Island nach der Finanzkrise: Ein Bankraub und seine Folgen

Nr. 37 –

Vor zwei Jahren brachen in Island die Banken zusammen, der Staat ging faktisch bankrott. Was heisst das für die gewöhnlichen Leute? Wie lebt es sich heute in Island? Es erzählen ein Feuerwehrmann, eine Architektin und ein Designer, die fast alles verloren haben, eine politische Demonstrantin sowie ein Bauernpaar und eine Managerin, die knapp davongekommen sind.


Es war ein gigantischer Bankraub. Maria Jonsdottir hat dabei ihr ganzes Vermögen verloren. Heute ist sie blank, kann sich kaum mehr Zigaretten leisten, und die meisten früheren FreundInnen meiden sie, weil es sie nervt, dass Maria immer über die Bank redet, die sie bestohlen hat. Maria ist Mitte vierzig, immer gut gekleidet. Früher hat sie gemodelt, noch heute ist sie eine schöne Frau. Man duzt sich, weil es im Isländischen keine Höflichkeitsform gibt.

Maria lebt in Reykjavik. Zwei Drittel aller IsländerInnen leben hier, und trotzdem fühlt sich die Hauptstadt an wie ein grosses, wohlhabendes Dorf. Am Nordufer der Stadt, wo man einen freien Blick zum Esja, dem Hausberg von Reykjavik, hat, entstand nach 2002 eine grössenwahnsinnige Kopie der Wall Street. Ein Glaspalast wuchs neben dem anderen. In wenigen Jahren wurde die betuliche Stadt in die Glamourwelt des Finanzkapitalismus katapultiert. Doch dann, vor zwei Jahren, war es vorbei: Die drei Banken Glitnir, Kaupthing und Landsbanki stürzten in sich zusammen – und Island lag am Boden.

Maria, die Beraubte

Maria hatte nichts mit den Wikingern zu tun. Wikinger, so nennen die IsländerInnen die Maniacs, die mit ihren irren Geschäften zuerst unverschämt reich wurden und danach das Land in den Abgrund trieben. Marias Elend begann zu einem Zeitpunkt, als Reykjavik noch trunken war vom vielen Geld, das die Stadt heimsuchte.

Maria: «Ich hatte mit meinem Mann günstig ein grosses, altes Haus gekauft. Wir steckten viel Geld und Arbeit hinein und renovierten es zu einem luxuriösen Schmuckstück. Dann ging die Ehe auseinander, und wir liessen uns scheiden. Ich hatte den Plan, das Haus zu verkaufen und mir mit dem Erlös eine Ausbildung zu finanzieren. Ich wollte in Barcelona Innenarchitektur studieren, hatte die Aufnahmeprüfung bereits bestanden. Im Dezember 2007 fand ich einen Käufer. Er war bereit, hundert Millionen Kronen [damals 1,5 Mio. Franken] zu bezahlen, ich hatte noch eine Hypothek von etwa sechzig Millionen auf dem Haus. Die Hypothek war bei Landsbanki, der Käufer hatte sein Geld auch bei Landsbanki – die Abwicklung des Verkaufs sollte also kein Problem sein. Ich wollte den Verkauf möglichst schnell über die Bühne bringen, um nach Spanien überzusiedeln. Die vierzig Millionen hätten gereicht, um einige Zeit davon zu leben.

Im Februar 2008 stellte ich aber fest, dass die Bank das Geld immer noch nicht überwiesen hatte. Ich ging zur Bank. Niemand wollte mit mir reden. Ich ging immer wieder hin, nach einigen Tagen war ich fast verrückt. Ich tobte, ich weinte, schrieb Mails – nichts half. Heute weiss ich, dass Landsbanki damals schon bankrott war und mein Geld benutzte, um irgendwo Löcher zu stopfen. In den nächsten Monaten musste ich zusehen, wie die Kaufsumme verschwand. Ein Teil meiner Hypothek war in ausländischer Währung. Weil die Krone an Wert verlor, sind meine Schulden immer mehr gewachsen und haben am Ende den Erlös aus dem Hausverkauf weggefressen – nur weil die Bank den Verkauf nicht zum richtigen Zeitpunkt abgewickelt hat.

