Kurdistan: Kelims, Kräuter und Krieg

Nr. 38 –

Eine kleine Weberei in der kurdischen Bergstadt Hakkari vollbringt Grosses. Sie verteidigt das kulturelle Erbe der Region und gibt Flüchtlingsfrauen Arbeit. Ihre naturfarbenen Kelims verkauft sie in ganz Europa.


Im Südosten der Türkei ist selbst das Weben von Kelims ein politischer Akt. Als Kemal B. und Baran K. 2001 ihre Weberei gründeten und ihr den Namen der Färberpflanze Rûnas (Krappwurzel) gaben, hatte der Krieg des türkischen Staats gegen die KurdInnen nicht nur 30000 Menschenleben gekostet, drei Millionen Menschen aus ihren Dörfern vertrieben und sie zu Flüchtlingen im eigenen Land gemacht – er kappte auch Verbindungen zum kulturellen Gedächtnis.

Baran K. hat sein Wissen über Färberpflanzen und Webmotive im Kopf durch die Zeit gerettet. Als der Färbermeister zusammen mit seinem Freund Kemal und einigen Flüchtlingsfrauen aus den überquellenden Armenvierteln der Bergstadt Hakkari vor gut neun Jahren ins dämmrige Dachgeschoss des baufälligen Schlachthauses einzog, war seine Erinnerung das Archiv, aus dem die Weberinnen alte kurdische Motive schöpften und aus dem sich verloren geglaubtes Wissen über Färberpflanzen und Webmotive rekonstruieren liess. Mittlerweile steigt den Weberinnen nicht mehr der Geruch von Schlachtabfällen in die Nase. Heute arbeiten sie weiter unten in der Stadt in einem erdbebensicheren Haus.

Gewobene Tagebücher

Dort stand einst die alte traditionelle Steinhütte des Färbermeisters – eines der vielen Erdbeben zerstörte es. Im dreigeschossigen Neubau hält ein Doppelschalenmauerwerk in den strengen Wintern die Kälte ab. Im obersten Stock wohnt die Familie des Färbermeisters, im Untergeschoss befinden sich das Büro des Geschäftsführers und ausserdem ein Kelimdepot, ein Waschraum mit einem 2000-Liter-Wassertank und eine neue, tonnenschwere Teppichpresse.

Im hellen Zwischengeschoss ziehen die Weberinnen an zwölf Spannrahmen mit flinken Händen die Schussfäden durch die vertikal gespannten Kettfäden. Rostrote, blaue, safrangelbe Wollknäuel hängen an den Rahmen. Dort führt Chefweberin Melike farbige Wollfäden mit flinken Bewegungen durch die Kettfäden. Sie benötigt keine Vorlagen. Die komplexen Muster – stilisierte Hufe, Schlangen, Hörner – trägt sie im Gedächtnis. Die Mutter hat Melike das Weben beigebracht. Da war sie elf. Längst ist sie eine Meisterin ihres Fachs. Neben ihr müht sich eine unerfahrene Weberin ab. Ihre Bewegungen sind ungelenk, sie zählt ab, damit die Muster am Ende aufgehen.

Kelims, das sind die poetischen Tagebücher der Frauen: So verweben sie hier seit Menschengedenken ihre Geschichten von Liebe, Familie und Landleben. Auch über die stark abstrahierten Motive weiss Baran K. Bescheid. «Dieses Motiv», sagt er, «heisst Gul Saria – Blume der Saria». Es stammt aus dem Elke-Tal aus dem Dorf Ceman. Das Motiv steht für die Beziehung zwischen Mann und Frau. Die jungen Weberinnen mögen es besonders. Es erzählt Geschichten über die Zeit vor der Hochzeit. Ein anderes Motiv – stilisierte Hufe – handelt vom Leben mit den Tieren. Früher gründete der Reichtum auf der Viehzucht. Sehr viele Zeichen auf einem Kelim bedeuten viele Tiere. Also Reichtum. Und so könnte Baran K. stundenlang referieren und erzählen. Die traditionellen Motive aus der Region sind für ihn wie eine Landkarte: Er kann aufgrund der Webart und der Motive bestimmen, in welchem Dorf und von welchem Stamm der Kelim hergestellt wurde.

