AKW-Sicherheit: Der Realität ist das Risiko egal

Nr. 21 –

Walter Wildi, der ehemalige Präsident der Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen (KSA), ortet bei den Schweizer AKWs grosse Sicherheitsdefizite – doch die Atomaufsichtsbehörde unterwerfe sich der ökonomischen Logik der AKW-Betreiber.


WOZ: Herr Wildi, Sie scheinen enorm hellsichtig: Bereits einen Tag nach dem Erdbeben in Japan sagten Sie, es sei in Fukushima zu einer partiellen Kernschmelze gekommen, man werde den Kern jahrelang kühlen müssen.

Walter Wildi: Es war nicht schwierig, das zu sehen.

Die ETH-Atomexperten, die zu jener Zeit im Fernsehen auftraten, haben es nicht gesehen.

Sie haben einfach nicht geschaut, welche radioaktiven Stoffe in welchen Mengen bereits in die Umwelt austraten. Sie beachteten vermutlich nur das radioaktive Jod – das austritt, wenn man Dampf aus dem Reaktor ablässt, um den Druck im Reaktor abzubauen. Es wurde aber auch schon Cäsium in grosser Menge freigesetzt, was nur geschieht, wenn der Kern bereits teilweise beschädigt oder gar zerstört ist.

Sie waren Präsident der Eidgenössischen Kommission für die Sicherheit der Kernanlagen KSA. Warum wurde die Kommission vor vier Jahren aufgelöst?

Es gab Druck seitens der AKW-Betreiber wie auch von bürgerlichen Parlamentariern. Offiziell argumentierten sie: Es sei keine Zweitmeinung nötig, wenn man doch schon mit der Atomaufsichtsbehörde eine gute Erstmeinung habe. Wir kosteten angeblich auch zu viel.

War die KSA zu kritisch?

Sicher. Das Bundesamt für Energie tat sich auch schwer mit uns: Die KSA hatte in vielen Fragen eine strengere Haltung als die Atomaufsichtsbehörde HSK, das heutige Ensi. Das Bundesamt wusste nicht, wie es mit diesen unterschiedlichen Stellungnahmen umgehen sollte.

Also hat man Ihre Kommission abgeschafft, um nicht darüber nachdenken zu müssen, was wäre, wenn die KSA recht hätte?

So kann man es sehen.

Fukushima geriet ausser Kontrolle, weil die Notstromgeneratoren nach der Überflutung durch den Tsunami nicht mehr funktionierten – bei uns soll alles sicherer sein. Stimmt das?

Die Notstromaggregate und Notkühlsysteme im Allgemeinen sind immer ein Schwachpunkt, auch in der Schweiz. Das Eidgenössische Nuklearsicherheitsinspektorat Ensi listet auf seiner Website alle «Vorkommnisse» auf: Da findet man jedes Jahr Notsysteme, die versagten, sobald sie getestet wurden. Die KSA hat sich immer wieder dazu geäussert: Unserer Meinung nach handelt es sich um ein systemisches Problem.

Wie meinen Sie das?

Tritt zum Beispiel bei einem Notstromgenerator ein Problem auf, wird es beseitigt. Die Atomaufsichtsbehörde sieht all diese Probleme als individuelle Einzelprobleme. Wenn diese Einzelprobleme aber über Jahre hinweg immer wieder auftreten, hat das System an sich eine Schwachstelle. Die KSA ist davon ausgegangen, dass die Notsysteme grundsätzlich zu wenig robust sind. Was dann passieren kann, hat man im schwedischen Forsmark gesehen: Im Sommer 2006 wäre es dort fast zu einer Kernschmelze gekommen. Zuerst gab es einen Kurzschluss, das AKW hatte von aussen keinen Strom mehr – ähnlich wie in Fukushima. Die Notstromgeneratoren konnten sich nicht synchronisieren und fielen aus. Glücklicherweise sprang einer dann doch noch an, sonst wäre der Reaktor ausser Kontrolle geraten. Es war reines Glück, dass dies nicht passiert ist!

Welche Lehre lässt sich daraus ziehen?

Wenn die Notstromgeneratoren im Notfall wirklich laufen sollen, müssten sie schon in Betrieb sein, bevor der Notfall eintritt. Sie müssten parallel mitlaufen, nur so ist garantiert, dass sie wirklich funktionieren.

Heute schlafen die Notfallsysteme, bis der Notfall eintritt?

Richtig. Wenn man sie hin und wieder testet, springen sie nicht immer an. Um das zu vermeiden, braucht es einen Philosophiewechsel, aber der kostet, was den Betreibern nicht gefällt. Er ist nötig, trotzdem der Bundesrat keine neuen AKWs will: Denn die alten Anlagen werden noch Jahre am Netz sein.

Die KSA hat entsprechende Forderungen schon vor Jahren gestellt. Wie hat die Atomaufsichtsbehörde darauf reagiert?

Man hat uns in der Regel wissen lassen, man halte unsere Forderungen für übertrieben und unnötig.

Dann negiert die Behörde das Problem mit den Notkühlsystemen?

Nein, das nicht. Wenn ein Problem auftritt, stellt sie konkrete Forderungen. Das System als Ganzes schaut sie jedoch nicht an, immer nur den einzelnen Generator oder die einzelne Pumpe.

Klingt fahrlässig.