Heute bin ich massiv verschuldet, habe kein Einkommen und keine Ausbildung. Natürlich habe ich einen Anwalt genommen. Der erste hat überhaupt nichts getan. Was rückblickend logisch ist, war er doch gleichzeitig auch für Landsbanki als Anwalt tätig. Das wusste ich aber nicht. Zudem war er Vorsitzender der Anwaltsvereinigung, ich konnte mich also nicht einmal dort beschweren. Die nächsten Anwälte verlangten pro Stunde 40 000 Kronen (320 Franken ), haben aber auch nichts getan. Jetzt habe ich den vierten Anwalt, der scheint besser zu sein, doch hat er einen Vorschuss von 300 000 Kronen gefordert. Zum Glück hat mir eine Freundin das Geld vorgestreckt. Ich kann bis ins letzte Detail belegen, wie mich die Bank betrogen hat. Nur gibt es die Bank nicht mehr. Ich will mein Geld zurück, ich will prozessieren, aber mein Anwalt weiss noch nicht, ob das überhaupt geht.»

Die Finanzmaniacs

Im März legte eine staatliche Untersuchungskommission einen 3000 Seiten starken Bericht über den Bankkollaps vor. Während Wochen stand der Bericht zuoberst auf der isländischen Bestsellerliste. Akribisch legt die Kommission dar, wie es dazu kam, dass die Regierung über Nacht Kaupthing, Landsbanki und Glitnir retten musste. Die drei Banken waren innert weniger Jahre gigantisch gewachsen und wiesen am Ende eine Bilanzsumme auf, die das isländische Bruttoinlandsprodukt um das Zehnfache überstieg. Die Schweiz steckte damals in ähnlichen Schwierigkeiten: Die Bilanzsumme der hiesigen Banken betrug auch das Sechs- bis Siebenfache des Bruttoinlandsprodukts, und die UBS musste mit einem gigantischen Rettungspaket vor dem Absturz bewahrt werden, sonst wäre die Schweiz vermutlich in ähnliche Turbulenzen geraten wie Island.

Die Ursache des Desasters liegt im Jahr 2001, als die bürgerliche Regierung das Finanzsystem liberalisierte und die Banken privatisierte. Unverfroren machte sich eine junge Garde von Bankern auf, die Welt zu erobern. Sie waren nicht nur gierig, sie waren eben auch Isländer. Auf der Insel hat man keine Angst vor dem Dilettieren. Alle dichten, singen, malen ungehemmt – egal ob sie es können oder nicht. Das bringt grandiose KünstlerInnen hervor, gerät aber zur Katastrophe, wenn es auf der globalen Finanzbühne passiert.

Die Ratingagenturen in London und New York hatten ihre Freude an den jungen Wikingern. Sie standen für eine neue unbeschwerte, skrupelfreie Generation, die sich nicht darum scherte, wie heiss der Boden war, auf dem sie tanzte. Die isländische Krone stieg und stieg. Damit wurden alle IsländerInnen reicher, weil die importierten Güter billiger wurden. Die Banken vergaben grosszügig Konsumkredite und Hypotheken, am liebsten in Euro, Schweizer Franken und Yen. Die durchschnittliche Haushaltsverschuldung stieg auf 213 Prozent des Einkommens. Doch als die Krone im Oktober 2008 vierzig Prozent ihres Wertes verlor, explodierten diese ausländischen Kredite. Die Schulden verdoppelten sich sozusagen über Nacht.

Thorallur, der Designer

Thorallur Arni Ingason weiss nicht, wie lange er seine Wohnung noch halten kann. Er ist fein gekleidet und gehörte einmal zu den besten Badmintonspielern des Landes. Hätten es seine Eltern nicht verhindert, wäre er in Indien zum Profispieler geworden. Doch dann studierte er in London Design, kehrte nach Reykjavik zurück und baute mit seiner Frau eine Firma auf, die Kinderkleider herstellte.

