Kunst und soziales Engagement: Eine Ausstellung, die sich laufend verändert

Nr. 3 –

Gesetzt, jeder Mensch sei ein Reiskorn und der Rest Statistik: Patroniert vom Indienforum stellt in Bern eine Ausstellung Fragen zu sozialen Ungleichheiten und spricht damit vor allem auch Jugendliche an.


Grosse Halle der Reitschule in Bern: Die Ausstellung heisst «Ungleichheiten». Auf dem weiten, schwarzen Teerboden bilden rechteckige Papiere weisse Flecken, unterschiedlich gross, in Gruppen geordnet. Auf jedem Blatt liegen Reiskörper, zu Häufchen, Haufen und ab zu kleinen Bergen zusammengeschoben. Jedes Reiskorn ist ein Mensch, ein Kilogramm Reis sind dann 60000 Menschen, die aktuelle Weltbevölkerung entspräche ungefähr 115 Tonnen Reis.

Der bisher grösste Reisberg in der Halle symbolisiert die Zahl der Flüchtlinge weltweit. Etwas weiter drüben eine Reihe von Blättern mit fast gleichlautenden Legenden: «Einwohner und Einwohnerinnen des Tschad, die gemeinsam gleich viel CO2-Emmissionen verursachen wie ein Mensch in Pakistan.» – «... in der Schweiz.» – «... in den USA.» – «... in Katar.» Auf den Blättern die entsprechenden Reishaufen. Alles andere passiert im Kopf. Und wer beim Nachdenken leise Stimmen hört, hört nicht die in Körnern symbolisierten Menschen sprechen, sondern Stimmen aus aller Welt, die ein BBC-Journalist zu einer Collage zusammengeschnitten hat. Sie werden über Lautsprecher eingespielt.

Ungleichheit am Beispiel Indiens

«Of all the People in all the World» nennt die Theaterkompanie Stan’s Café aus dem englischen Birmingham ihr Projekt. Seit 2003 hat sie es in mehreren Dutzend Städten Europas und darüber hinaus gezeigt. Jack Trow ist einer der Schauspieler der Truppe, der die Ausstellung als Performer betreut. Er sagt, man habe bewusst minimalste Mittel zur Darstellung gewählt, «damit die Visualisierung der statistischen Grössenverhältnisse möglichst stark wirkt». Er spricht von «story telling power» – und tatsächlich ist die Fragen und Geschichten generierende Kraft erstaunlich, die diese Reis-Installationen entfalten.

Die Ausstellung steht unter dem Patronat des Fördervereins Cesci, der in Madurai in Südindien das Centre for Experiencing Socio-Cultural Interaction betreibt. Hier wird der Austausch zwischen Süd und Nord gefördert und insbesondere die Ekta Parishad unterstützt, eine Bewegung von Landlosen und UreinwohnerInnen, die für ihre Rechte kämpfen. Gegründet worden ist das Zentrum von der früh verstorbenen Schweizerin Maja Koene, deren Vorbild das linke Ferien- und Bildungszentrum Salecina war. Dort hat sie gelernt, wie wichtig es für eine Bewegung ist, dass sich AktivistInnen zurückziehen, erholen und weiterbilden können.

Küde Meier ist Kulturökonom und Vizepräsident des Fördervereins Cesci. Er erzählt ein anderes Beispiel von Nord-Süd-Wissenstransfer: Vor einigen Jahren hat ein Vertreter der Reitschule im südindischen Cesci-Zentrum an einem Workshop teilgenommen. Dabei berichtete er, wie in Bern kultureller und politischer Arbeit Kontinuität gegeben wird, nämlich über die Quersubventionierung aus einem Einnahmenpool von Geld aus verschiedenen Arbeitsgruppen. «Das war für die Ekta-Parishad-Leute ein nützlicher Input. Heute betreibt die Bewegung dort selbst sechs Kulturhäuser, die ähnlich wie die Reitschule funktionieren.»