Die Behörde argumentiert, die Notstrom-Dieselgeneratoren würden in der Atomindustrie weltweit als Standard gelten – deshalb sieht sie keinen Anlass, etwas anderes zu verlangen. Sie folgt einer Logik, die unserer Meinung nach falsch ist. Der Haken liegt in der Grundphilosophie: Diese basiert auf Wahrscheinlichkeitsrechnungen, die in erster Linie einzelne, isolierte Störfälle berücksichtigen. Superereignisse wie das Erdbeben in Japan können jedoch verheerende Dominoeffekte auslösen, mit Kombinationen von technischem und menschlichem Versagen. Diese Risiken lassen sich kaum berechnen. Da merkt man schnell: Die Risikoberechnungen haben nichts mehr mit der Realität zu tun – die Realität hält sich einfach nicht an sie.

Notfallsysteme sind immer redundant ausgelegt, also mehrfach vorhanden, damit immer noch eins funktioniert, selbst wenn zwei aussteigen. Das sollte doch Sicherheit garantieren?

Theoretisch schon, sie müssten dann aber auch jederzeit einsatzbereit sein. Wir von der KSA haben die Meinung vertreten, man dürfe beispielsweise Reparaturen an Notkühlsystemen nicht während des Betriebs erlauben. Man müsse das AKW abstellen, reparieren und erst dann wieder anfahren – um die Sicherheit nicht zu reduzieren. Die Atombehörde ist da anderer Meinung und erlaubt, was wir für unzulässig hielten.

Warum ist die Aufsichtsbehörde nicht strenger?

Die Betreiber verfolgen zwar Sicherheitsziele – auch sie sind interessiert, Unfälle zu vermeiden – gleichzeitig wollen sie aber möglichst viel Geld verdienen. Für die Aufsichtsbehörde sollte hingegen nur die Sicherheit zählen, doch hat sie bei allen Sicherheitsfragen immer wieder die «Verhältnismässigkeit» thematisiert. Es hiess zum Beispiel, der internationale Standard verlange nur zwei Notstromgeneratoren, deshalb sei es nicht verhältnismässig, wenn von den Schweizer Beitreibern permanent ein drittes Notkühlsystem als Redundanz verlangt würde.

Weil andere AKWs auf der Welt auch nicht sicherer sind, darf man von den Schweizer Betreibern nicht mehr Sicherheit verlangen, weil das zu viel kosten würde und es deshalb unverhältnismässig wäre?

Genau. Und das kann nicht sein: Letztlich betrifft ein grosser Unfall die Sicherheit aller – da darf es keine Rolle spielen, ob eine Massnahme, die das Unfallrisiko mindert, für den Betreiber wirtschaftlich ist.

Wie ist die KSA mit dieser Frage umgegangen?

Für uns hat sich die wirtschaftliche Frage gar nie gestellt – weil wir der Ansicht waren, es sei nicht unsere Aufgabe, zu errechnen, welche Kosten die Verbesserung des Sicherheitssystems eventuell verursachen könnte. Zudem gehören alle Schweizer AKWs mehrheitlich der öffentlichen Hand, vor allem den Kantonen. Wenn sie temporär einmal stillstehen, um die Sicherheit zu erhöhen, profitiert die Öffentlichkeit, obwohl die Anlagen in dieser Zeit vielleicht etwas weniger Geld abwerfen.

Wo müsste man vordringlich ansetzen?

Alles, was AKWs betrifft, muss öffentlich werden – uneingeschränkt! Nur Unterlagen, die die Anlagensicherung im polizeilichen Sinn betreffen, sollen nicht publiziert werden. Es kann nicht sein, dass wichtige Gutachten – wie das Gutachten des Tüv Nord zu den Rissen im Kernmantel des AKWs Mühleberg – unter Verschluss bleiben. Atomkraftwerke sind öffentliche Anlagen. Man muss sie endlich aus dem Dunstkreis der militärischen Objekte holen: Kernkraft ist kein Geheimhaltungsobjekt!



Walter Wildi

Von 1997 bis 2007 präsidierte Walter Wildi (62) die Eidgenössische Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen. Sie wurde ersetzt durch die schlechter dotierte Kommission für Nukleare Sicherheit KNS. Wildi ist heute Geologieprofessor an der Universität Genf.

Bundesratsentscheid : Beschränkter Ausstieg

Der Bundesrat hat am Mittwoch entschieden, dass in der Schweiz keine weiteren Atomkraftwerke gebaut werden sollen. Die bestehenden AKWs sollen aber bis zum Ende ihrer Laufzeiten am Netz bleiben. Der Bundesrat geht dabei von einer Betriebsdauer von fünfzig Jahren aus. Das erste Atomkraftwerk würde demnach 2019 vom Netz gehen, das letzte 2034. 2019 soll Beznau I abgeschaltet werden. Beznau II und Mühleberg würden 2022 folgen, Gösgen 2029 und Leibstadt 2034.

Für eine vorzeitige Stilllegung sieht der Bundesrat keinen Anlass. Die Überprüfungen hätten ergeben, dass der sichere Betrieb der Schweizer Atomkraftwerke zurzeit gewährleistet sei.

Der Entscheid geht zwar weiter als ein Moratorium. Bezüglich der angeblichen Betriebssicherheit versteckt sich der Bundesrat aber hinter den Experten des Ensi, deren Neutralität längst infrage gestellt wird. Fachleute wie Walter Wildi oder Leo Scherer warnen, dass die Sicherheitsrisiken falsch eingeschätzt werden. Deshalb braucht es weiteren öffentlichen Druck für eine sofortige Abschaltung der ältesten AKWs.