Thorallur: «Wir konnten keine Kinder bekommen. Deshalb haben wir 2002 beschlossen, ein Kind aus Indien zu adoptieren. Weil wir mit unserer kleinen Fabrik kein regelmässiges Einkommen hatten, wie es die Adoptionsbehörde verlangte, gaben wir die Firma auf. Ich begann bei einem Unternehmen, das Granitplatten für Küchenabdeckungen produzierte. Das Geschäft lief glänzend, ich verdiente um die 500 000 Kronen im Monat. Vor fünf Jahren konnten wir dann unser Mädchen adoptieren. Es lief alles toll. Wir beschlossen, in Indien ein zweites Kind zu adoptieren. Im Februar 2008 erhielten wir die Adoptionsbewilligung, im August konnten wir den Jungen holen. In unserem Haus mussten einige Renovationsarbeiten vorgenommen werden. Wir brauchten Geld und wollten bei der Bank ein Darlehen aufnehmen. Wir hatten vorher schon eines aufgenommen, um die Kosten für die zweite Adoption zu decken.

Doch als wir im August 2008 bei der Bank vorsprachen, begannen die Probleme. Der Kollaps war da, obwohl man uns das nicht offen sagte. Im November verlor ich meinen Job, weil ab Oktober auf den meisten Baustellen sämtliche Arbeiten eingestellt worden waren – niemand brauchte mehr Granitabdeckungen. Ich dachte, ich würde problemlos einen neuen Job finden. Doch ich habe mich geirrt. Heute bekomme ich im Monat noch 140 000 Kronen Arbeitslosengeld. Wir können die Zinsen für die Kredite nicht mehr bezahlen. Noch wohnen wir in unserer Wohnung, aber wir können sie jederzeit verlieren. Bis im Herbst 2008 war alles perfekt – und plötzlich war alles weg! Was ich nicht verstehe: Der Staat hat die Schulden der Wikinger übernommen und die Banken gerettet, aber für die gewöhnlichen Leute tut er nichts.

Ich will ja nicht, dass sie mir die Schulden erlassen, ich möchte nur, dass sie mir einen Aufschub gewähren – damit ich meine Wohnung nicht verliere. Bis im Herbst gibt es ein Moratorium, niemand darf aus der Wohnung geworfen werden, auch wenn man die Hypozinsen nicht bezahlen kann. Was ist, wenn das Moratorium ausläuft? Viele werden ihre Häuser oder Wohnungen verlieren. Es wird schrecklich.»

Nicht nur Leute mit ausländischen Krediten stecken in der Falle. Auch die, die Schulden in Kronen haben – weil in Island die Schulden an die Inflation geknüpft sind. Je höher die Inflation, desto höher klettern die Schulden. In Reykjavik haben die meisten Leute ihre Wohnungen oder Häuser gekauft. Offizielle Stellen gehen davon aus, dass zwanzig Prozent der Haushalte in einer ökonomisch höchst prekären Situation sind, ihre Schuldzinsen nicht mehr bedienen und ihre Wohnungen kaum werden halten können.

Kristina, die Demonstrantin

Noch ist das Sozialsystem halbwegs intakt, doch dürfte sich das ändern. Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat der bürgerlichen Regierung vor zwei Jahren in grösster Not einen Kredit gewährt. Jene Regierung ist weg, der IWF aber immer noch da und fordert ein rigoroses Sparprogramm.

Das IWF-Büro liegt direkt hinter dem Regierungsgebäude. Oft stehen DemonstrantInnen mit Töpfen und Tröten davor und machen einen Höllenlärm.

