ist er nicht auch von der Religion getrieben? «Ich?!» Dschuad schüttelt den Kopf. Er sei nicht religiös. Er sei Sozialist.
Er wehre sich nur dagegen, dass man ihn von seinem Land zu vertreiben suche.
Der Staat
«Ostjerusalem?!» Aber natürlich gehöre Ostjerusalem zu Israel. Dani Tirza und ich sitzen in einem Take-away in Westjerusalem beim Kaffee. Der 51-jährige Dani, wie sich Tirza vorstellt, ist in Israel auch unter einem anderen Namen bekannt: Mister Wall. Der ehemalige Armeeoberst war bis Ende 2006 verantwortlich für den Bau der israelischen Mauer, die sich durchs Westjordanland gräbt. Israels ehemaliger Kadima-Premier Ariel Scharon hatte ihn dazu 2002 ernannt.
«Jerusalem ist die Hauptstadt Israels», präzisiert Tirza, und da gehöre Ostjerusalem selbstverständlich dazu. Geht Israels Recht für Tirza dem internationalen Recht vor, das besagt, Ostjerusalem sei besetzt? «Selbstverständlich!», sagt der pensionierte Oberst und schaut mich verständnislos an. Und das Westjordanland? Tirza zögert. «Nun, es ist Teil des Landes, das uns von Gott versprochen wurde.» Ich würde die Geschichte sicher kennen: «Das Reich Davids, der Exodus, die Rückkehr – eines Volkes ohne Land zu einem Land ohne Volk ...» Ein Land ohne Volk? «Ja, es ist unsere Geschichte, unsere Wahrheit.» Doch Israel sei bereit, über das Land mit den Palästinensern zu verhandeln. Auch über Ostjerusalem. Für den Frieden.
Verhandelt wurde erstmals 1993, in Oslo, unter Vermittlung des damaligen US-Präsidenten Bill Clinton. Erklärtes Ziel: die Gründung eines palästinensischen Staates.
Doch in den jahrelangen Gesprächen, die auf diesen Startschuss folgten, wurde das Thema Ostjerusalem immer wieder auf die lange Bank geschoben – und als es 2000 in Camp David endlich auf den Tisch kam, scheiterten die Verhandlungen endgültig: PLO-Chef Jassir Arafat berief sich auf Resolution 242 (1967) der Vereinten Nationen, die von Israel den vollständigen Rückzug aus den 1967 besetzten Gebieten fordert – war gleichzeitig jedoch bereit, über das jüdische Altstadtviertel und Ostjerusalems Siedlungen zu verhandeln. Doch Israels damaligem Premier Ehud Barak war das zu wenig.
Inzwischen hat der ehemalige Armeeoberst Tirza mit seiner Mauer schon mal eine provisorische Grenze gezogen. Und hat dabei dem israelischen Staat nicht nur weite Teile des Westjordanlands einverleibt, sondern auch ganz Ostjerusalem. Inklusive Altstadt und des heiligen Beckens.
Doch eine künftige politische Grenze will Tirza darin nicht sehen. Israel habe mit der Mauer auch keinerlei Besitzanspruch markieren wollen. «Der Zaun dient nur dazu, die israelische Bevölkerung vor Terroranschlägen zu schützen», sagt Tirza, während er eine Karte auf dem Tisch ausbreitet. «Siehst du?», sagt er und fährt mit dem Finger der eingezeichneten Mauer entlang. «Sie folgt demografischen Kriterien.» Er habe versucht, möglichst viele israelische Siedlungen vom übrigen palästinensischen Westjordanland zu trennen. Tagelang sei er im Jeep mit Karten durch die Hügel gefahren, um die ideale Grenze finden.
Abu Chaarita. So hatte Arafat den Armeeobersten Tirza während der Oslo-Gespräche genannt, als dieser, zuständig für den partiellen Rückzug der israelischen Armee aus den besetzten Gebieten, täglich mit zig eingerollten Karten unter dem Arm zu den Verhandlungen erschien – Vater der Karten.
Doch warum hat Tirza Ostjerusalem auf die israelische Seite geschlagen, wo die PalästinenserInnen trotz der SiedlerInnen noch immer in der Mehrheit sind? Zu Beginn, sagt Tirza, habe man die Mauer zwischen den palästinensischen und den israelischen Quartieren ziehen wollen. Doch es sei unmöglich gewesen, einen Verlauf zu finden, der auch unter Sicherheitskriterien geeignet gewesen wäre – unmöglich, das müsse ich ihm glauben.