Umgekehrt hat auch Meier von P. V. Rajagopal, dem charismatischen Gründer und Leiter von Ekta Parishad, gelernt: «Er sagt, dass wir den Leuten in Indien am meisten helfen, wenn wir hier dafür sorgen, dass der Unterdrückungs-, der Ausbeutungstransfer nicht erst in Indien unterbrochen wird.» Geht es in Südindien heute konkret um die Gemeingüter Land, Wasser und Wald, beginnt der Widerstand in der Schweiz bei den eigenen Kleidern: Es liegt an jeder und jedem Einzelnen, ob sie oder er sich für fair und biologisch produzierte, dafür teurere Kleider entscheidet – oder andernfalls in Kauf nimmt, dass im billigen T-Shirt Kinderarbeit und gentechnisch veränderte Baumwolle stecken.

Die Künstlerkompanie Stan’s Café war schon vor einem Jahr in der Reitschule. Damals zeigte sich, dass sich junge Menschen mit den teilweise frappierenden Visualisierungen der Zahlenverhältnisse für soziale Ungleichheit und politisches Unrecht interessieren lassen. Darum hat die Kompanie in diesem Jahr ihr Ausstellungskonzept um einen interaktiven Aspekt erweitert: Bisher siebzehn Schulklassen machen mit und haben ihrer Anmeldung gleich Fragen beigelegt, die sie in einem Reisbild dargestellt sehen möchten.

Der Reis lockt Leute an

Giorgio Andreoli vom Verein Grosse Halle sammelt diese Fragen. «Wie viele Ausländer leben in der Schweiz, und wie viele Schweizer leben im Ausland?» soll etwa umgesetzt werden. Oder: «Wie viele Menschen in den USA sterben an Übergewicht, wie viele in Indien an Hunger?» Beim Versuch, solche Fragen zu gestalten, wird sich die Ausstellung in den kommenden Tagen laufend verändern.

Für Andreoli ist die Koproduktion von Stan’s Café und Cesci ein Glücksfall: «In solchen Konstellationen können Gegenwartskunst und soziales Engagement in eine interessante Verbindung gebracht werden.» Er sei überzeugt, wenn man heutzutage zu einem Vortrag über Ekta Parishad einladen würde, kämen nicht mehr als fünf speziell Interessierte. Aber vor einem Jahr, anlässlich der letztjährigen Tour de Lorraine, hätten an jenem einzigen Abend um 400 vor allem junge Leute die Reis-Ausstellung besucht, und es sei ein wirklich spannender Abend geworden.

Apropos Tour de Lorraine: Die Berner Veranstaltungsreihe, die als Anti-Wef-Protest nach der Jahrtausendwende begonnen hat, findet auch heuer statt. Und zwar ab Mittwoch dieser Woche. Das Thema könnte von Ekta Parishad stammen: «Gemeingüter befreien». Die Ausstellung in der Grossen Halle der Reitschule wird bis um Mitternacht geöffnet sein.


www.stanscafe.co.uk, www.cesci.ch, www.tourdelorraine.ch

Jansatyagraha 2012

Der Förderverein Cesci forciert in diesem Jahr die Aufklärungsarbeit für die indische Landlosenbewegung Ekta Parishad. Das hat einen Grund: Im Oktober 2007 sind 25000 landlose Menschen in dreissig Tagen auf der Autobahn die 340 Kilometer von Gwalior nach Delhi gegangen, um ihrer Forderung nach Umsetzung der längst gesetzlich verankerten Landrechtsreform Nachdruck zu verleihen.

Schon damals hat der Menschenrechtsaktivist P. V. Rajagopal als Leiter von Ekta Parishad angekündigt, im Oktober 2012 werde er mit 100000 Menschen zurückkommen. Dieser Marsch – der «Jansatyagraha 2012» – soll zur grössten gewaltlosen Aktion aller Zeiten werden und das Gemeingut Land insbesondere für die Angehörigen der kastenlosen Dalits und für die UreinwohnerInnen des Landes einfordern. In Indien leiden heute mehr als 200 Millionen Menschen an Hunger und Unterernährung; in der Ausstellung entspräche das einem Berg von knapp 3,5 Tonnen Reis.

www.ektaparishad.com