Niederlande: Auf der Wippe
Nach dem Wahlsieg von Geert Wilders konnte noch keine neue Regierung gebildet werden. Obwohl sich der Rechtspopulist gemässigt zeigt, sind die Zweifel der anderen Parteien gross.
Dilan Yeşilgöz und Pieter Omtzigt wirken in diesen Tagen, als trügen sie eine Blume in der Hand, der sie nun ein Blütenblatt nach dem anderen auszupfen. Die entscheidende Frage, auf die sie sich eine Antwort erhoffen, ist freilich nicht, ob die Person, die sie lieben, ihre Gefühle erwidert. Stattdessen geht es darum, zu klären, ob ihre Parteien mit Geert Wilders und dessen rechtspopulistischer Partij voor de Vrijheid (PVV) koalieren sollen, die vor zwei Wochen die niederländischen Parlamentswahlen gewann. «Ja, nein, vielleicht», murmeln sie, erwägen allerlei Variationen und kommen doch zu keinem Ergebnis.
Yeşilgöz ist Chefin der rechtsliberalen Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD), die das Land dreizehn Jahre lang regiert hat. Der frühere Christdemokrat Omtzigt ist mit dem neu gegründeten sozialkonservativen Nieuw Sociaal Contract (NSC) der Senkrechtstarter in Den Haag. Zusammen mit der PVV könnten VVD und NSC eine Mehrheit bilden. Doch seitdem letzte Woche die Koalitionsgespräche begonnen haben, lavieren beide Parteien unentschlossen hin und her. An der jeweiligen Basis sind die Meinungen geteilt. Manche sind für eine Zusammenarbeit, andere lehnen diese entschieden ab.
Die offene Gesellschaft in Gefahr
Das Dilemma dabei ist eines, mit dem die niederländische Politik seit Jahren ringt: Bezieht man klar Stellung gegen die Partei von Wilders und lehnt eine Zusammenarbeit ab, befürchtet man, den Unmut ihrer Wähler:innen zu vergrössern und dass diese sich weiter von der parlamentarischen Demokratie entfernen. Lässt man sich auf Wilders ein, läuft man Gefahr, seine Ideologie noch stärker salonfähig zu machen, als dies bereits der Fall ist, seitdem die PVV 2006 erstmals an einer Parlamentswahl teilnahm. Dabei gibt es durchaus Schnittmengen zwischen den etablierten Parteien und der PVV. Sowohl VVD als auch NSC sprachen sich im Wahlkampf für eine deutliche Begrenzung der Migration aus, wenn auch nicht so rabiat wie Wilders, der vor einem «Asyltsunami» warnte.
Liest man in diesen Tagen von einer Pattsituation bei den Koalitionsgesprächen, geht es dabei viel mehr als sonst um eine Grundsatzfrage. Das politische Den Haag, verkörpert durch Yeşilgöz und Omtzigt, sitzt auf einer Wippe. Es gilt zu balancieren zwischen der Angst, den Wähler:innen «nicht gut genug zuzuhören», wie die VVD-Chefin am Abend ihrer Niederlage einräumte, und dem Bekenntnis zu Rechtsstaatlichkeit und der Verfassung, mit dem Omtzigt mehrfach sein Zögern gegenüber der PVV erklärte.
Letzteres formulieren in diesen hektischen Wochen wenige so deutlich wie Marcel ten Hooven. «Ein demokratisches System muss seine Immunität vor Auffassungen schützen, die es in seinen rechtsstaatlichen Fundamenten angreifen», kommentiert der Publizist in der linken Wochenzeitung «De Groene Amsterdammer». Ein solches Fundament sei, dass alle Menschen vor dem Gesetz gleich seien. Wilders hingegen versuche seit Jahren, die Religionsfreiheit muslimischer Bürger:innen zu beschränken. Darüber hinaus habe er einen Diskurs geprägt, in dem, so ten Hooven, Richter:innen als «Nepprichter» bezeichnet würden, Geflüchtete als «Glückssucher», Künstler:innen als «Subventionsschlürfer» und Journalist:innen als «Gesindel».
Die vielfältigen internationalen Medienberichte über einen vermeintlich altersmilde gewordenen Wilders täuschen darüber hinweg, dass die PVV ihre Standpunkte keineswegs abgeschwächt hat. Das belegt das bereits erwähnte Schlagwort «Asyltsunami», das der sechzigjährige Wilders derzeit gerne benutzt. Der an Donald Trump anknüpfende Slogan seines Wahlprogramms, «Die Niederlande wieder an erster Stelle», unterstreicht dies. Neu ist, dass Wilders seit Beginn des Wahlkampfs Kompromissbereitschaft signalisiert, falls er an die Macht käme. Auch nach dem Wahlsieg sagt er, er wolle der Premier aller Niederländer:innen sein und «niemanden aus dem Land ausschaffen».