Kristina Snaefells Arnthorsdottir ist mit ihrem winzigen Hund Tristan oft dabei. Man kennt sie, weil sie mit ihrem Megafon den PassantInnen erklärt, dass der Staat sie alle beklaut, dass es eine Räuberbande ist, dass man eine neue Regierung will, dass es so nicht weitergehen kann. Und für die TouristInnen übersetzt sie es ins Englische. Sie lacht wie verrückt, schüttelt ihre blonden, lockigen Haare – eine Frau wie ein Tornado. Manchmal rangelt sie mit den Polizisten, die neben den DemonstrantInnen stehen, bewirft das Regierungsgebäude mit Joghurt und provoziert, aber die Polizei lässt sie in Ruhe. Andere wurden für ähnliche Proteste verhaftet und stehen zurzeit vor Gericht. Kristina wird das ihrer Verwandtschaft wegen vermutlich nie passieren.

Kristina: «Mein Grossvater war Polizeichef von Reykjavik, mein Stiefvater war auch ein hohes Tier bei der Polizei, mein Bruder arbeitet immer noch bei der Polizei. Ich kenne sie alle. Hier kennen alle alle. Das ist auch das Problem. Wo sollen wir Leute hernehmen, die mit dem ganzen Schlamassel nichts zu tun haben? Es geht alles den Bach runter. Der IWF hat das Zepter übernommen, die regieren das Land. Jedes wichtige Regierungsgeschäft geht zuerst über das Pult des IWF, bevor es ins Parlament kommt. Unsere Regierung taugt nichts, die tun einfach nichts. Kein einziges Problem haben sie gelöst.

Es gibt immer mehr Leute, die weder ein noch aus wissen. Vor dem Boom wurde rund um Reykjavik unglaublich viel gebaut. Überall stehen halbfertige, leere Häuser. Und die vielen Einkaufszentren! Eines dieser Einkaufszentren könnte eine Million Menschen versorgen, in Island leben aber nur 300 000. Für wen haben die das alles gebaut? Niemand weiss es. Ich bin sicher, der Internationale Währungsfonds denkt schon darüber nach, wie man die leeren Gebäude nutzen kann. Vermutlich wollen sie Leute nach Island bringen. Überall sonst hat es ja zu wenig Platz. Aber das würde ich ganz schlecht finden. Wir sollten uns wieder auf uns selbst besinnen! Wir müssen wieder lernen, einfach zu leben!»

Kristina hat vor einigen Jahren eine hübsche Dreizimmerwohnung gekauft, jedes Zimmer ist mit einem Flachbildschirm ausgestattet, vor dem Haus stehen ein grosser Grill und ihr neues Auto. Sie zahlt umgerechnet jeden Monat an die 2000 Franken Schuldzinsen. Aber sie hat ihre eigene Firma, betreibt Fundraising für Non-Profit-Organisationen und beschäftigt dreissig Angestellte. Sie kann noch zahlen.

Sveinbjörn, der Feuerwehrmann

Im Juli haben die Feuerwehrleute und SanitäterInnen zum ersten Mal gestreikt. Gemeinsam marschierten sie zum Rathaus, setzten dort eine Wanne mit Öl in Brand und zeigten den Leuten vom Rathaus, wie man das Feuer löscht. Das gab positive Bilder fürs Fernsehen. Aber es ist ihnen ernst, sie wollen streiken bis zum Erfolg – zuerst einige Stunden, dann einige Tage und im Herbst unbefristet.

Sveinbjörn Berentsson ist seit bald dreissig Jahren Feuerwehrmann und Gewerkschafter.

