Stimmen aus Kyoto: Flüchten oder bleiben: ein schwerer Entscheid

Nr. 11 –

Nur langsam liefern die japanischen Medien Informationen über das Ausmass der Atomkatastrophe. Aber Weggehen ist nicht so einfach.


Noch scheint in Kyoto alles normal. In der Stadt mit eineinhalb Millionen EinwohnerInnen rund 400 Kilometer südwestlich von Tokio war das schwere Erdbeben von vergangener Woche kaum spürbar. Alles funktioniert – noch. Die Läden sind noch geöffnet und gut bestückt. Nichts weist darauf hin, dass im Nordosten des Landes eine atomare Katastrophe im Gange ist.

«Äusserlich sehe ich den Menschen kaum etwas an», sagt Markuz Wernli Saito im Videogespräch mit der WOZ, «aber viele meiner ausländischen Freunde sind schon weg oder werden in den nächsten Tagen ausreisen.» Der 43-jährige Schweizer lebt mit seiner 39-jährigen Frau Yuka seit sieben Jahren in Kyoto. Die Ungewissheit darüber, wie es weitergeht, steht ihnen sehr wohl ins Gesicht geschrieben.

«In den nächsten vierzig Stunden wird sich zeigen, welches Ausmass die Katastrophe annehmen wird», sagt Wernli Saito. «Wir haben schon mal Vorräte eingekauft. Und ich habe die Distanz zum AKW Fukushima gemessen. 488 Kilometer.» Das war am Dienstagabend, Lokalzeit. «Wenn wir die Verwandten meiner Frau im Süden besuchen würden, gäbe uns das noch einmal 400 Kilometer mehr.» Eine Zwischenlösung.

Zwischen Angst und Loyalität

Seit Anfang der Woche haben die Saitos Besuch von André Linnepe. Der 35-jährige Japanologe aus Deutschland lebt seit vier Jahren in Tokio. Nun ist er auf dem Sprung nach Hause, hat bereits ein Flugticket. «Mir macht diese atomare Bedrohung enorm Angst», sagt Linnepe. «Ich habe versucht, mir über alle möglichen Medien ein Bild zu machen, doch es sind kaum substanzielle Informationen vorhanden.» Das Einzige, was er derzeit tun könne, sei Distanz zwischen sich und dem AKW zu schaffen. Ob seine japanische Lebenspartnerin mitkommt, weiss er noch nicht. «In Japan gibt es ein ausgeprägtes Nationalbewusstsein», sagt Linnepe. «Es hat einen hohen Stellenwert in der Gesellschaft, dass man loyal ist, durchhält und – vereinfacht gesagt – gemeinsam untergeht.»

Auch beim Ehepaar Saito vermischen sich die Loyalität zu Yukas Familie, die alltäglichen Verpflichtungen gegenüber Arbeit und Studium und ein generelles Zugehörigkeitsgefühl zur Nation mit dem Bewusstsein darüber, dass die Situation brenzlig ist. Das schafft ein schier unlösbares Dilemma. Insbesondere seitdem seit Montag nun auch japanische Medien vermehrt über die Atomkatastrophe berichten. Dennoch versuchen die Behörden und die AKW-Betreiberfirma Tepco weiter, das Ausmass herunterzuspielen. «Das Fernsehen konzentriert sich noch immer stark auf die Rettungsmassnahmen nach dem Tsunami und die tragischen Geschichten, die sich da abspielen», sagt Wernli Saito.

Ausser ein paar Regierungserklärungen über Probleme innerhalb der Sperrzone um das AKW Fukushima und darüber, dass man die Menschen dort evakuieren müsse, sowie ein paar Messwerten zur Radioaktivität aus Tokio gab es bis Dienstag keine offiziellen Informationen, was die Atomkatastrophe etwa für die Region von Kyoto bedeutet. Auch auf der Website der Schweizer Botschaft sei man zurückhaltend. «Sie haben nur Informationen über den Gebrauch von Jodtabletten veröffentlicht und schreiben, dass man die Region um Tokio meiden soll», sagt Wernli Saito.

«Die Menschen glauben: Das kriegen wir hin, das kann ja alles nicht so schlimm sein. Und wenn doch, dann bleibt es ein Problem von Tokio», sagt Wernli Saito. Die Gefahr scheint für viele nicht real zu sein. Auch Yuka Saito meint: «Wir haben über das Internet Zugang zu so vielen Informationen. Aber alles klingt genauso gefährlich wie bizarr.» Es gäbe keine Standards, nach denen man die oft widersprüchlichen Informationen einordnen könne. Nur eines ist klar: «Was immer gerade passiert, es ist gross.» Und ihr Mann meint: «Man will irgendwie vernünftig bleiben, nicht in Panik geraten und davonrennen.»

Ein neues Bewusstsein

Dass die dreifache Katastrophe – Erdbeben, Tsunami und atomare Bedrohung – das Land auf Dauer verändern wird, davon ist Markuz Wernli Saito überzeugt. «Ich war siebzehn, als die Tschernobyl-Katastrophe passierte.» Diese Erfahrung habe das Denken und Handeln der europäischen Gesellschaften über Jahre beeinflusst. «Ich kann zwar nicht beurteilen, ob die Atomkatastrophe in Japan mit Tschernobyl vergleichbar ist. Aber es wird zweifellos ein neues Bewusstsein in der japanischen Gesellschaft entstehen.»

Bisher habe man einfach geglaubt, was von oben gekommen sei. Bisher habe es nur marginale Gruppen gegeben, die gegen die Atomenergie protestierten. Die seien aber in der Öffentlichkeit nicht wahrgenommen worden. Das werde sich nun ändern. Und Yuka Saito fügt hinzu: «Unsere einzige Hoffnung ist, dass die Erkenntnis über die Fehler, die wir mit der Atomenergie gemacht haben, der Welt etwas Gutes bringt.»