Asylbürokratie: Die unglaubliche Geschichte der Familie Pavic

Nr. 17 –

Kaufen sie sich ein Bügeleisen, interessiert das die Richter: Die Familie des Biotechnologieingenieurs Miodrag Pavic flüchtete vor neunzehn Jahren aus Zagreb in die Schweiz. Seit 1998 bemühen sich die Behörden, die Familie nach Kroatien zurückzuschicken – einen Staat, den es zur Zeit ihrer Flucht noch gar nicht gab. Vor allem der Etziker Gemeindepräsident will die Pavics so schnell wie möglich loswerden: «Sie stören, weil sie immer noch da sind.»


«Sie haben die beiden Medikamente Neocitran und Bepanthen gekauft. Wofür brauchten Sie die?», fragt der Richter am Verwaltungsgericht in Solothurn. Miodrag Pavic antwortet, er habe die Medikamente zur Behandlung einer Grippe sowie einer kleinen Verbrennung verwendet. Als der Richter etwas später auf einen Staubsauger und ein Bügeleisen zu sprechen kommt, ist die Stimmung im Gerichtssaal gereizt. Die dreiköpfige Familie Pavic – Miodrag, seine Ehefrau Gordana und die 22-jährige Tochter Sara – wird immer wieder angehalten, «Antworten zum Sachverhalt» zu geben, statt über Völkerrecht, Staatenlosigkeit oder Eisenmangel zu reden. Im Gerichtssaal sitzen an diesem milden Frühlingstag Ende März zwei Parteien, die sich nicht verstehen können oder wollen.

Worum es in der Verhandlung eigentlich geht, klärt erst das abschliessende Plädoyer der Solothurner Asylaktivistin Françoise Kopf, die von der Familie Pavic eine Vollmacht dafür erhalten hat: «Diese Familie, die seit neunzehn Jahren im Kanton Solothurn wohnt, muss seit November 2008 von der Nothilfe leben, von täglich sechs Franken pro Person für Essen und Hygiene. Ein menschenwürdiges Dasein, das der Artikel 12 der Bundesverfassung garantiert, ist mit sechs Franken pro Tag nicht möglich.» Sie frage sich, weshalb das Gericht den beiden Anträgen bezüglich der Medikamente und Haushaltgeräte, für die NothilfeempfängerInnen eine behördliche Verfügung benötigen, so viel Platz eingeräumt hat, statt über die Wiedereingliederung in die Sozialhilfe zu verhandeln. «Und ich wundere mich, weshalb Sie Herrn Pavic fragen, ob er sich um Arbeit bemüht habe. Als Person mit einem ablehnenden Asylentscheid darf er per Gesetz nicht arbeiten.» Für einen kurzen Moment kehrt Stille ein im Gerichtssaal. Dann gibt der Richter bekannt, dass das Urteil in zehn Tagen verkündet werde.

Schallplattengrosses Tor zur Welt

Einfamilienhaus reiht sich an Einfamilienhaus, die Gärten sind gepflegt und eingezäunt, zuweilen weht eine Schweizer Fahne am Fahnenmast. Sanfte Felder und Weiden sowie dichter Wald, aus dem hell ein Wasserturm ragt, umschliessen das Dorf Etziken, das etwa zehn Kilometer östlich von Solothurn im Bezirk Wasseramt liegt. Knapp 800 Menschen leben in dieser Schweizer Mittellandidylle.

Gordana, Miodrag und Sara Pavic sind seit neunzehn Jahren drei davon. Im Sommer 1992 durfte die Familie am Rand des Dorfkerns eine vierzig Quadratmeter grosse Wohnung beziehen. Die Familie war Anfang desselben Jahres aus Jugoslawien vor dem Krieg in die Schweiz geflüchtet.

Gordana Pavic tritt aus der schmalen Küche und serviert türkischen Kaffee auf einem kleinen, runden Tisch, der vor dem einzigen Fenster des Zimmers steht. Drei Stühle stehen um das Tischchen. In der Mitte des Raums steht ein Sofa, dahinter die Garderobe – einen Eingangsbereich gibt es nicht. Mehrere volle Bücherregale säumen die Wände. Die meisten Bücher, CDs und DVDs haben sie bei Ausverkäufen von Bibliotheken erworben. Auf einem hohen Schrank im Eckbereich neben dem Tischchen steht der Fernseher, ihr «Tor zur Welt», wie Sara sagt – er ist kleiner als die Hülle einer Schallplatte.

