AKW-Sicherheit: Forsmark wie Leibstadt

Nr. 32 –

Schweizer Atomkraftwerke unterscheiden sich von dem in Forsmark. Aber der Vorfall wirft Fragen auf.

WOZ: Herr Wildi, die Meinungen der KommentatorInnen, ob der Vorfall im AKW Forsmark (siehe WOZ Nr. 31/06) nun eine Fastkatastrophe war oder nicht, gehen weit auseinander. Haben Sie schon genug Informationen, um diese Frage zu beantworten?

Walter Wildi: Nein. Wir kennen erst den provisorischen, sehr lückenhaften Bericht der schwedischen Aufsichtsbehörde. Unsere Kommission wird den definitiven Bericht im Detail prüfen. Verharmlosen darf man den Vorfall jedenfalls nicht.

Gemäss der Skala der internationalen Atomenergieagentur handelte es sich um ein Ereignis der Stufe zwei (von sieben). Das tönt harmlos.

Die Skala bewertet nur, was effektiv eingetreten ist. Sie sagt nichts darüber aus, wie nahe man an einem schlimmen Unfall dran war. Deshalb ist die Bewertung vermutlich so tief.

Sie sagten in der «Neuen Luzerner Zeitung», gewissermassen sei jedes AKW ein Prototyp, deshalb könne genau dasselbe, was in Schweden passiert sei, in der Schweiz nicht passieren.

So wird oft argumentiert, wenn irgendwo etwas geschieht: Dann heisst es, unsere Anlagen sind anders, das kann bei uns nicht passieren. Richtig ist, dass fast nie alle Komponenten komplett identisch sind. Das bedeutet aber nicht viel. Die Gemeinsamkeiten: Forsmark ist ein Siedewasserreaktor der Generation II wie Leibstadt, auch mit fast derselben Leistung.

Wenn jedes Werk ein wenig anders ist, bedeutet das auch, dass man aus einem Unfall nicht viel lernen kann?

Doch, man kann viel über Sicherheitsprozesse lernen. In diesem Fall waren offenbar Komponenten im Gleichstrom-Wechselstrom-System ausgefallen. Man wird daraus etwas über Wiederholungsprüfungen lernen können. Es war ja wahrscheinlich ein Fastunfall. Wie konnte es dazu kommen, und weshalb kam es am Schluss doch nicht dazu? Es geht also um Lehren betreffend die Ausbildung und dem Wiederholungstraining der Mannschaft. Das rein Technische ist vermutlich gar nicht so wichtig. Es geht um die Frage: Wieso hat man die Fehler nicht früher erkannt?

In Beznau ereignete sich vor eineinhalb Jahren ein ähnlicher Vorfall. Was war damals genau los?

Es ging dort genau wie in Forsmark um die Verfügbarkeit von Systemen, allerdings um Betriebs- und nicht Sicherheitssysteme, und um die Frage, wie damit umzugehen ist, wenn ein System ausfällt. In Forsmark ist die interne Stromversorgung ausgefallen, also ein Sicherheitssystem, in Beznau war es die Kühlwasserpumpe, also ein Betriebssystem. Da geht es auch um Wiederholungsprüfungen: Wieso hat man die Fehlkonstruktion in Forsmark bei diesen Prüfungen nicht früher entdeckt? Ein Sicherheitssystem weist mehrere Redundanzen auf, das heisst, die gleiche Aufgabe wird mehrfach wahrgenommen. Die Frage ist nun: Kann man während des Betriebs Wartungsarbeiten am System durchführen, also gewisse Komponenten abschalten und damit auf gewisse Redundanzen verzichten? Beznau war also ein anderer Fall als Forsmark, aber es stellten sich ähnlich gelagerte Fragen. Bei uns scheint es insbesondere wichtig, dass die Unterhaltsarbeiten so koordiniert werden, dass keine Risikoerhöhung entsteht.

Ist denn das nicht immer der Fall?

