Niederländische Kulturpolitik: Nicht mehr viel zu verlieren
Dem niederländischen Kultursektor stehen heftige Kürzungen bevor. In der Kunstszene bewirken sie eine akute Politisierung.
Halbe Zijlstra mag die härtere Gangart. Der junge Staatssekretär im Ressort Bildung, Kultur und Wissenschaft ist einer der Hoffnungsträger der Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die mit einem rigiden Sparprogramm vor einem Jahr die niederländischen Wahlen gewann. Unermüdlich predigt er schnelleres Studieren, erschwerten Zugang zu den Hochschulen und mehr Selektion. Wie ein Headbanger sieht der frühere Sekretär eines Brieftaubenvereins zwar nicht aus, doch der Legende nach entspannt er sich nach der Arbeit gerne zu den Klängen von Metallica.
Ob deren Stücke wie «Kill?em all» («Töte sie alle») oder «Seek and Destroy» («Such und zerstöre») Zijlstra auch bei den drastischen Kürzungen in den Bereichen Kunst und Kultur inspirierten, ist unbekannt. Tatsache hingegen ist, dass den beiden Sektoren beispiellose Einschnitte bevorstehen: 200 von 900 Millionen Euro des jährlichen Budgets werden gestrichen. Die Zahl der subventionierten Projekte soll drastisch reduziert und die staatlichen Fonds für bildende Kunst und Bühnenkunst beschnitten werden. Die Mehrwertsteuer für beide Sektoren wurde von sechs auf neunzehn Prozent angehoben.
Die Existenz zahlreicher kleiner und mittlerer Theater-, Tanz- und Musikgruppen ist damit gefährdet. Weitgehend ungeschoren sollen Prestigeprojekte wie bedeutende Museen, die Niederländische Oper oder das Nationalballett bleiben. Den Einspruch des Kulturrats, eines gesetzlichen Beratungsorgans der Regierung, die Einschnitte immerhin ausgewogener zu gestalten, wies Zijlstra ab.
Die Haushaltssanierer
«Dear Mr Zijlstra, you are a vandal» («Lieber Herr Zijlstra, Sie sind ein Vandale») – so begannen im Juni sechzig internationale KunstdirektorInnen einen offenen Protestbrief an den Staatssekretär. Der anstehende Kahlschlag hat sich auch ausserhalb der Landesgrenzen längst herumgesprochen – dies zumal mehrere Hundert niederländische Künstlerinnen und Sympathisanten unlängst in einer grossen Anzeige in der «New York Times» warnten: «Do not enter the Netherlands – Cultural meltdown in progress» («Betreten Sie die Niederlande nicht – eine kulturelle Kernschmelze ist im Gange»). Keine Frage: Zijlstra, der einen radikalen «Kulturumschwung in der Kultur» fordert, ist ein dankbares Feindbild. Dass ihm, wie GegnerInnen kritisieren, die Affinität zur Materie fehle, hält er sogar für einen Vorteil: Distanz zum Objekt, erläutert er, erleichtere die Kürzungen.
Allerdings kann der Staatssekretär nur auf dem Weg voranpreschen, den ihm andere bereitet haben. Bereits im Koalitionsvertrag einigte sich Zijlstras neoliberale VVD mit den Christdemokraten unter Duldung der rechtspopulistischen Partij voor de Vrijheid (PVV) auf das 200-Millionen-Sparpaket, das entgegen der Planung schon ab 2013 voll zu Buche schlagen soll. Seither verteidigt die Minderheitsregierung ihr Vorhaben mit einer Vehemenz, die darauf schliessen lässt, dass es im Kulturbereich ein Exempel zu statuieren gilt: Knickt die Regierung hier ein, beginnt das insgesamt achtzehn Milliarden Euro schwere Sparpaket auch an anderen Stellen zu wackeln.