Im Schlafzimmer nebenan befinden sich ein Doppelbett, ein einfaches Bett und ein Pult. «Momentan schläft Sara im Wohnzimmer auf der Couch», sagt Miodrag Pavic, «so können wir ihr wenigstens etwas Privatsphäre geben. Wir stellen die Betten überhaupt immer wieder um. Weniger wegen der Abwechslung, sondern vor allem, weil es im Schlafzimmer im Winter kalt und im Sommer heiss ist.» Neben Postern von Hollywoodfilmen hängt an der Schlafzimmerwand auch ein Diplom. Miodrag hat es erhalten, als er im ehemaligen Jugoslawien seine Ausbildung zum Ingenieur für Ernährungs- und Biotechnologie abschloss.

Als 1991 in Jugoslawien der Krieg ausbrach, zerfiel der Vielvölkerstaat im Südosten Europas innerhalb eines Jahrzehnts in einem nationalistischen Strudel der Gewalt. Dieser erfasste auch die Familie Pavic, die damals in Zagreb lebte, der heutigen Hauptstadt Kroatiens. Am 15. September 1991 erhielt der damals 27-jährige Miodrag den Marschbefehl einer paramilitärischen kroatischen Einheit, um gegen serbische Militärverbände zu kämpfen. Für Miodrag kam das nicht infrage. «Ich bin Jugoslawe», sagt er und führt aus, dass seine Familienwurzeln auch nach Serbien reichen würden und die Vorfahren seiner Frau Gordana vorwiegend aus Bosnien und Herzegowina stammen. In der nationalistisch aufgeladenen Stimmung der damaligen Zeit wurde die Familie nach eigenem Bekunden wegen ihrer «Mischehe» provoziert, schikaniert und beschimpft. Familie Pavic entschloss sich zur Flucht.

Gordana, Miodrag und die noch nicht dreijährige Sara reisten am 14. Januar 1992 über Chiasso in die Schweiz ein und stellten am 31. Januar in Basel ein Asylgesuch beim Bundesamt für Flüchtlinge (BFF), dem heutigen Bundesamt für Migration (BFM). Ihre jugoslawischen Pässe und alle weiteren Dokumente händigten sie den Behörden aus. Mitte März 1992 lehnte das BFF das Asylgesuch der Familie Pavic ab, die dargelegten Asylgründe mitsamt Beweismittel (Marschbefehl) seien nicht «asylrelevant» genug. Familie Pavic wurde aber vorläufig aufgenommen, da eine Wegweisung wegen der Kriegswirren im ehemaligen Jugoslawien per Bundesratsbeschluss als nicht zumutbar galt.

Pikant am Einschreiben des BFF war, dass die ganze Familie als «kroatische Staatsangehörige» aufgeführt war. Ein klarer formaler Fehler. Die abgegebenen Pässe der Pavics waren in Jugoslawien ausgestellt worden und nicht in Kroatien, das erst am 15. Januar 1992 von der Europäischen Gemeinschaft als unabhängig anerkannt wurde.

«Unsere Heimat ist die Sozialistische Föderative Republik Jugoslawien, und die existiert seit dem 15. Januar 1992 nicht mehr. Seither sind wir Staatenlose», sagt Miodrag Pavic. Eine Rückkehr an den ehemaligen Wohnort kam und kommt für ihn nicht infrage: «Die nationalistische Stimmung in Kroatien ist noch immer sehr ausgeprägt. Das zeigt sich gerade jetzt wieder mit der Verurteilung des ehemaligen kroatischen Generals Ante Gotovina durch das Haager UN-Kriegsverbrechertribunal. Das hat riesige nationalistische Proteste ausgelöst.» Miodrag ist sich sicher, dass seine Familie wegen der Mischehe und seiner Weigerung, für das kroatische Paramilitär zu kämpfen, unter Repressionen zu leiden hätte. Aus diesen Gründen lehnt er eine Annahme der kroatischen Staatsbürgerschaft ab und ist bereit, die Konsequenzen seiner Haltung zu tragen.