Sveinbjörn: «Es liegt in der Natur unseres Jobs, dass wir nicht ganz streiken können. Aber wir machen nur noch die Notfalleinsätze, holen keine Katzen mehr von den Bäumen. Warum wir streiken? Seit einem Jahr sind wir in einem vertragslosen Zustand. Die Stadtverwaltung wollte uns nur eine Lohnerhöhung von 0,8 Prozent gewähren, wir wollen aber 3 Prozent. Wer bei uns anfängt, hat eine Berufslehre hinter sich, doch verdient er im ersten Jahr nur 169 000 Kronen [1360 Franken], davon gehen dann noch Steuern weg. Mit so wenig Geld kann man nicht leben. Der Streik ist für uns die letzte Option, sonst würden wir es nicht tun. Es gibt bei uns Kollegen, die haben ausländische Kredite aufgenommen und wissen nicht, wie sie die Schulden abbezahlen sollen. Ich selbst hatte 2007 einen Kredit von einer Million aufgenommen, um ein neues Auto zu kaufen. Laut Vertrag sollte ich im Monat 24 000 Kronen zurückzahlen – nach dem Zusammenbruch der Banken waren es plötzlich 55000 Kronen! Ich verdiene im Monat 250 000 Kronen, das wäre nie gegangen. Zum Glück hatte ich eine kleine Erbschaft gemacht. Ich musste im Dezember 2008 1,6 Millionen Kronen hinlegen, um den Kredit loszuwerden – nach dem Vertrag wären es aber nur 673 000 Kronen gewesen, da ich ja schon einen Teil mit den Monatsraten zurückbezahlt hatte. Die haben mich also um eine Million Kronen betrogen. Ich werde klagen, vielleicht habe ich ja jetzt eine Chance.»

Islands oberster Gerichtshof hat im Sommer entschieden, dass die Vergabe von Krediten in ausländischer Währung illegal war. Das Gericht sagte aber nicht, was das bedeutet. Müssen die Leute diese Kredite gar nicht mehr bedienen? Dann könnten die Banken erneut bankrott gehen. Müssen die Leute weiterhin zahlen? Zu welchem Zinssatz? Bislang weiss es keiner, alle bangen, warten, rätseln.

Jorunn und Jon, die Farmer

Die SozialdemokratInnen und die Gewerkschaften wollen in die EU, sofort. Sie sagen, wenn Island der EU angehört hätte, wäre das Land nie gestrauchelt. Und wenn es jetzt den Euro hätte, käme es schnell wieder auf die Beine. Im Juli liess die Regierung, die von den SozialdemokratInnen dominiert wird, verlauten, man nehme jetzt mit der EU Verhandlungen auf. Die links-grüne Bewegung, die ebenfalls in der Regierung sitzt, ist hingegen strikt gegen einen EU-Beitritt, stellte sich aber nicht gegen Verhandlungen, mit dem Argument, die Bevölkerung solle am Ende selbst entscheiden.

Laut Umfragen ist heute die Mehrheit der IsländerInnen gegen einen EU-Beitritt. Eine nationalistische, fremdenfeindliche Anti-EU-Propaganda existiert nicht, was die Debatte entspannt. Am existenziellsten ist die Frage für die Fischerei und die Landwirtschaft. Heute versorgt sich das Land zu einem grossen Teil selbst mit Fleisch, Milch und Gemüse.

Jorunn Svavarsdottir und Jon Gunnarsson sind MilchfarmerInnen. Ihr Hof ist umgeben von weiten Hügeln, nur wenige Kilometer nördlich liegt der Geysir. Er war prächtig und stiess früher eine hundert Meter hohe Fontäne aus. Wegen ihm heissen alle Fontänen der Welt, die heisses Wasser spucken, Geysir. Seit einigen Jahren spritzt Geysir allerdings kein Wasser mehr, Vandalen haben ihn angebohrt, seither ist er nur noch ein türkisfarbener, klarer, heisser Tümpel. Daneben liegt der Geysir Strokkur, der immer noch brav alle paar Minuten sein Wasser vierzig Meter hoch schleudert und die Tausenden von TouristInnen erfreut.

An diesem grauen Tag stehen die Kühe von Jorunn und Jon im Stall. Es sind Islandkühe, rote und braune mit schwarzen Streifen, die ohne Hörner zur Welt kommen.

