Asylpolitik: Eine Kette der Verachtung
In Kroatien erleiden Geflüchtete Menschenrechtsverletzungen. Das belegen Berichte und Expert:innen. Trotzdem schafft die Schweiz weiterhin dorthin aus.
Ange Nduwayezu muss das Gespräch immer wieder unterbrechen, um sich ihre Tränen abzuwischen. Die Dreissigjährige erzählt von ihrer Flucht aus Burundi, wo sie wegen ihrer Arbeit als Journalistin in Gefahr war. Sie floh zunächst nach Serbien und von da aus weiter nach Kroatien. «Die Zeit in Kroatien war die schlimmste meines Lebens», sagt sie. «Ich habe mehrere Tage gebetet, endlich sterben zu dürfen.» Ihr Überlebenswille ist schliesslich grösser. Nduwayezu flüchtet weiter in die Schweiz, wo sie im Juni ein Asylgesuch stellt.
Nur: Dieses Gesuch wird gar nie richtig geprüft. Das zuständige Staatssekretariat für Migration (SEM) teilt ihr nach wenigen Wochen mit, dass die Schweiz darauf nicht eintrete. Sie müsse dorthin zurückkehren, wo sie Folter erlebt hat. Zurück nach Kroatien.
Niemand zwingt die Schweiz
So wie Ange Nduwayezu ergeht es Hunderten Geflüchteten in der Schweiz, die zuvor auf ihrer Flucht an der kroatischen Grenze aufgegriffen und registriert wurden. Kroatien ist als Mitglied der EU ein sogenannter Dublin-Staat. Die Dublin-Verordnung regelt, wer grundsätzlich für ein Asylverfahren zuständig ist: der erste Staat, in dem jemand Asyl beantragt.
Allerdings gilt dieser Verteilschlüssel nicht absolut. Erstens darf jeder Mitgliedstaat die Verantwortung für ein Asylverfahren übernehmen. Zweitens wird die Dublin-Zuständigkeitsregelung ausser Kraft gesetzt, wenn das Asylverfahren und die Aufnahmebedingungen im eigentlich zuständigen Staat «systemische Mängel» aufweisen.
«Die unzähligen Berichte über die Situation vor Ort dürfen nicht ignoriert werden.»
Lea Hungerbühler, «AsyLex»
Dass im kroatischen Grenzregime Menschenrechte verletzt werden, bezweifelt kaum jemand. Tausende Fälle sogenannter Pushbacks werden jedes Jahr von lokalen NGOs dokumentiert. Die kroatischen Behörden setzen dabei nachweislich drastische Gewalt ein, wie unter anderem auch die Antifolterkommission des Europarats schon festgestellt hat.
Als Ange Nduwayezu nach Kroatien gelangte, sei sie im fünften Monat schwanger gewesen, erzählt sie. An der Grenze hätten kroatische Beamt:innen sie heftig verprügelt. Ihre Begleiter:innen seien nach dem versuchten Grenzübertritt zu gegenseitigen Gewalttaten gezwungen worden – ein sadistisches Spiel. «Dann wurde ich mehrere Tage lang in einen eiskalten Container gesperrt», sagt Nduwayezu. Sie habe begonnen, Blut zu verlieren – und um Hilfe gebeten. «Zwei Tage lang hat niemand darauf reagiert, bis ich mein Kind auf der Toilette verlor.»
Die Situation in Kroatien veranlasst selbst die eigentlich zurückhaltende Schweizerische Flüchtlingshilfe (SFH) zu ungewohnt deutlichen Worten: «Bei einem Staat, der erwiesenermassen gegen das zwingende Völkerrecht verstösst, kann nicht darauf gebaut werden, er halte sich an andere völkerrechtliche Vorgaben», schreibt sie der WOZ. Schon im September publizierte die SFH einen Bericht, nach dem Überstellungen nach Kroatien unzulässig, unzumutbar und deshalb zu unterlassen seien. Er hatte bislang keinerlei Auswirkungen auf die Praxis des SEM. Allein im Oktober wurden gemäss Asylstatistik mehr als 300 Dublin-Kroatien-Verfahren «erledigt».
Fragwürdige Abklärungen
Die Medienstelle des SEM schreibt auf Anfrage, es bestehe nach Meinung des Staatssekretariats «kein Zusammenhang zwischen Überstellungen im Rahmen des Dublin-Assoziierungsabkommens und Berichten von Pushbacks in bestimmten Bereichen der EU-Aussengrenzen». Die Behörde anerkennt also zwar die Berichte über Menschenrechtsverletzungen, behauptet aber, sie würden nur im Grenzgebiet erfolgen.
Diese Einschätzung basiere auf mehrfachen Abklärungen der Schweizer Botschaft vor Ort, zuletzt im März 2022. Diese habe auch mit lokalen NGOs gesprochen, etwa mit dem Centre for Peace Studies (CPS) in Kroatien, sagt das SEM. Das CPS wird auch in einem Asylentscheid, der der WOZ vorliegt, erwähnt. Dort heisst es sogar, dass auch die «gegenüber dem kroatischen Innenministerium kritisch eingestellten NGOs» die Einschätzung teilten, wonach Dublin-Rückkehrende keine weitere Abschiebung in ein anderes Land zu erwarten hätten.