Für die Behörden hingegen ist klar, dass Familie Pavic seit dem 25. Februar 1998 die Schweiz verlassen und nach Kroatien, in das Land ihres früheren Wohnsitzes, zurückkehren muss. Damals hat der Bundesrat beschlossen, die «gruppenweise vorläufige Aufnahme von Deserteuren aus Bosnien und Herzegowina, Kroatien und der (damaligen) Bundesrepublik Jugoslawien per 30. April 1998 aufzuheben».

Die Bemühungen der Behörden um die Papierbeschaffungen laufen jedoch bis zum jetzigen Zeitpunkt ins Leere. Die kroatische wie auch die bosnische Botschaft haben mehrfach schriftlich bestätigt, dass es sich bei Miodrag, Gordana und Sara Pavic nicht um kroatische oder bosnische Staatsangehörige handle.

Im Fernseher läuft Rai Uno. «Um das klarzustellen: Ich schaue das nicht wegen dem Programm, sondern wegen der Sprache», sagt Sara, die eine glühende Anhängerin des Fussballklubs AC Mailand ist. Fussball ist längst nicht das einzige Thema, über das Sara leidenschaftlich mit ihren Eltern spricht. Die Landtagswahlen in Baden-Württemberg, das Schicksal des inhaftierten Wikileaks-Informanten Bradley Manning, ob die Schweiz der EU beitreten soll – kaum ein Thema, zu dem Familie Pavic keine pointierte Meinung hätte. Die Informationen holen sie sich durch Zeitungslektüre und Internetrecherche in der Bibliothek. Eine weitere Leidenschaft der Familie ist die Musik. Finnischer Metal zum Beispiel. Oder Judas Priest, deren Song «Living After Midnight» Miodrag immer an Silvester um Mitternacht laut laufen lässt. Er hat sich in den letzten Jahren das Gitarrenspielen selbst beigebracht. «Trotz mangelndem Talent klappt es mittlerweile ganz gut. Genug Zeit zum Üben habe ich ja.» Sara, die neben Serbokroatisch ein sehr gepflegtes Deutsch spricht, lernt Italienisch und Englisch. Dabei hat sie nur zwei Jahre lang die Schule besucht.

Als Sara Ende August 1997 frisch die dritte Primarklasse besuchte, schickte die Etziker Schulkommission eine offizielle Verwarnung an Miodrag Pavic – ihm wurde vorgeworfen, seine Tochter «immer wieder, ohne plausible Erklärungen oder Entschuldigungen, vom Besuch der Schule» fernzuhalten, ausserdem habe er die Lehrerin «beschimpft und bedroht».

Die Tochter als Druckmittel

Tatsächlich fehlte Sara oft im Unterricht, der Schularzt attestierte ihr «eine erhöhte allergische Disposition des Immunsystems», sämtliche Absenzen waren jedoch entschuldigt, in den ausgestellten Zeugnissen ist nicht eine unbegründete Absenz vermerkt. Auch den Vorwurf der Beschimpfung und der Bedrohung weist Miodrag von sich. Aus Protest gegen die Verwarnung nahm er Sara aus dem Unterricht und stellte ein Gesuch um eine Versetzung in eine andere Schule. Für das Gesuch gab es einen weiteren Grund: Offenbar war Sara, das einzige Flüchtlingskind in der Klasse, von ihren MitschülerInnen immer wieder gehänselt und tätlich angegriffen worden.

Anfang September 1997 fand im Schulhaus von Etziken eine Aussprache mit allen Beteiligten statt. Sie wurde nach drei Stunden ergebnislos abgebrochen. Dem Gesuch um eine Versetzung wurde nicht stattgegeben: Der Vertreter des Amtes für Volksschule und Kindergarten erklärte, dass ein solches Gesuch «aus Gründen der Präjudiz (...) nicht bewilligt wird».

Seit diesem Vorfall unterrichteten Gordana und Miodrag ihre Tochter selbst zu Hause. Als Unterrichtsmaterial dienten ihnen alte jugoslawische Schulbücher und das Angebot der öffentlichen Bibliothek im nahen Herzogenbuchsee, die im Lauf der Jahre zu einer Art zweiter Stube für die Pavics geworden ist.

Für den Basler Rechtsanwalt Guido Ehrler, der Familie Pavic vertritt, steht fest, dass die Behörden Sara «widerrechtlich als Druckmittel» einsetzten. «Laut kantonalem Schulrecht und der Bundesverfassung sind die Behörden gezwungen, die Schulpflicht durchzusetzen. Sie hätten nach der Ausschulung folglich Massnahmen ergreifen müssen – von einer Busse bis hin zum Entzug der Obhut –, um den Schulbesuch von Sara zu garantieren. Das haben sie nicht gemacht.»

