IV-Manifest: Behindertenverbände wehren sich gegen den Abbau der Sozialleistungen

Nr. 39 –

Die IV ist fünfzig Jahre alt. Doch bei den Behindertenverbänden kommt keine Festlaune auf. Gegen den drohenden Sozialabbau bei der IV-Revision will der grösste Behindertenverband Procap Gegensteuer geben.


Wer hat bemerkt, dass die Invalidenversicherung (IV) dieses Jahr Geburtstag hat? Kaum jemand. Das zweite grosse Sozialwerk der Schweiz trat 1960 in Kraft. Doch eine geplante Jubiläumsfeier fiel ins Wasser. Als das Bundesamt für Sozialversicherung (BSV) letztes Jahr die Behindertenverbände anschrieb, winkten diese ab. Der Dachverband DOK (Dachorganisationskonferenz der privaten Behindertenhilfe) beschloss, auf Feierlichkeiten zu verzichten. Aus diesem Grund tourt heute bloss eine Kleinausstellung zum Thema «Arbeitsintegration» durch die IV-Stellen der Kantone. Dies praktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.

Ärger über Ständerat

Der Grund für das Nein der Behinderten: Man ist sauer auf den Bund, weil das Milliardendefizit der IV vor allem durch Leistungsabbau beseitigt werden soll (vgl. «Ein Referendum wird diskutiert» am Schluss dieses Textes). Nach Meinung der DOK sind die Vorschläge übereilt und lassen den IV-Stellen kaum Zeit für die Umsetzung der Massnahmen aus der 5. IV-Revision von 2007. Der Ärger wuchs, als der Ständerat im vergangenen Juni dem ersten Paket der 6. IV-Revision, genannt «6a», zustimmte. Bis 2018 sollen 16 800 IV-RentnerInnen wieder in den Arbeitsmarkt integriert werden. «Wirklichkeitsfremd», so die Kritik der DOK. Dieses Ziel bleibe eine Illusion, wenn die UnternehmerInnen nicht bereit seien, gesundheitlich beeinträchtigte Personen anzustellen. Sie verlangt daher, auf fixe Vorgaben zu verzichten.

Die DOK ist ein bunter Haufen, in dem sich über ein Dutzend verschiedenster Organisationen vom Blindenverband über den Gehörlosenbund bis zur Rheumaliga versammeln. Da gehen die Meinungen auseinander. Zum Beispiel will der grösste Verband Procap (Schweizerischer Invaliden-Verband) nicht zum IV-Jubiläum schweigen, sondern den Anlass für eine Rückbesinnung auf die Bedeutung des Sozialwerks nutzen: «Der Öffentlichkeit muss wieder bewusst werden, was die IV für unser Land bedeutet», sagt Mediensprecher Bruno Schmucki. Die Versicherung sei von den Behinderten erkämpft worden, um aus der «Armengenössigkeit» herauszukommen. Es müsse alles getan werden, um einen Rückfall in diese Ära zu vermeiden.

Von der Fürsorge abhängig

Tatsächlich war von den 200 000 Invaliden in den fünfziger Jahren die Hälfte von der Fürsorge abhängig. Der blinde Drehorgelspieler war in allen Städten präsent. Die Bundessubvention an Behinderte hiess damals noch abschätzig «Anormalenkredit». Der Invalidenverband forderte eine gesetzliche Versicherung anstelle von blosser privater Wohltätigkeit. «Das ist die vom Krieg verschonte Schweiz ihren invaliden Mitbürgern schuldig», hiess es. Die moskautreue Partei der Arbeit (PdA) reagierte auf den Ruf am schnellsten und lancierte 1953 eine Volksinitiative zur Einführung einer IV.

Dies rief SP und Gewerkschaften auf den Plan, die ihrerseits eine Initiative starteten, um das Anliegen «zu retten», wie sie sagten. Dank besserem Apparat, aber auch mit Unterstützung der Behindertenverbände, die mit den Kommunisten nichts zu tun haben wollten, reichte die SP ihre Initiative zuerst ein. Das PdA-Volksbegehren fiel unter den Tisch. In nur fünf Jahren wurde der fehlende Pfeiler des Sozialstaats Schweiz errichtet. 1960 trat die IV in Kraft. Interessant ist, dass bereits damals das Prinzip «Eingliederung vor Rente» grossgeschrieben wurde. Bis zur Ölkrise in den siebziger Jahren kamen Behinderte in der boomenden Wirtschaft gut unter. Erst danach begann es zu hapern. Im globalisierten Konkurrenzkampf von heute sinkt die Bereitschaft der Unternehmen mittlerweile gegen null, auch Leistungsschwächere zu beschäftigen. Wo die 17 800 IV-RentnerInnen aus der 6. IV-Revision unterkommen sollen, weiss niemand.