Jorunn: «Wir haben vor zehn Jahren diesen Hof gekauft. Wir wollten nicht, dass unsere beiden Kinder in der Stadt aufwachsen. Heute haben wir fünfzig Kühe. Pro Liter Milch erhalten wir 72 Kronen (57 Rappen) plus rund 30 Kronen Direktzahlungen vom Staat. Eigentlich hätten die Direktzahlungen steigen sollen, doch nach der Finanzkrise wurden sie eingefroren. Vor einiger Zeit haben wir einen neuen Laufstall gebaut. Der Wind hier ist so heftig, die Kühe müssen deshalb im Winter einen guten, isolierten Stall haben, das macht es teuer. Würde Island der EU beitreten, dann hätten wir vermutlich keine Chance zu überleben. Die Produktion ist hier viel teurer als zum Beispiel in Dänemark, wir könnten mit jenen Bauern nie konkurrieren. Deshalb sind alle Farmer in Island gegen einen EU-Betritt.»

Jon: «Heute kommen wir ganz gut über die Runden. Wir haben auch nie mehr Geld aufgenommen, als wir uns leisten konnten. Vor drei Jahren wollten wir einen Traktor kaufen und brauchten dafür von der Bank etwas Geld. Es war ein Occasionstraktor, zwei, drei Jahre alt. Als die bei der Bank das hörten, sagten sie: ‹Warum kauft ihr nicht einen neuen Traktor? Ihr bekommt den Kredit problemlos.› Wir wollten aber nicht. Der Bauer, der uns den Traktor verkauft hat, kaufte einen neuen, grossen. Heute hat der Bauer nichts mehr. Seine Schulden waren so hoch, dass er alles verloren hat. Vor drei, vier Jahren fühlte man, dass da eine Blase war. Diese teuren US-amerikanischen Pick-ups boomten, alle wollten einen. Die Nachfrage war so gross, dass sie sie einfliegen mussten. Wir haben zum Glück altmodisch gewirtschaftet und fahren immer noch unser zehn Jahre altes Auto.»

Bryndis, die Managerin der StrickerInnen

Die Hallgrimskirkja ist das markanteste Bauwerk von Reykjavik – eine Kirche aus Beton, die gleich einer Rakete auf einem Hügel mitten in der Stadt thront. Nicht weit von der Kirche findet sich der Laden der Handknitting Organisation, der Strickvereinigung. Ein schlichtes Lokal mit Holzgestellen und Beigen von Islandpullis in Braun, Weiss, Rot oder Blau mit den typischen Zackenmustern um die Schultern.

Bryndis Eriksdottir ist die Managerin der Strickvereinigung. Sie arbeitet nebenan in einem winzigen Lokal, an der Wand hängen Reissverschlüsse in diversen Farben und Grössen. In grossen Plastiksäcken warten Pullover darauf, dass sie einen Reissverschluss verpasst bekommen.

Bryndis: «Ich habe vor dreissig Jahren begonnen, für die Organisation zu arbeiten. Sie wurde Ende der siebziger Jahre gegründet. Die Souvenirgeschäfte suchten damals Frauen, die für sie strickten. Wenn die Frauen dann aber ihre Pullover brachten, bekamen sie zu wenig Geld dafür, oder der Pullover passte nicht. Da sagten sich die Frauen: Wir könnten doch die Pullover auch selbst verkaufen. Beim ersten Treffen kamen fast tausend Frauen. Heute haben wir hundert bis dreihundert Personen, die regelmässig stricken – es sind auch drei Männer darunter. Um einen Pullover zu stricken, braucht man etwa 24 Stunden. Ein Pullover kostet umgerechnet rund 100 Euro. Für alle, die für uns stricken, ist es ein Hobby – niemand lebt davon. Der Bankkollaps war für uns kein Drama. Im Gegenteil: Als die Krone so hoch war, konnten sich die Touristen keine Pullover mehr leisten. Heute verkaufen wir mindestens doppelt so viel wie noch vor dem Crash. Vorher haben uns alle belächelt und gemeint, wir hätten keine Ahnung von Business. Heute sind wir wieder in. In die Politik habe ich überhaupt kein Vertrauen mehr. Reykjavik hat einen Bürgermeister, der früher Schauspieler und Komiker war. Er trat mit dem Wahlprogramm an, sich für offene statt verdeckte Korruption und für Gratishandtücher in den Bädern einzusetzen. Die Leute haben ihn trotzdem gewählt – und soweit ich sehe, macht er seinen Job gar nicht schlecht. Wir sind ja so wenige, da findet sich kaum jemand, der nicht in diese üblen Geschäfte involviert war.»