Für Ehrler steht der Kanton Solothurn in der Pflicht, Sara einen Schulabschluss zu ermöglichen. Am liebsten würde er sie eine Eignungsprüfung machen lassen, um die Zulassung zur Maturitätsschule zu erreichen, die er Sara durchaus zutraut. Für Familie Pavic habe momentan aber vor allem die Frage der Anerkennung ihrer Staatenlosigkeit Priorität. Rechtsanwalt Ehrler will deswegen in den nächsten Tagen beim BFM ein Gesuch um die Ausstellung von Papieren für schriftenlose Ausländer einreichen.

Der Knackpunkt

Gordana Pavic ist ausser Atem. Für Fotoaufnahmen ist sie mit Miodrag und Sara zum nahen Waldrand und wieder zurückgelaufen, nun muss sie sich setzen. «Ich habe immer öfter Schwindelanfälle», sagt sie. Zudem klagt sie über Schlafstörungen, Konzentrationsschwierigkeiten und Muskelkrämpfe. Ihre gesundheitlichen Schwierigkeiten begannen im Sommer vor dreizehn Jahren mit Eisenmangel.

Auf den Bundesratsbeschluss vom Februar 1998 reagierte das Amt für öffentliche Sicherheit des Kantons Solothurn mit der schriftlichen Aufforderung an Familie Pavic, die Schweiz bis zum 31. Mai 1998 zu verlassen. Gültige Reisepapiere hätten sie über die kroatische Botschaft selbst zu beschaffen. Dieser Aufforderung ist die Familie aus den genannten Gründen nicht nachgekommen. Zugleich liess die kroatische Botschaft durchblicken, sie sei nicht bereit, die nötigen Dokumente für Gordana Pavic auszustellen – ihre Geburtsurkunde belege, dass sie aus der Stadt Srbac in Bosnien-Herzegowina stamme. Das BFF wandte sich in der Folge also auch erfolglos an die Botschaft von Bosnien-Herzegowina, um sogenannte Laissez-passer-Papiere für Gordana Pavic zu erhalten.

Für den Anwalt Guido Ehrler war die Weigerung der kroatischen Botschaft, Gordana Pavic als Staatsbürgerin anzuerkennen, ein Knackpunkt im Konflikt zwischen den Behörden und der Familie: «Im Vollzug der Wegweisung wäre es durch diese Situation zu einer Familientrennung gekommen und somit das Recht auf die Einheit der Familie verletzt worden. Wahrscheinlich wussten die Behörden, dass eine Ausschaffung unter diesen Umständen schwierig werden würde. Also versuchten die Behörden fortan, Familie Pavic so unter Druck zu setzen, dass sie ihre ablehnende Haltung gegenüber der Annahme der kroatischen Staatsbürgerschaft aufgeben und mit den Behörden zusammenarbeiten würde.»

Eines dieser Druckmittel war die Ausschaffungshaft. Im Juni 1998 hat die Polizei Miodrag Pavic ein erstes Mal verhaftet, um den Antrag der kroatischen Staatsbürgerschaft durchzusetzen. Aus einer Aktennotiz des kantonalen Amts für soziale Sicherheit geht zudem hervor, dass in Absprache mit dem BFF die Sozialleistungen für die Pavics auf ein «absolutes Minimum reduziert» wurden. Ende Mai 2000 kam Miodrag erneut in Ausschaffungshaft. Verantwortlich für die Durchsetzung dieser Zwangsmassnahmen war die damalige Chefin der Fremdenpolizei Solothurn und heutige SVP-Kantonsrätin Colette Adam-Zaugg. Vor der zweiten Verhaftung von Miodrag hatte sie in einem gewohnt technokratisch verfassten Brief ans BFF gefordert, dass «im Fall Pavic» weder «Kosten noch Mühen gescheut werden (dürfen), um endlich den Vollzug der Wegweisung zu einem Abschluss bringen zu können».

