Aufbruch in Japan: Sechs Ketzer und ein Bergkobold

Nr. 20 –

Seit der Atomkatastrophe in Fukushima haben die Anti-AKW-Organisationen enormen Zulauf. 15 000 Menschen haben kürzlich gegen die Atompolitik und die Vertuschungen von Regierung und AKW-Betreibern protestiert. Für Japan eine stolze Zahl.


Es ist Samstag, der 7. Mai, kurz vor drei Uhr nachmittags. In Tokios Yoyogi-Park stehen rund 15 000 AKW-GegnerInnen, um ihren Protestmarsch gegen Japans Atompolitik durch die Stadt zu beginnen. Es ist eine bunte Schar von altgedienten AktivistInnen, Gewerkschaftsmitgliedern, besorgten Müttern, aber auch vielen Jungen und Älteren, die zum ersten Mal ihren wachsenden Unmut öffentlich machen.

Verschiedene Gruppierungen haben zu einer Soundparade aufgerufen. Mit der Musik habe man insbesondere junge Leute ansprechen wollen, sagen die OrganisatorInnen. Der Umzug gleicht denn auch zeitweise einem Volksfest; auf zwei Lastern läuft ein Rockkonzert, dahinter wird getrommelt und getanzt. Clowneske Gestalten geben unter den wachsamen Blicken der OrdnungshüterInnen eine Darbietung zum Thema atomarer Weltuntergang. Daneben gibt es aber auch ernste Gesichter. Viele halten selbst gebastelte Plakate hoch, auf denen «No Nukes» zu lesen ist. Und immer wieder skandiert die Menge: «Genpatsu yameyo, genpatsu iranai!» (Stoppt die AKWs, wir brauchen sie nicht!)

Eine Theatergruppe aus Kawasaki zeigt einen traditionellen Volkstanz aus Okinawa. «Wir sind alte Bürgeraktivisten und können nicht einfach abseitsstehen», sagt der Anführer der Truppe. Eine andere BürgerInnenvereinigung ist vom Takao angereist, einem heiligen Berg in Westtokio, und bringt eine Kopffigur des Tengu (eine Art langnasiger Bergkobold) mit, die wie ein Shintoschrein auf den Schultern einiger Träger ruht. «Wir verehren Tengu wie einen Gott», sagt eine Aktivistin. «Er soll uns vor radioaktivem Regen schützen.» Immer wenn ihr Berg bedroht sei, würden sie aktiv. So konnten sie etwa den Bau eines Tunnels verhindern. «Im Moment haben wir grosse Angst, denn niemand erklärt uns, wie gross die atomare Gefahr wirklich ist.»

Auf Tofu gebaut

Es ist seit dem 11. März, als die Atomkatastrophe von Fukushima begann, bereits die zweite grosse Demonstration in Tokio. «So etwas haben wir nach den Protesten wegen der Tschernobyl-Katastrophe von 1986 nicht mehr erlebt», sagt Kikue Bando von Tampoposha, einer nichtstaatlichen Organisation (NGO), die für ein atomfreies Japan kämpft. «15 000 sind für Japan eine stolze Zahl.» Die Protestbewegung sei in Tokio zuvor fast eingeschlafen, sei von Medien und Öffentlichkeit vergessen oder ignoriert worden.

«Das war frustrierend», sagt Yukio Yamaguchi, Wissenschaftler und Ko-Direktor des Citizens› Nuclear Information Center. Jahrelang hat er vor der Erdbebengefahr gewarnt, so in der Präfektur Niigata, wo der Kashiwazaki-Kariwa-Komplex steht, das leistungsstärkste Atomkraftwerk der Welt. «Die Anlage wurde auf einem Ölfeld gebaut, und direkt darunter befindet sich eine Verwerfung. Wir nennen es das ‹auf Tofu gebaute› AKW.» Auch der Atomgegner Hiroaki Koide, Assistenzprofessor am atomaren Forschungsinstitut der Universität Kioto, blickt auf eine lange Leidensgeschichte zurück. Immer wieder wurden ihm Forschungsgelder gestrichen, auf seine Beförderung musste er lange warten. Er gehört einem kleinen Kreis von Forschern an, die in Fachkreisen als die «Sechs Ketzer der Uni Kioto» verschrien waren. «Gegen die unheilige Allianz aus Regierung, Stromindustrie und dem Gros der Wissenschaft hatten wir keine Chance», sagt Koide.

Endlich hätten die EinwohnerInnen Tokios gemerkt, dass die Atompolitik trotz der geografischen Entfernung zu den AKWs auch sie etwas angehe, meint Kikue Bando von Tampoposha. «Wir erhalten täglich unzählige Anrufe von besorgten Bürgern, die sich über die Lage in Fukushima oder die Lebensmittelsicherheit informieren wollen. Unsere Seminare und Symposien sind extrem gut besucht.» Die Tokyo Electric Power Coporation (Tepco), Betreiberfirma der AKWs, habe alle Glaubwürdigkeit verloren, und die Informationspolitik der Regierung sei zu lückenhaft, um noch ernst genommen zu werden, laute der allgemeine Tenor. «Daher gelangen viele Leute an uns.» Glücklicherweise hätten die Medien in den letzten Wochen damit begonnen, ihrer Berichterstattung einen kritischeren Ton zu geben und die Verharmlosungen der Regierung nicht mehr mitzutragen. «Immer weniger Menschen lassen sich noch für dumm verkaufen», sagt Bando.