Wilders behauptet auch, er habe nichts gegen Muslim:innen, sondern nur gegen den politischen Islam als Ideologie. Doch diese Abgrenzungen sind unglaubwürdig. Um nur zwei Beispiele zu nennen: Bei einer Party nach den Kommunalwahlen im Jahr 2014 liess er das Publikum den Ruf nach «weniger Marokkaner:innen» skandieren. Zudem richtete die Partei in der Vergangenheit Meldestellen ein, wo die Bevölkerung Probleme mit osteuropäischen Arbeitsmigrant:innen oder mit Asylbewerber:innen anzeigen konnte.
Als «Mann des Volkes» bejubelt
Dass eine solche Partei nun 37 von 150 Parlamentssitzen gewinnt, bedeutet freilich nicht, dass mehr als 24 Prozent der Wähler:innen rechtsextrem sind. Das jedenfalls betont Zihni Özdil, einst Abgeordneter der linksliberalen Partei Groen-Links, heute Kolumnist bei der konservativen Wochenzeitung «EW». Er nennt sich weiterhin links, wirft den progressiven Parteien in seinen Kolumnen aber regelmässig vor, den neoliberalen Umbau der Gesellschaft mitgetragen und damit den populistischen Sturm der letzten fünfzehn Jahre verursacht zu haben.
«Kein anderes Land Europas ging dabei so weit wie die Niederlande», kritisiert Özdil. Nicht einmal die britische Premierministerin Margaret Thatcher habe die Krankenversicherung so privatisiert, wie es in den Niederlanden geschehen sei. Özdil nennt als weiteres Beispiel den harten Sparkurs, den die Sozialdemokrat:innen ab 2012 mittrugen. Wegen dieses «Klassenkriegs gegen das Volk» und der «Verachtung der Leute, die davon betroffen sind», sei die linke Politik in den Niederlanden am Ende. Der Triumph der PVV habe sich ausserdem abgezeichnet: Bei den Provinzwahlen 2019 gewann die rechtsextreme Partei Forum voor Democratie (FvD), vier Jahre später die konservative Boer-Burger-Beweging (BBB).
Wie gespalten die Bevölkerung angesichts des Wahlsiegs der PVV ist, zeigte sich letzte Woche an zwei Veranstaltungen. Am Dienstagabend besuchte Wilders den Den Haager Stadtteil Kijkduin, wo Bewohner:innen gegen die Unterbringung von Asylbewerber:innen in einem Hotel demonstrierten. Als «Mann des Volkes» wurde er dort mit Jubel begrüsst. Dieses Prädikat trägt er ausdrücklich nicht nur wegen seiner Agitation gegen Asylbewerber:innen, sondern auch dank der Verknüpfung seiner Politik mit sozialen Themen. Wilders fordert Wohnungen, eine bezahlbare Krankenversicherung für die «normalen Niederländer:innen» – und er suggeriert, diese seien wegen der Ausgaben für Minderheiten nicht garantiert.
Einen Kontrapunkt setzte die Rede von Mustapha Eaisaouiyen bei einer antifaschistischen Demonstration gegen die PVV am Samstag in Amsterdam, zu der geschätzt 300 Menschen kamen. «Ich wende mich an diejenigen, die nicht aus Hass, sondern aus Unzufriedenheit die PVV gewählt haben», so Eaisaouiyen, der Vertreter einer landesweiten Initiative gegen Wohnungsnot. «Wir verstehen eure Sorgen um den Erhalt von Sozialwohnungen oder eure Angst vor der nächsten Mieterhöhung. Aber dafür sind nicht Asylbewerberinnen oder Muslime verantwortlich, sondern es sind die Folgen einer bewusst gewählten Politik des Abbruchs, für die Wilders einen Sündenbock sucht.»
Der rechte Zusammenschluss
Dass derzeit alle europäischen Regierungen auf die Niederlande schauen, hat einen einfachen Grund: Überall gibt es Parteien, die die sozialen Verwerfungen des Neoliberalismus mit identitärem Nationalismus aufladen und damit Stimmen gewinnen. Bei den Europawahlen 2024 droht sich dieser Trend zu verschärfen, und der Sieg der PVV könnte diese Entwicklung antreiben. Denn Wilders ist innerhalb dieser Bewegung sehr gut vernetzt. Vor zehn Jahren schloss er sich mit der rechtsextremen Marine Le Pen zusammen, um im EU-Parlament eine identitäre Fraktion zu gründen und Frankreich und die Niederlande aus der EU zu führen. Auch beim sogenannten patriotischen Frühling 2017 war er einer der zentralen Akteure. Mit einer gemeinsamen Kampagne wollten europäische Rechtspopulist:innen damals vom Brexit und vom Wahlsieg Donald Trumps profitieren. Das erleichterte Aufatmen vieler liberaler Medien über ihr Scheitern erweist sich nun als verfrüht.