Bis zu einem gewissen Grad schon, aber in Forsmark war gleichzeitig ein Werk, das von aussen Strom lieferte, in Renovation. Es geht um die Frage, wie viel Reserve man braucht.

Und was geschah in Leibstadt letztes Jahr?

Am Ostermontag kam es zu einem Generatorschaden; der Generator musste nachher während sechs Monaten überholt werden. Man nimmt an, dass eine Spannungsschwankung im externen Stromnetz ein Grund oder der Hauptgrund für den Schaden war. Leibstadt musste die Schwankung auffangen, aber das kann ein AKW nur beschränkt.

Wenn AKW auf Schwankungen im externen Netz so sensibel reagieren: Was geschähe bei einem Totalausfall, wie ihn Italien im Herbst 2004 erlebte?

Im Prinzip sind AKW für einen Stromausfall ausgerüstet. Aber Forsmark zeigt, dass offenbar nicht alles drinliegt.

Mehrere Schweizer AKW haben in den vergangenen Jahren ihre Leistung erhöht. Sind die Sicherheitssysteme entsprechend angepasst worden?

Die Werke sind von Anfang an auf die Option einer Leistungserhöhung ausgelegt gewesen. Was die Leistungserhöhung für die Sicherheitssysteme genau bedeutet, wird man aber erst nach ein paar Jahren sehen. Vermutlich werden Komponenten häufiger ausgetauscht werden müssen. Die Schweizer Aufsichtsbehörde HSK erstellt derzeit eine Bilanz der Leistungserhöhungen.




Das AKW in Leibstadt

Ähnlich wie beim Atomkraftwerk Forsmark in Schweden hat man auch im aargauischen Atomkraftwerk Leibstadt vor sechs Jahren eine Leistungserhöhung bewilligt. Die Leistungserhöhung war umstritten. Das Öko-Institut Darmstadt legte damals in einem Bericht dar, dass die 14,7 Prozent höhere Leistung das Unfallrisiko um 25 bis 30 Prozent erhöhe. Zudem würden die Sicherheitsreserven markant reduziert, wenn man mehr aus dem Reaktor heraushole.

Ungemütlich liest sich auch der Bericht, den die Deutsch-Schweizer Kommission für Sicherheit in Atomanlagen (DSK) - eine offizielle Kommission von Deutschland und der Schweiz - vor zehn Jahren zu Leibstadt publizierte. Darin schreibt die Kommission: «Zur Beherrschung des Störfalls «Ausfall der Reaktorschnellabschaltung» ist das Eingreifen des Operateurs erforderlich.» Laut Informationen der WOZ müsste dann das Betriebspersonal die Substanz Bor in den Reaktor einspeisen, um die atomare Kettenreaktion zu stoppen. Nach einer solchen Operation kann man jedoch den Reaktor während Tagen oder Wochen nicht mehr in Betrieb nehmen. Jeder Operateur wird es sich deshalb reiflich überlegen, ob er zu diesem Mittel greift. Im DSK-Bericht steht weiter, wenn die Reaktorschnellabschaltung ausfalle, müsse der Operateur «in den ersten zwei bis drei Minuten» handeln - danach sei es zu spät, es käme vermutlich zu einer Kernschmelze. Schweden zeigt: Wenn etwas schief läuft, bricht zuerst Chaos aus, man ist kaum in der Lage, in zwei, drei Minuten zu begreifen, was los ist. Deshalb forderte damals die DSK, dass die Operateure in Leibstadt mindestens zehn Minuten Reaktionszeit haben müssten. Laut Anton Treier, Sprecher der Hauptabteilung für die Sicherheit der Kernanlagen, haben die Leibstadter Operateure heute diese zehn Minuten - immer noch eine beängstigend kurze Zeit.

Susan Boos

Walter Wildi ist Präsident der Eidgenössischen Kommission für die Sicherheit von Kernanlagen (KSA), die den Bundesrat berät, sowie Geologieprofessor an der Universität Genf. In diesem Interview äussert sich Wildi als Privatperson.