Anruf bei der CPS-Aktivistin Sara Kekuš. Kekuš ist überrascht. Die Schweizer Botschaft habe tatsächlich im Februar Kontakt zur Organisation aufgenommen. Es habe aber nur ein einziges Gespräch mit einem «Praktikanten» auf der Botschaft gegeben. Zugehört habe dieser offensichtlich nicht: «Wir widersprechen der Einschätzung der Schweizer Behörden fundamental», sagt Kekuš.
Es stimme nicht, dass die Menschenrechtsverletzungen nur das Grenzgebiet Kroatiens beträfen. «Dass das kroatische Asylsystem systemische Mängel aufweist, steht ausser Frage», so die Aktivistin. Auch in Zagreb komme es vor, dass Personen willkürlich von der Polizei aufgegriffen und dann nach Bosnien und Herzegowina verschleppt würden, auch solche, die sich in einem Asylverfahren befänden. Solche Kettenabschiebungen könnten nicht ausgeschlossen werden. Kekuš erzählt das so, als wäre das Wissen darum selbstverständlich. Und sagt: «Dass das CPS die Schweizer Praxis legitimieren soll, ist verstörend.»
«Enorm problematisch»
«Die unzähligen Berichte über die Situation vor Ort dürfen nicht ignoriert werden», sagt die Anwältin Lea Hungerbühler, Präsidentin von «AsyLex». Die Rechtsberatungsstelle vertrete derzeit viele Dublin-Kroatien-Fälle. «Alles Personen, die in Kroatien Opfer von Menschenrechtsverletzungen wurden», so Hungerbühler. Die Schweiz verstosse damit gegen das Non-Refoulement-Prinzip: den Grundsatz, dass niemand in ein Land zurückgewiesen werden darf, wo Folter oder schwere Menschenrechtsverletzungen drohen.
Dass sie von «AsyLex» vertreten werden müssen, weist wiederum auf einen schweren Mangel im Schweizer Asylregime hin. Zwar steht Asylsuchenden eine unentgeltliche Rechtsvertretung zu. Diese ist aber gesetzlich dazu verpflichtet, ihr Mandat niederzulegen, wenn sie einen Fall als aussichtslos beurteilt. Dann bleibt eine Frist von gerade einmal fünf Tagen, um eine neue Anwältin zu finden und eine begründete Beschwerde einzureichen. In Dublin-Fällen betreffend Kroatien geschehe es derzeit oft, dass die zugewiesene Rechtsvertretung ihr Mandat niederlege, sagt Hungerbühler. «Und das ist enorm problematisch.» Von vielen Betroffenen dürfte die Zivilgesellschaft gar nie erfahren. Sie verschwinden – ohne je Zugang zu ihren Rechten gehabt zu haben.
Als aussichtslos gelten die Fälle wohl oft vor allem, weil das Bundesverwaltungsgericht bislang die Praxis des SEM stützt. Die Richter:innen argumentieren auf Basis derselben Botschaftsabklärungen. «Es kommt aber darauf an, wie man Aussichtslosigkeit definiert», sagt Hungerbühler. Eine Änderung der Rechtsprechung erfolge nicht von allein. Das Team von «AsyLex» legt jeweils gegen die Entscheide des Bundesverwaltungsgerichts vor internationalen Instanzen Beschwerden ein. Uno-Ausschüsse haben laut Hungerbühler schon mehrmals interveniert und Ausschaffungen verhindert.
So wie jetzt im Fall von Ange Nduwayezu. Sie meldet sich mit einer Nachricht per Whatsapp: Der Uno-Ausschuss für Frauenrechte intervenierte in ihrem Fall und hat der Schweiz zumindest vorerst untersagt, sie auszuschaffen. Das würde gegen die Frauenrechtskonvention verstossen, befindet der Ausschuss – anders als zuvor das SEM und das Bundesverwaltungsgericht. «Ich bin unfassbar erleichtert», schreibt Nduwayezu, «und hoffe, dass das anderen Menschen, die dasselbe Leid wie ich erfahren haben, jetzt Mut machen kann.» Rund 150 von ihnen sind letzte Woche nach Bern gereist, um der Staatskanzlei eine Petition zu übergeben. Darin fordern mehr als 5500 Personen den Verzicht auf Dublin-Überstellungen.
In seinen Asylentscheiden schreibt das SEM jeweils, Kroatien sei ein Signatarstaat der Europäischen Menschenrechtskonvention. Wie viel solche Zusicherungen wert sind, beweist das SEM, indem es auch selbst mit den Rückführungen nach Kroatien gegen geltendes Menschenrecht verstösst. Es ist eine Kette der Verachtung – im Interesse der beteiligten Staaten: Erst vor zwei Wochen beschloss die EU, Kroatien ab 2023 als vollwertiges Mitglied in den Schengenraum aufzunehmen.
Sara Kekuš vom CPS fürchtet, dass sich damit die Situation an den Grenzen weiter verschärft. Bislang habe Kroatien immer wieder auch Flüchtende passieren lassen – vermutlich um im Hinblick auf die Schengenfrage Druck auf die Nachbarstaaten auszuüben: «Politische Spiele» nennt Kekuš das.