Zehn Forderungen

Procap hat unlängst ein Manifest mit «10 Forderungen zum 50-Jahr-Jubiläum der IV» veröffentlicht, nachzulesen auf www.procap.ch. Zu den prominenten ErstunterzeichnerInnen gehören die Parteichefs Christian Levrat, SP, und Christophe Darbellay, CVP, sowie die Zürcher Nationalrätin Silvia Schenker, SP. Revolutionäres findet man im Papier nicht, aber es dokumentiert ein neues Selbstbewusstsein der Betroffenen. So wird verlangt, dass die Integration von Menschen mit einer Behinderung zu einer Selbstverständlichkeit werden müsse. Behinderte gehörten zu den «Starken in der Gesellschaft» und trügen viel zum Funktionieren der Gemeinschaft bei. Weiter werden Arbeitsplätze und Assistenzmodelle verlangt, die zur Autonomie von Behinderten beitragen. Mehr symbolisch wünscht man sich auch eine Umbenennung der IV: «Invalid» heisse wertlos, und das führe nicht zu einem respektvollen Umgang mit Behinderten.

Viel Ärger ruft ferner hervor, dass die Schweiz die Uno-Konvention zum Schutz der Rechte von Menschen mit Behinderungen aus dem Jahr 2006 immer noch nicht ratifiziert hat. Diese wurde bisher von 87 Staaten unterzeichnet, verbietet jegliche Diskriminierung von Behinderten und fordert unter anderem das Recht auf ein unabhängiges Leben und auf Beschäftigung. Peter Wehrli vom Zentrum für selbstbestimmtes Leben in Zürich koordiniert eine Onlinepetition, die derzeit 2100 Unterschriften zählt. Der Bundesrat hat angekündigt, in nächster Zeit eine Vernehmlassung zur Ratifizierung zu eröffnen. Bis Weihnachten will Procap Unterschriften für das Manifest mit den zehn Forderungen sammeln und so laut Bruno Schmucki «die Öffentlichkeit sensibilisieren». Man hofft, Bundesrat Didier Burkhalter ein «Riesenpaket» überreichen zu können.


Rentenklau: Ein Referendum wird diskutiert

Die von einem Schuldenberg von 13,9 Milliarden Franken geplagte Invalidenversicherung soll saniert werden. Aber nicht nur mit den Mehreinnahmen aus der Erhöhung der Mehrwertsteuer, die vom Volk vor einem Jahr gutgeheissen wurde («Zusatzfinanzierung IV»), sondern vor allem durch Rentenabbau. Das schafft böses Blut. Die Behindertenverbände wollen einen Sozialabbau nicht hinnehmen und sprechen bereits von einem Referendum gegen die 6. IV-Revision.

Nach dem bundesrätlichen Plan sollen in einem ersten Teil 16 800 RentnerInnen wieder in den Arbeitsmarkt zurückgeführt werden. Im zweiten Teil soll dann das Rentensystem selbst geändert werden: Die heutigen Halb- und Viertelsrenten würden wegfallen und durch ein System ohne Stufen ersetzt. Da damit 800 Millionen Franken jährlich eingespart werden sollen, würden faktisch rund vierzig Prozent der Renten gekürzt.

Die Kürzung bestehender Renten käme einem Tabubruch gleich. Das macht die IV-Revision sozialpolitisch explosiv. Der jüngste Entscheid des Bundesgerichts, das Schleudertrauma nicht mehr als IV-berechtigt anzuerkennen, hat noch zusätzlich Öl ins Feuer gegossen. Nach der BVG-Revision, der Revision der Arbeitslosenversicherung und der AHV-Revision stehen auch bei dieser Vorlage die Zeichen auf Sturm.