Sozialpolitik in den Niederlanden: Der rote Faden heisst Austerität

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Ein Skandal, ein paar Rücktritte, die nächsten Wahlen im Visier. Aber die Kindergeldaffäre in den Niederlanden reicht weiter: Sie ist Ausdruck einer Ideologie, die Bedürftigen den Kampf ansagt.

Mark Rutte fuhr mit dem Velo zum König. Das tut er häufiger, denn vom Parlament hinüber zum Palast sind es nur zehn Minuten. Auch letzten Freitag, nachdem er der Presse das vorzeitige Abtreten seines Kabinetts verkündet hatte, legte der Premierminister den Weg auf dem niederländischsten aller Verkehrsmittel zurück: dem «fiets». Die Bilder gingen um die Welt. Im Ausland findet man das wahlweise belustigend oder sympathisch, bisweilen auch niedlich. Oder auch progressiv, nüchtern – so sind sie, die HolländerInnen, mögen sich manche gedacht haben.

Der Grund, weshalb sich Rutte diesmal auf den Sattel schwang, hat mit «niedlich» jedoch rein gar nichts zu tun: Es ist die sogenannte Kindergeldaffäre, ein politischer Skandal, der die Niederlande schon länger beschäftigt. Zwischen 2014 und 2019 gerieten etwa 26 000 Eltern fälschlicherweise in Verdacht, beim Bezug von Kindergeld betrogen zu haben. Folglich mussten sie horrende Beträge zurückzahlen und landeten vielfach in schweren finanziellen Problemen. In zahlreichen Fällen gab die doppelte Staatsangehörigkeit der Betroffenen den Ausschlag dafür, sie besonders penibel unter die Lupe zu nehmen.

Krokodilstränen

Schon gegen Jahresende wurde in Den Haag über einen Rücktritt der Mitte-rechts‑Koalition spekuliert, zu der neben Ruttes Volkspartij voor Vrijheid en Democratie (VVD) auch ChristdemokratInnen (CDA), Liberale (D66) und calvinistische Christkonservative (CU) zählten. Im Dezember erschien der Bericht einer parlamentarischen Untersuchungskommission über die Affäre: Demnach widerfuhr den Opfern «beispielloses Unrecht». Staatlichen Institutionen werden zahlreiche schwerwiegende Fehler vorgeworfen, bis hin zur Verletzung von «Grundprinzipien des Rechtsstaats».

Die personellen Konsequenzen beschränkten sich nicht auf die Regierung: Schon einen Tag zuvor hatte sich Lodewijk Asscher, Fraktionsvorsitzender der oppositionellen Partij van de Arbeid (PvdA), zurückgezogen. Bei den Parlamentswahlen im März sollte er als Spitzenkandidat der SozialdemokratInnen antreten, die derzeit an ihre alten Überzeugungen anknüpfen und dem Neoliberalismus abschwören wollen. In Ruttes vorigem liberal-sozialem Kabinett war er als Vizepremier sowie Arbeits- und Sozialminister eine Schlüsselfigur mit direktem Bezug zum Bereich Kindergeld gewesen. Von den damaligen Zuständen will er freilich nichts gewusst haben, wie er letzte Woche per Videobotschaft auf Social Media darlegte.

In seiner Videobotschaft beschreibt Asscher den Skandal aber besonders drastisch: «Ich wusste nicht, dass die Steuerbehörde eine unrechtmässige Jagd auf Tausende Familien eröffnet hatte», sagt er. Im Rückblick führt er dies auf «zig Jahre aufgetürmtes Misstrauen» zurück und konstatiert «ein Menschenbild, das den Staat gegenüber seinen Bürgern feindlich werden liess». Man kann ihm vorwerfen, jetzt Krokodilstränen zu weinen. Dessen ungeachtet hat Asscher, der sich nun von der PvdA-Wahlliste zurückzieht, aber einen Punkt.

Als einstiges Mitglied eines Kabinetts, das für seinen drastischen Sparkurs im Zuge der Eurokrise bekannt wurde, verkörpert Asscher eine scheinbar unumstössliche niederländische Gesetzmässigkeit der letzten zehn Jahre: In Krisen wird reflexhaft jene Partei gewählt, die den Gürtel der Austerität am engsten schnallt – also Ruttes VVD. Asschers SozialdemokratInnen hingegen erlitten 2017 einen elektoralen Totalschaden.

Als Seniorpartnerin dreier aufeinanderfolgender Kabinette war der VVD Garantin dafür, dass die Austeritätslinie in jeder Koalition die Oberhand behielt: im Verband mit ChristdemokratInnen als Minderheitsregierung unter rechtspopulistischer Duldung (2010–2012), mit der PvdA (2012–2017), in der just beendeten Vierparteienkoalition. Die Überzeugung, dass der Markt alles richtet und BürgerInnen in erster Linie für sich selbst verantwortlich zu sein haben, ist der rote Faden der VVD und der Ära Rutte.