Die Schuldenberge Islands sind nicht zu sehen. Nur die leerstehenden Glaspaläste drohen zu vergammeln. Die IsländerInnen müssen voraussichtlich britischen und niederländischen SparerInnen umgerechnet fast 6 Milliarden Franken zurückbezahlen, die jene durch den Bankencrash verloren haben – das macht pro Kopf fast 20 000 Franken. Zwar lehnten die IsländerInnen im März einen entsprechenden Rückzahlungsvertrag ab. Doch damit ist der Schuldenberg nicht verschwunden, die britische wie die niederländische Regierung beharren auf der Rückzahlung. Die isländische Regierung weiss nicht, wie sie den elenden Schulden entkommen soll. Die Spätfolgen des monströsen Bankraubs werden noch lange böse Schmerzen verursachen.


Wie es zum Crash kam

Von 1991 bis 2009 regierte in Island die konservative Unabhängigkeitspartei, die einen streng neoliberalen Kurs verfolgte. 2001 wurde das Finanzwesen radikal liberalisiert und die bis dahin staatlichen Banken schrittweise privatisiert. Fortan gehörten Kaupthing, Landsbanki und Glitnir einigen wenigen reichen isländischen Geschäftsleuten. Gleichzeitig drängten draufgängerische Unternehmer wie Jons Asgeier Johannesson auf den Markt. Er baute eine Billig-Discounter-Kette auf und stiess mit Unterstützung der Kaupthing-Bank später auf den europäischen Markt vor, insbesondere nach England. Die Bank lieh ihm unbeschränkt Geld, mit dem er zahlreiche Firmen aufkaufte; 2008 besass er in Britannien fast 4000 Unternehmen mit 65 000 MitarbeiterInnen.

Die anderen zwei Banken, Landsbanki und Glitnir, betätigten sich ebenfalls als Investmentbanken. Der isländische Markt war dafür aber zu klein, weshalb sie zunehmend Geschäfte im Ausland suchten. Anfänglich fuhren die Banken prächtige Gewinne ein, worauf sie immer grössere Risiken eingingen. Ohne Sicherheitsnetz allerdings: Bei Liquiditätsproblemen wäre die Zentralbank nicht stark genug gewesen, einzuspringen. Als Schwierigkeiten mit ausstehenden Krediten einsetzten, expandierten die Banken noch gefährlicher. Landsbanki lancierte zum Beispiel 2006 Icesave, eine Internetbank, um an neues Geld zu kommen und die Liquiditätsengpässe zu beheben. Die Bank versprach britischen, niederländischen, aber auch Schweizer AnlegerInnen noch 2008 exorbitante Renditen.

Die internationalen Ratingagenturen schürten den Boom und gaben den isländischen Banken weiterhin Bestnoten, als diese faktisch schon bankrott waren. Im Oktober 2008 brach dann das System zusammen, und die massiv geschrumpften Banken wurden wieder verstaatlicht. Neben der Aufarbeitung der Krise durch eine staatliche Untersuchungskommission sind auch verschiedene Privatklagen gegenüber Verantwortlichen der Banken hängig.

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Dieser Artikel wurde ermöglicht durch den Recherchierfonds des Fördervereins ProWOZ. Dieser Fonds unterstützt Recherchen und Reportagen, die die finanziellen Möglichkeiten der WOZ übersteigen. Er speist sich aus Spenden der WOZ-Leser:innen.

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