Die Regierung hat ein Image als Haushaltssaniererin zu verlieren. Vor allem deswegen wurde Zijlstras VVD überhaupt zur stärksten Partei. Und wo liesse sich besser Handlungsfähigkeit demonstrieren als im Kultursektor, den laut einer aktuellen Umfrage sechs von zehn NiederländerInnen für übersubventioniert halten und den die Jünger des PVV-Chefs Geert Wilders schon seit längerem als «linke Hobbys» verhöhnen? Überflüssiger als Kunst ist aus dieser Warte höchstens die Entwicklungshilfe, und auch die wird deutlich beschnitten. Die Kürzungsorgien reagieren akut durchaus auf eine Krise – langfristig aber verleihen sie einer tieferen gesellschaftspolitischen Tendenz Ausdruck, die auf vielen Ebenen sichtbar ist: die Abrechnung mit der liberalen Kultur, die das Land über Jahrzehnte hinweg prägte.
Vielerlei Protestaktionen
Es ist auch in diesem Zusammenhang zu sehen, dass die jüngste Protestaktion den Namen «Marsch der Zivilisiertheit» trug. Knapp 10 000 Menschen nahmen Ende Juni an der nächtlichen Wanderung von Rotterdam ins 25 Kilometer entfernte Den Haag teil, die bewusst einen defensiven Charakter hatte. Die Bewegung gegen die Kulturkürzungen, die sich im letzten halben Jahr herausgebildet hat, kennt aber auch andere Aktionsformen: Am Vortag des Marschs wurde das renommierte Boijmans-van-Beuningen-Museum in Rotterdam besetzt. Dahinter stand eine Initiative bildender KünstlerInnen, die unter dem Namen «Schuilen in het Rijks» («Schutz suchen im Reichsmuseum») im Februar das Amsterdamer Rijksmuseum «besetzte» – indem sie die Höchstzahl zulässiger BesucherInnen mobilisierte, die sich frühmorgens vor dem Museum einfanden und den Rest des Tages blieben.
Ein weisses X auf schwarzem Grund
Über den Sommer sind weitere Aktionen geplant. Zur traditionellen Präsentation des Regierungshaushalts im September rufen KünstlerInnen zur «grössten Demo nach dem Krieg» nach Den Haag. Eric Jan van de Geer, Mitinitiator von «Schuilen in het Rijks», sieht, dass sich der Charakter der Proteste allmählich verändert: «Es wird weniger freundlich. Wir kamen mit Argumenten, aber man hört nicht darauf. Dadurch entsteht eine Stimmung, dass wir nichts mehr zu verlieren haben.» Hinter der Frustration steht auch, dass bildende KünstlerInnen sich weder durch die Gewerkschaften noch medial ausreichend repräsentiert sehen. «Der Kampf», fasst van de Geer zusammen, «ist ideologischer geworden.»
Dieser Meinung ist auch Hartmut Wilkening, Skulpturenkünstler in Amsterdam. Seit einigen Monaten beobachtet er, dass sich in der Szene, die zuvor aus kleinen Grüppchen bestand, allmählich das Bewusstsein eines gemeinsamen Anliegens wächst. Im Juni ergriff Wilkening die Initiative und umhüllte einige Skulpturen, die er im Auftrag der Stadt entworfen hatte, mit schwarzer Folie, auf denen ein weisses X prangt. Mit diesem Symbol, das zahlreiche KünstlerInnen auch ihrem Facebook-Account beifügten, wurden in den letzten Wochen auch in anderen Städten Objekte verpackt – «um dem Publikum sichtbar zu machen, was bald verschwindet».
«Wenn die Politik unsere Kultur verdünnt und in den Abfluss laufen lässt, müssen wir politisch werden», forderte Jos Houwelings, Direktor des Grafikinstituts Sandberg bei der Museumsbesetzung in Rotterdam. Die Kuratorin und Kunstkritikerin Anna Tilroe nahm sich seine Worte zu Herzen. Einen Tag nach dem «Marsch der Zivilisiertheit» kam es am Rande einer Kundgebung zu Rangeleien mit der Polizei. Augenzeugen berichten, die prominente Kunstkritikerin habe der Mobilen Einheit ein beherztes «Polizeistaat» entgegengeschleudert.