Zuspitzung des Marktdenkens

In seiner Thronrede 2013 analysierte Willem-Alexander, der niederländische König, diese Entwicklung, die freilich bereits in den achtziger und neunziger Jahren eingesetzt hatte: «Der klassische Versorgungsstaat verwandelt sich langsam, aber sicher in eine Partizipationsgesellschaft. Von allen, die das können, wird erwartet, für ihr eigenes Leben und ihre Umgebung Verantwortung zu übernehmen.»

Diese Verschiebungen in politischer Kultur und Gesellschaft bilden den Rahmen der Kindergeldaffäre, die als veritabler Skandal schockiert, als Zuspitzung radikalen Marktdenkens jedoch kaum überraschen kann. Wo die Fähigkeit, die eigene Haut zu retten, trotz zunehmend widriger Umstände auf dem Arbeits- und dem Wohnungsmarkt zum Mindeststandard wird, geraten diejenigen, die von Leistungen Gebrauch machen, unter Verdacht. Mit ihrer systematischen rassistischen Diskriminierung zeugt die Affäre zudem von einer stetigen Verinnerlichung des rechtspopulistischen Diskurses.

Der Publizist Jesse Frederik, Autor eines Buchs zum Thema, das im Februar erscheint, erklärt im Onlinemagazin «De Correspondent», wie das möglichst harte Vorgehen gegen vermeintlich unrechtmässigen Bezug von Leistungen zum politischen Konsens wurde und sich innerhalb der Steuerbehörde in den letzten Jahren eine strukturell harte Auslegung der Regeln und Vorschriften durchsetzte – zum Leidwesen der EmpfängerInnen von Zuschlägen. Ab 2009 habe die für Kinderzulagen zuständige Direktion «bewusst eine strengere Auslegung der Regeln» verfolgt, schreibt Frederik, «ohne Grautöne».

Wer sich darüber wundert, sollte sich Bilder aus dem Jahr 2012 in Erinnerung rufen. Damals feierte die als Partei der Besserverdienenden bekannte VVD ihren Wahlsieg in einem eigens errichteten Festzelt am Strand von Den Haag. In Karnevalsatmosphäre tanzten Mitglieder und AnhängerInnen ausgelassen vor Wahlpostern, auf denen gefordert wurde, den Staatshaushalt drastisch zusammenzusparen und all jenen die Sozialhilfe zu streichen, die die Landessprache nicht beherrschen. Eine obszöne Geste der Entsolidarisierung.

Ausstrahlung bis in die Schweiz

Es ist kaum ein Zufall, dass in den Niederlanden seither auch eine teils rabiate Europaskepsis zunehmend an Raum gewann. Im monatelangen Haushaltsstreit 2020 bekamen die anderen Mitgliedstaaten einen lebendigen Eindruck davon: Als Galionsfigur der sogenannten Sparsamen Vier (beziehungsweise Fünf) – im Verbund mit Österreich, Schweden, Dänemark und später Finnland – bestand Premier Rutte mit calvinistischer Selbstgerechtigkeit darauf, dass an alle gedacht sei, wenn jeder sich selbst helfe.

Natürlich gibt es entsprechende Tendenzen auch in anderen Ländern. Nicht zuletzt in der Schweiz wird in politischer Propaganda gerne gegen «Sozialschmarotzer» oder «Scheininvalide» vom Leder gezogen, zumal seit dies die SVP nach dem Jahrtausendwechsel als Wahlkampfthema entdeckte. Das Sozialversicherungsrecht wurde verschärft, die IV-Revision erhöhte den Druck auf LeistungsempfängerInnen. Zuletzt schlug die Debatte um den Einsatz von Sozialdetektiven hohe Wellen. Just in dieser Woche hat die SP des Kantons Zürich diesen an ihrer Delegiertenversammlung gutgeheissen.

Jenseits der gängigen kapitalistischen Krisenphänomene verbindet die beiden Länder eine calvinistische Ethik, gemäss der man sich durch fleissiges Schaffen am eigenen Schopf aus dem Elend zu ziehen habe. Entsprechend hatten auch die in Den Haag beschlossenen erschwerten Auflagen zum Bezug von Arbeitslosengeldern damals als Inspiration für die schweizerische IV-Revision 2008 gedient.

Was die Niederlande angeht, so wird sich Mitte März zeigen, inwieweit die Bevölkerung die besagten Entwicklungen als Problem erkennt. Bei den Parlamentswahlen, die pandemiebedingt diesmal auf drei Tage – vom 15. bis am 17. März – angesetzt sind, geht es nicht zuletzt um die Frage, ob auch die im Zuge von Corona nahende Wirtschaftskrise mit neoliberaler Brachialtherapie kuriert werden soll. Bislang liegt die VVD in Umfragen stabil vorne – wie beinahe immer in den letzten Jahren.

Premier Rutte hat unterdessen bereits angekündigt, das gesamte Zuschlagsystem erneuern zu wollen. Abzuwarten bleibt, ob man sich dabei auf technische und logistische Abläufe beschränkt – oder ob man auch die Ideologie ins Visier nimmt, die hinter dem jüngsten Skandal steckt. Über deren knallharten Charakter kann auch ein junggebliebener Premier auf dem Velo nicht länger hinwegtäuschen.