Arbeitslosigkeit als Regelfall

Bis zu dreissig Weberinnen verdienen mittlerweile bei Rûnas ihr Geld. Sie bestimmen weitgehend selbst, wie viel sie arbeiten. Einzige Vorgabe: mindestens ein Quadratmeter Kelim pro Monat. Die Weberinnen sind unverheiratet. Sobald sie heiraten, geben sie die Stelle auf. Und so gehen jedes Mal viel Wissen und Fertigkeit verloren. Die jungen, fröhlichen Frauen stammen alle aus den rasch hochgezogenen Flüchtlingsquartieren der Stadt. «Wir stellen nur Flüchtlingsfrauen ein», sagt Kemal. Meistens sei ihr Lohn – etwa 200 Franken im Monat – das einzige regelmässige Einkommen einer Familie.

Das ist auch in Nasiles Fall nicht anders. Neunzehn Menschen leben in der Steinhütte an einem der Steilhänge oberhalb von Hakkari. Nasiles Dorf wurde 1994 von Soldaten gebrandschatzt. Damals hatte die Familie zwei Pferde, vier Kühe, fünfzig Schafe und Ziegen. Jetzt hat sie bloss noch ein Dach über dem Kopf. Und doch haben die Familien Glück, die in der Weberei ein Auskommen finden. Denn in Hakkari ist die Arbeitslosigkeit die Regel – die vom Staat behinderte Privatwirtschaft liegt am Boden, der türkische Staat stellt die grosse Mehrheit der etwa 5000 Arbeitsplätze. Auch das ist eine wirksame Waffe gegen die KurdInnen. Die Kelimweberei Rûnas ist mit ihren rund 25 Arbeitsplätzen der grösste private Arbeitgeber der rund 90 000 EinwohnerInnen zählenden Stadt.

Baran K. macht sich im Färbraum zu schaffen. Es riecht säuerlich. Er gibt Schafwolle in kochendes Wasser und setzt Harzkügelchen bei. Eine Stunde brodelt der Sud. Dann lässt er das Gebräu auf 35 Grad Celsius abkühlen und gibt 100 Gramm Indigo dazu. Nach einer Viertelstunde zieht er die Wolle aus dem Wasser, sie ist jetzt goldfarben, erst während sie trocknet, färbt sie sich blau. Chefweberin Melike zupft die Wolle auseinander und hängt sie zum Trocknen in den Wind. Baran steckt einen Holzstock in einen anderen Topf und hebt rote Wolle ans Licht. Sie hat eine Stunde in einem Sud mit Krappwurzel gekocht und ist dann noch 24 Stunden im Sud gelegen.

Kelims für Vitra und Möbel Pfister

Baran K. ist ein Tüftler. Die Rezepte schreibt er nicht auf, er behält sie im Kopf. Die Kräuter und Pflanzen, die er als Färbemittel benutzt, hat er im Garten vor dem Haus gepflanzt. Manche findet er auch auf seinen langen Wanderungen in der Bergwelt um Hakkari. Es ist mittlerweile eine kahle Gegend. Die Militärs haben die Wälder im Laufe der Jahrzehnte niedergebrannt, sie haben Giftgas gegen die Guerilla eingesetzt und damit das Trinkwasser der Stadt vergiftet. Die Krebsrate steigt. Hier vergiftet der Krieg alles.

Die Weberei Rûnas ist ein Hoffnungsschimmer in diesem wirtschaftlich und kulturell verheerten Landstrich. Im Laufe des letzten Jahrzehnts haben die beiden Geschäftsführer zusammen mit ihren Weberinnen die Qualität ihrer Kelims ständig verbessert. Sie experimentieren mit Färbemitteln, sie feilen an der Webtechnik, um auf dem europäischen Markt bestehen zu können. Der steht zwar auf Handarbeit – sie soll dann aber doch so präzise erscheinen wie von Maschinen hergestellt.

Die Weberinnen von Hakkari brechen auch aus ihren kulturellen Mustern aus. Für das Schweizer Möbelhaus Domus haben sie einen Kelim nach Vorlage gewoben, auch für Vitra haben sie einen Auftrag ausgeführt – einen Kelim, passend zu einem neuen Vitra-Stuhl. Und auch Möbel Pfister nahm ihnen schon Ware ab.

Während die Weberinnen und Färbermeister Baran K. meist auf ihr Gedächtnis setzen, ist Geschäftsführer Kemal B. ein systematischer Kopf. Jeder Kelim wird fotografiert, nummeriert, archiviert und schliesslich nach Europa exportiert. Gewaltfreier Widerstand, der sich erst noch in klingende Münze umsetzen lässt.