Und, ja, fügt Tirza dann doch noch an: Man könne Ostjerusalem doch nicht einfach so an die Palästinenser abtreten, ohne darüber verhandelt zu haben, habe die israelische Bevölkerung gefunden.
Viel zu verhandeln wird es bald ohnehin nicht mehr geben. Auch wenn die Mauer heute noch keine politische Grenze ist: Auch Tirza streitet nicht ab, dass sie durch Israels Siedlungspolitik mehr und mehr zu einer wird – mit jedem Siedler, der sich in Ostjerusalem niederlässt. «Sicher», sagt Tirza. Er höre deshalb nicht auf, seinen palästinensischen Freunden zu sagen: «Beeilt euch! Heute wäre es noch möglich, Ostjerusalem aufzuteilen – doch nicht mehr lange.»
Palästinensische Freunde? Lebt Tirza nicht selber in einer Siedlung mitten im Westjordanland? In Kfar Adumim? Ja, aber das Land gehöre halt nun mal den Juden. Gegen Frieden wären aber sicher viele der Siedler bereit, ihre Häuser aufzugeben. Und er? Tirza zögert. Ja, vielleicht würde er es tun.
Sein Rücktritt? Die Regierung habe ihn Ende 2006 einfach fallen gelassen, sagt Tirza auf dem Weg zum Parkplatz. Sein enger Vertrauter Scharon habe kurz zuvor seinen Schlaganfall erlitten. Und die neue Regierung mochte ihn nicht mehr tragen. Wegen der Proteste der Linken. Nur weil er in einer Siedlung lebe, sagt Tirza, hätten die behauptet, er sei ein Rechter.
Ist er das nicht? Ich hätte mich ja eben gerade vom Gegenteil überzeugen können, sagt Tirza. Auch die Rechten hätten vor seinem Haus demonstriert – er würde den Palästinensern zu viel Land abtreten.
Die Rechte
Am gleichen Abend. Yosh Brill und ich sitzen in einer kleinen Westjerusalemer Kneipe vor einem Bier. Yosh ist dreissig und studiert Geschichte. «Was ich von der Mauer halte?» Yosh verzieht das Gesicht. «Es braucht die Mauer, für unsere Sicherheit – doch ich mag sie nicht.» Sie zerstöre die Natur. Pflanzen und Tiere würden in ihrer Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Und, fügt Yosh an: Er habe Angst, dass die Mauer irgendwann zu einer politischen Grenze werde. Hier gebe es nur ein Land, präzisiert Yosh. Israel. Und das reiche vom Mittelmeer bis zum Jordanfluss. So wolle es Gott. Die Juden müssten übers ganze Land verteilt leben, auch in Judäa und Samaria – dem Westjordanland.
Im Übrigen traue er den Palästinensern nicht, sagt Yosh. «Sie sind zu wenig verantwortungsvoll für einen eigenen Staat.» Wenn sie hier leben wollten, dann in kleinen Autonomiegebieten. «Wählen?» Yosh überlegt. «Nur für ihre autonomen Regionen – nicht aber für die Knesset.» Ich müsse verstehen, versucht Yosh mich aufzuklären. Er zähle sich zur politischen Rechten im Land.
Israels Rechte. Dazu gehören nebst dem regierenden Likud die religiösen Parteien und die säkulare Israel Beitenu. Zusammen stellen sie in der Knesset gut die Hälfte der Sitze. Ihnen gehen die Lippenbekenntnisse der Kadima und der Arbeiterpartei zu einem palästinensischen Staat bereits zu weit; Kadima und Arbeiterpartei besetzen rund ein Drittel der Sitze.
Stört es Yosh nicht, das man die PalästinenserInnen in Ostjerusalem aus ihren Häusern vertreibt? «Ich würde das nicht als Vertreibung bezeichnen», sagt Yosh. Sondern? «Als Erlösung durch legale Mittel.» Schritt für Schritt finde das jüdische Volk zu seiner Heimat zurück; so wie seine Eltern, die 1948 aus Osteuropa hierhergekommen sind – Holocaust-Überlebende, wie Yosh präzisiert.