Colette Adam-Zaugg konnte bei der Durchsetzung der Zwangsmassnahme auf die Hilfe von Bruno Meyer zählen. Der Gemeindepräsident von Etziken wohnt mit seiner Ehefrau Vreni, die als «Beauftragte für das Asylantenwesen» jahrelang für die Betreuung der Pavics verantwortlich gewesen wäre, in derselben Strasse wie Familie Pavic – in einem Einfamilienhaus. Nach Miodrags Entlassung aus der Ausschaffungshaft schrieb Meyer einen enttäuschten Brief an den mittlerweile verstorbenen SP-Regierungsrat und damaligen Vorsteher des kantonalen Departements des Innern, Rolf Ritschard. Darin rühmte er sich, «persönlich mitgeholfen zu (haben), dass Herr Pavic ohne Aufsehen in Ausschaffungshaft genommen werden konnte». Dann beschwerte er sich über die «Problemfamilie»: «Ganz unverständlich ist aber für uns alle, dass eine Ausschaffung nicht möglich sein soll, wenn sich der Betreffende einfach stur stellt. Solche Vorkommnisse müssen ja geradezu zu Ausländerfeindlichkeit führen und werden diese leider auch in unserer Gemeinde anheizen.» Er lässt den Regierungsrat wissen, dass er «in diesem Zusammenhang auch die Verantwortung ganz klar ablehnen (muss), wenn es zu einem tätlichen Übergriff auf irgendjemand Betroffenen kommen sollte».

Rolf Ritschard war offenbar irritiert über den Brief vom Etziker Gemeindepräsidenten. Er stellte in seiner Antwort fest: «Die Frage nach konkreten Vorwürfen, respektive Fehlverhalten der Familie Pavic wurde seitens der Gemeinde dahingehend beantwortet, dass keine direkten oder konkreten Vorwürfe existieren. Es könne auch nicht gesagt werden, was die Familie Pavic falsch mache. Sie sei einfach anwesend, und das sei halt der Vorwurf.»

An dieser Situation hat sich bis heute nichts verändert. In einem Artikel der «Solothurner Zeitung», der vor einem Monat erschienen ist, wiederholte Bruno Meyer, dass sich Familie Pavic nicht «rüpelhaft» aufführe. «Sie stören einfach, weil sie noch immer da sind.»

Der «Kohlhaas’sche Kampf»

«Das ist jetzt kein Witz, aber seit dem 1. April dürften wir eigentlich gar nicht mehr in unserer Wohnung sein», sagt Miodrag Pavic, der – wie auch Tochter Sara – an Eisenmangel leidet, seit die Familie der Nothilfe zugeteilt ist. Zudem ist bei ihm ein Schilddrüsentumor diagnostiziert worden – ob er bös- oder gutartig ist, weiss er nicht. Eine Operation würde Klarheit bringen, aber die kann er sich nicht leisten. Immerhin ist die Funktion der Schilddrüse bisher nicht eingeschränkt. Dann verweist Miodrag auf ein Schreiben vom Sozialdienst des Wasseramts Ost von Mitte Februar 2011, das auf dem Tisch liegt und wie immer mit den Worten «Mit freundlichen Grüssen» endet: Nach neunzehn Jahren habe der Vermieter die Wohnung gekündigt, die von Olaf Wirtz, dem Leiter des Sozialdiensts, einst wie folgt beschrieben wurde: «Die Familie (hat) sich dort eine richtige Höhle zum Leben gebaut. Auf diese Weise fühlen sie sich anscheinend wohl.» Der Sozialdienst müsse der Familie per 1. April 2011 eine neue Unterbringung in der Nachbargemeinde Subingen zuweisen. Konkret: zwei Zimmer sowie zur Mitbenutzung eine Küche, ein Bad und ein Aufenthaltsraum.

Eine Beschwerde gegen diesen erzwungenen Umzug ist hängig. Die Vernehmlassung, die Olaf Wirtz, der Leiter des Sozialdiensts Wasseramt Ost, darauf verfasst hat, beantragt die Rückweisung der Beschwerde. Das Schreiben endet mit einer «Schlussbemerkung», die auf eine Novelle von Heinrich von Kleist anspielt: «Herr Pacic (sic), sowie seine Angehörigen sollten aufgefordert werden ihren Kohlhaas’schen Kampf aufzugeben und in die Realität zurückzukehren. Vielmehr sollten sie ihre Kräfte (welche zweifelsfrei vorhanden sind) zur positiven Lösung ihrer Probleme einsetzen. Soweit es dem Sozialdienst Wasseramt Ost möglich ist, sind wir jederzeit zu realistischen Hilfestellungen im Rahmen der vorgegebenen Gesetze bereit.»