Am 19. April, als das Ministerium für Bildung, Kultur, Sport, Wissenschaft und Technologie den Strahlengrenzwert für Schulen in der Präfektur Fukushima auf sehr hohe zwanzig Millisievert pro Jahr anhob, ging ein Aufschrei durch Tokio. «Kindermörder» hallte es durch die Reihen vieler Mütter, die in Lehrer- und Elternverbänden und via Internet gut vernetzt sind. Hiroko ist eine dieser Mütter. An der Demonstration im Yoyogi-Park sagt sie: «Zwanzig Millisievert pro Jahr ist viel zu hoch. Wer weiss, wie viele dieser Kinder an Krebs erkranken werden. Als Mutter kann ich nicht anders, als gegen den Atomstrom zu protestieren.» Die lasche Sicherheitspolitik der Regierung sei empörend.

Politisches Umdenken

Noch gibt es jedoch keine aktive Massenbewegung, obwohl im Land die Zustimmung für die GegnerInnen der bisherigen Atompolitik von 28 auf 47 Prozent gestiegen ist. «Der Protest äussert sich im Moment vor allem im Internet und in Gesprächen», sagt Hisayo Takada von Greenpeace Japan. Sie bemerkt jedoch eine veränderte Diskussionskultur. «Normalerweise pflegen wir Japaner wenig politischen Austausch. Ein zu direktes Votum gilt als unhöflich», sagt sie. Doch seit der Katastrophe könne man einfacher Stellung beziehen, und auf den Internetforen würden viele heftige Debatten geführt. Zwar fehlt noch ein nationales Zentrum. «Aber die NGOs arbeiten eng zusammen und versuchen, die Proteste besser zu bündeln und zu koordinieren», sagt Takada. Die Anti-AKW-Organisationen registrieren ein verstärktes Interesse. Die Zahl der Freiwilligen ist in den letzten Wochen rasant angestiegen. Neue Dachverbände sind inzwischen entstanden, und für den dritten Monatstag der Katastrophe ist ein landesweiter Grossanlass geplant – mit einer Million TeilnehmerInnen an hundert Orten.

Erste Signale eines Umdenkens gab es vergangene Woche auch von politischer Seite. Am 6. Mai beantragte Premierminister Naoto Kan die Abschaltung des AKW Hamaoka – ein Schritt, den viele Organisationen seit langem gefordert hatten, da die Anlage in einer extrem erdbebengefährdeten Zone steht. Sofort wurden Stimmen laut, die vor Stromknappheit warnten. Doch Kikue Bando von der NGO Tampoposha winkt ab: «Unsere Berechnungen zeigen, dass Japan auch ohne Atomstrom gut leben kann, vorausgesetzt, alle bestehenden fossilen Kraftwerke werden hochgefahren.» Natürlich könne dies keine langfristige Lösung sein. «Der Staat muss endlich die erneuerbaren Energien fördern.»

Das fordert auch Tetsunari Iida, Direktor des Institute for Sustainable Energy Policies und einer der dezidiertesten Befürworter einer japanischen Energiewende. Als Erstes müsse das Strommonopol fallen, das den Ausbau der erneuerbaren Energien zu lange verhindert habe, sagt Iida. Weiter schlägt er vor, einen nationalen Netzbetreiber zu gründen, der landesweit operiert, aber keinen Strom produzieren darf. Die Stromübertragung funktioniere zwischen den zehn regionalen Stromkonzernen im Moment nur ungenügend. Später dann sollen Produktion und Verbrauch möglichst lokal organisiert werden.

Iidas Konzept ist sehr ehrgeizig: Bis 2020 will er den Anteil der erneuerbaren Energien an der landesweiten Stromproduktion auf 37 Prozent steigern (2009 waren es bloss 9 Prozent – vor allem Wasserkraft –, während der Atomstrom 29 Prozent und die Verbrennung fossiler Energieträger 62 Prozent ausmachte). Bis 2050 soll der Anteil auf 100 Prozent steigen. Ermöglichen sollen dies auch Energiesparmassnahmen und eine Reduzierung des gegenwärtigen Stromverbrauchs um fünfzig Prozent. MitstreiterInnen für seine Ideen findet Iida unter Umweltaktivisten und Wissenschaftlerinnen, die sich zusammen mit rund dreissig ParlamentarierInnen aus verschiedenen Parteien und Masayoshi Son, dem Chef des Telekommunikations- und Medienkonzerns SoftBank, zur Vereinigung Eneshif Japan zusammengeschlossen haben.

Heikle Nutzungsbedingungen

Laut Anti-Atom-Aktivist Bando gibt es bis dahin jedoch noch viele Hindernisse zu überwinden. Zum einen könnten topografische Bedingungen einen raschen Ausbau der alternativen Energiequellen hemmen. «Die wenigen Ebenen in den zentralen Landesteilen sind stark besiedelt», sagt Bando. «Für Windkraftwerke ist da kein Platz, und Sonnenkollektoren müssten alle auf Dächern installiert werden.» Hinzu komme, dass in den Bergen schwierige Baubedingungen für Kraftwerke und Stromleitungen herrschen. Auch die Nutzung der Erdwärme sei ein heikles Thema. «Ein Grossteil der geeigneten Gebiete liegt leider in Naturparks oder in der Nähe von Kurorten, wo der Bau von Erdwärmekraftwerken erschwert ist.» Naturschützerinnen und Thermalbadbetreiber würden eine mögliche Gesetzesänderung bekämpfen, da sie die Verschmutzung oder Austrocknung der heissen Quellen befürchteten.

Trotz dieser Bedenken führt kein Weg an den erneuerbaren Energien vorbei. Das hat vermutlich auch die Regierung eingesehen. So kündigte der Premierminister letzte Woche an, die Energiepolitik von Grund auf überdenken zu wollen.