Er ermuntere jeden Israeli, Ostjerusalem zu besiedeln, sagt Yosh. «Aber: Sie sollen die Häuser kaufen.» Was derzeit in Scheich Dscharrah geschehe, sei äusserst gefährlich: Ein israelisches Gericht habe dort palästinensische Häuser den Siedlern zugesprochen – mit der Begründung, das Land habe vor 1948 Juden gehört.
Doch was werde geschehen, fragt Yosh, wenn nun plötzlich Palästinenser ihrerseits begännen, vor israelischen Gerichten ihre ehemaligen Häuser zurückzufordern, aus denen sie 1948 flüchten mussten?
Die Linke
Freitagmittag in Scheich Dscharrah, knapp zwei Stunden nachdem die letzten Worte des Imam von der Al-Aksa-Moschee über die Altstadtdächer gehallt sind, rund einen Kilometer nördlich der Altstadt. In einem kleinen Park haben sich ein paar Hundert Leute versammelt. Jene zuvorderst tragen Transparente. Dazwischen zwängen sich palästinensische Kinder, die Orangensaft verkaufen, durch die skandierende Menge.
«Die Siedler? Schau, dort drüben, die Häuser mit den israelischen Fahnen auf dem Dach», klärt mich ein junger Bursche über die Lage auf. Eine schmale Strasse führt zu ein paar verstreuten Häusern. Davor: eine Kette aus mehreren Dutzend mit Knüppeln und Schildern bewaffneten Polizisten. Drei palästinensische Grossfamilien haben hier bisher ihre Häuser an die SiedlerInnen verloren. 27 weitere könnten bald folgen.
Mitten in der Menge steht auch Tamar Zandberg; die 34-jährige Politikerin der linkszionistischen Meretz-Partei hatte ich bereits vor einem Jahr für die WOZ getroffen. «Die Polizisten wollen uns heute nicht helfen», sagt Tamar und grinst. Helfen? «Ja, jedes Mal, wenn sie gewalttätig werden, kommen die Woche drauf noch mehr Leute.» Die Demonstrationen finden bereits seit Monaten statt.
Hier in Scheich Dscharrah sei eine starke Bewegung am Entstehen, glaubt Tamar. Die Leute kämen von überall – viele aus Tel Aviv, wie sie. Und auch die Medienpräsenz sei hoch. Man treffe hier auch bekannte Persönlichkeiten – Filmschauspielerinnen, Schriftsteller oder Politiker wie Avraham Burg (siehe WOZ Nr. 26/10); allerdings nur jüdische Israelis, präzisiert Tamar – für Palästinenser wäre es hier zu riskant. Die meisten hier würden wohl Meretz oder die antizionistische Hadash wählen. Die beiden kommen in der Knesset auf 7 der 120 Sitze.
Und wogegen demonstrieren die Leute? Gegen die israelische Besatzung oder gegen die Vertreibung palästinensischer Familien? Es gebe wohl beides, sagt Tamar. Und Leute wie Yosh, die einen gefährlichen Präzedenzfall befürchteten? Nein, solche kämen nicht hierher. «Aber weisst du», fügt Tamar an, auch den meisten der Leute, die für einen palästinensischen Staat plädierten, gehe es vor allem darum, nicht mit den Palästinensern leben zu müssen – Leute aus der Kadima, der Arbeiterpartei und sogar ihrer Partei.
Anders als die Rechte seien diese Leute nur realistisch genug: Sie wüssten, dass die Gründung eines zweiten Staates dafür die einzige Möglichkeit sei.
Nach gut einer Stunde sind die Menschen verschwunden. Nur einer sitzt noch da. Ein kleiner, bulliger Mann mit buschigem Bart und weisser Dächlikappe: Nasser Ghawi, 47 Jahre alt. Am 2. August 2009 wurde er hier aus seinem Haus geworfen – zusammen mit seiner Frau, seinen fünf Kindern und rund dreissig weiteren Angehörigen.
Morgens um 4.30 Uhr hätten die Soldaten die Tür aufgebrochen. Kurz darauf seien seine Familie und er auf der Strasse gestanden. Es gebe insgesamt 21 arabische Länder, wo er hingehen könne, habe ihm der Kommandant der israelischen Kampfeinheit geraten. Doch hier gebe es für ihn keinen Platz.