«Gerron»: Himmlisches Schmierentheater

Nr. 38 –

Charles Lewinsky erzählt die wahre Geschichte des Schauspielers und Regisseurs Kurt Gerron, der 1944 nach Theresienstadt deportiert wurde und dort den Auftrag erhielt, für die Nazis einen Propagandafilm zu drehen.


Bertolt Brecht hielt ihn für einen miesen Schauspieler und hat daraus keinen Hehl gemacht. Trotzdem durfte Kurt Gerron 1928 in der Uraufführung der «Dreigroschenoper» in Berlin die Moritat von Mackie Messer singen und wurde berühmt damit. Die Moritat schrieb Brecht drei Tage vor der Premiere – nachdem Harald Paulsen, der Darsteller des Mackie Messer, darauf bestanden hatte, mit einer himmelblauen Schleife aufzutreten, die seine Augen vorteilhaft zur Geltung hätte bringen sollen.

Ein harter Song musste her, um dem Gangsterboss aus London doch noch einen Hauch der Gefährlichkeit zu verleihen. «Und der Haifisch, der hat Zähne, und die trägt er im Gesicht …», sang Gerron als Moritatensänger, und das Publikum hörte nicht mehr auf zu jubeln. Von diesem Tag an war er ein Star. Als jedoch wenig später die Nazi-Haifische Deutschland beherrschten, war Gerron nicht in der Lage, die Zähne in ihrem Gesicht zu sehen.

Verwöhnter Berliner Junge

Wie schon in seinem Roman «Melnitz» (2006) rollt Charles Lewinsky ein Stück Zeitgeschichte der jüngeren Vergangenheit auf. Stehen jedoch in «Melnitz» fünf Generationen jüdischen Lebens im Zentrum, so tritt das Thema der jüdischen Identität in «Gerron» beinahe in den Hintergrund. Der Vater des in Berlin heranwachsenden Kurt Gerson hasste die «Judskis», wollte mit ihnen nichts mehr zu tun haben, und so erfuhr der Sohn erst vierzig Jahre später, was der Name Gerson wirklich bedeutete.

Erzählt wird die Geschichte eines 1897 geborenen Berliner Jungen, des verwöhnten Einzelkindes eines Tuchhändlers. Während des Ersten Weltkriegs schwer verletzt, wurde Kurt nach Hause geschickt, sehr zum Leidwesen des stramm patriotischen Vaters, der den Sohn lieber tot als ausgemustert gesehen hätte. Als der Hausmeister der Familie irgendwann erklärte, er wolle nicht länger die Kohlen in die Wohnung einer jüdischen Familie tragen, schliesslich sei er ein Arier, antwortete dieser Vater: «Sie sind ein Arier? Ich dachte, sie sind ein Portier!» Auch er sah die Zähne zu spät.

Aus Kurt Gerson wurde Kurt Gerron, und er spielte sich durch die Filme, Cabarets und Theater der zwanziger und beginnenden dreissiger Jahre, stand im «Blauen Engel» mit Marlene Dietrich vor der Kamera und drehte eigene Filme. Die Kellner und die Taxifahrer in Berlin kannten ihn, er lebte beschützt und geborgen durch seine Popularität – dass einige durchgeknallte Fanatiker gegen Juden hetzten, konnte ja kein vernünftiger Mensch ernst nehmen.

Jahrelang habe es ihn beschäftigt, warum der Bühnen- und Filmstar Europa nicht rechtzeitig verlassen habe, meint Lewinsky zu seinem Roman. Diese Frage brachte ihn dazu, mit der Arbeit an «Gerron» zu beginnen. Im Zentrum steht ein unlösbares Dilemma: Gerron, der 1944 mit seiner Frau Olga nach Theresienstadt deportiert worden war, erhielt den Auftrag, für den Lagerkommandanten einen Propagandafilm zu drehen: «Theresienstadt. Ein Dokumentarfilm aus dem jüdischen Siedlungsgebiet». Während Kurt Gerron zwischen Schuldbewusstsein und der drohenden Deportation nach Auschwitz abzuwägen sucht, zieht sein Leben an ihm vorbei. Auch er versucht zu verstehen, warum er sich erst nach der Flucht über Paris nach Amsterdam bemüht hatte, nach Amerika zu gelangen; warum er auf der Überfahrt auf einem Luxusdampfer bestanden hatte. Starallüren, die ihn um sein Leben bringen sollten: 1944 wurde Gerron in einer Gaskammer in Auschwitz umgebracht.

Wirklich verstehen

Lewinsky gelingt es einmal mehr, einem die historischen Ereignisse so nahezubringen, dass man meint, wirklich verstehen zu können. Und diese Menschen sind so lebendig, sie könnten heutzutage unter uns sein. Politische Blindheit als menschliche Eigenschaft (und nicht als Phänomen einer bestimmten Zeit) lässt aufhorchen. Und so verflucht Gerron weiterhin den himmlischen Drehbuchschreiber, der über den Wolken sitzt und sein Handwerk so ausgezeichnet versteht. Was heisst: Je beschissener das Leben der DarstellerInnen, umso besser amüsiert sich das Publikum.

Charles Lewinsky: Gerron. Nagel & Kimche. Zürich 2011. 539 Seiten. Fr. 34.90