Bis Redaktionsschluss dieser Ausgabe konnte Familie Pavic in ihrer Wohnung in Etziken bleiben. Auf die Urteilsbekanntgabe des Verwaltungsgerichts wartet sie noch immer.


Nothilfe-Regime: «Das System führt zu Mangelerscheinungen und psychischer Erkrankung»

Seit 2008 das neue, nochmals verschärfte Asylgesetz in Kraft getreten ist, können die kantonalen Behörden Menschen mit einem ablehnenden Asylentscheid aus dem System der Sozialhilfe ausschliessen und der Nothilfe zuteilen. Während die Sozialhilfe die Miete, die Krankenversicherung und einen bescheidenen Kostenaufwand zum Leben abdeckt, erhalten Menschen im Nothilfesystem mancherorts unter fünf Franken pro Tag für Nahrung und Hygiene. Meistens wohnen NothilfebezügerInnen in Notunterkünften oder Zivilschutzanlagen unter zum Teil prekären Bedingungen.

Die Nothilfe fällt in den Kompetenzbereich der Kantone, entsprechend unterschiedlich fallen der Vollzug und die Bedingungen von Kanton zu Kanton aus. Dabei sind die Kantone grundsätzlich frei, zu entscheiden, ob sie Menschen mit einem ablehnenden Asylentscheid in der Sozialhilfe lassen oder der Nothilfe zuteilen.

Das Ziel der Nothilfe hat das Bundesamt für Migration (BFM) im Mai 2010 offen in einer Medienmitteilung formuliert: «Das Ziel der Massnahme besteht darin, die betroffenen Personen zur Ausreise aus der Schweiz zu bewegen.» Das BFM hält in diesem Schreiben auch fest, dass sich der Sozialhilfestopp für abgewiesene Asylsuchende grundsätzlich bewährt habe: «Nur eine Minderheit von fünfzehn Prozent bezieht nach einem Jahr noch Nothilfe. Das zeigt, dass der grösste Teil der abgewiesenen Asylsuchenden die Schweiz verlassen hat.» Schweizer Flüchtlingsorganisationen sehen das freilich anders. Denise Graf, Flüchtlingskoordinatorin bei Amnesty International Schweiz, führt aus: «2009 bezogen nur etwa 5800 Menschen unter den 100 000 bis 300 000, die sich schätzungsweise illegal in der Schweiz aufhalten, Nothilfe, also zwischen zwei und fünf Prozent. Von denjenigen, die in der Nothilfe registriert sind, sind 2009 nur gerade siebzehn Prozent kontrolliert ausgereist.» Wo der grosse Rest sei, wisse niemand. Da diese Menschen jedoch kein Geld zur Verfügung hätten, sei es unwahrscheinlich, dass sie ausreisen würden.

Die Flüchtlingsorganisationen, die von einem «Nothilferegime» sprechen, kritisieren vor allem, dass das «schikanöse System» vor allem jene am härtesten treffe, die sich nicht anderweitig durchschlagen könnten: Familien mit Kindern, Schwangere, alleinstehende Frauen, alte und kranke Männer. «Diese Menschen stecken oft monate- und jahrelang in einem System fest, das schon als kurze Überbrückungshilfe kaum erträglich gestaltet ist und mittelfristig fast in jedem Fall zu Mangelerscheinungen und psychischer Erkrankung führt», sagt Denise Graf. Betroffen von diesem System sind schweizweit etwa 700 Kinder unter fünfzehn Jahren.

Diese Missstände im Nothilfesystem haben Amnesty International Schweiz, die Schweizerische Flüchtlingshilfe, Solidarité sans frontières und die Schweizerische Beobachtungsstelle für Asyl- und Ausländerrecht veranlasst, die gemeinsame Kampagne «Nothilfe-Regime – Eine Sackgasse für alle» zu lancieren. Zugleich haben die Flüchtlingsorganisationen eine Petition aufgesetzt, die von der zuständigen Bundesrätin Simonetta Sommaruga und den kantonalen RegierungsrätInnen verlangt, das System der Nothilfe grundsätzlich zu überdenken und Alternativen zu entwickeln.

www.nothilfe-kampagne.ch


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