Die WOZ-Wahlserie (5): Freiheit statt Volksbelehrung

Nr. 40 –

Wo kommt die Energie für eine linke Politik her? In den kleinen Arbeitskämpfen des Alltags staut sich eine Wut, die ins Utopische ausschlagen kann, schreibt die Gewerkschaftssekretärin und Schriftstellerin Annette Hug.


Sobald der Tisch «als Ware auftritt, verwandelt er sich in ein sinnlich übersinnliches Ding. Er steht nicht nur mit seinen Füssen auf dem Boden, sondern er stellt sich allen andern Waren gegenüber auf den Kopf und entwickelt aus seinem Holzkopf Grillen, viel wunderlicher, als wenn er aus freien Stücken zu tanzen begänne.» So schreibt Karl Marx ganz am Anfang des «Kapitals», weil er in der Geschichte der Wirtschaft noch nicht bis zur Erfindung des Geldes vorgestossen ist. Der Tausch des Tisches gegen die Familienbibel lässt sich auf keine Zahl und kein Konzept bringen, Marx ist zur Poesie gezwungen.

In Arbeitskonflikten scheint oft Wunderliches auf: Da besteht die Hilfspflegerin Stoichkov darauf, an der Beerdigung einer Altersheimbewohnerin, die sie sehr gemocht hat, teilzunehmen. Sie verlangt sogar, während der Arbeitszeit an dieser Beerdigung teilzunehmen. Aber Frau Stoichkov hat keinen rechtlichen Anspruch, für diese Beerdigung frei zu bekommen. Wenn es hoch kommt, wird sie im Gespräch mit dem Heimleiter emotional und beruft sich auf ihr Heimatland, das die Alten ehre. Das bringt nun auch den Heimleiter in Rage, aber er will die Situation nicht eskalieren lassen. Frau Stoichkov müsse ihn verstehen, sagt er und erklärt, welche Leistungen den Krankenkassen und dem Staat verrechnet werden können und welche nicht.

Die Pflege als Ware

Jedes Pflegeheim und jedes Spital gehört heute zur «ungeheuren Warensammlung», mit der Marx ins «Kapital» einsteigt. Mit der Zerstückelung der Pflegetätigkeiten in einzelne Warengruppen, die codiert und mit einheitlichen Preisen versehen werden, treten neue Sektoren menschlicher Arbeit in den Bereich der Warenproduktion ein, in diese «gespenstische Gegenständlichkeit» (Marx).

Spätestens wenn Frau Stoichkov darauf beharrt, dass sie sich von der Verstorbenen richtig verabschieden möchte, werden die Produkte «Mundpflege inkl. Schleimhautkontrolle» oder «Positionsveränderung im Bett» unheimlich.

Alexander Kluge bringt im Film «Nachrichten aus der ideologischen Antike» den Ursprung der Grillen und Gespenster der Warenwelt auf eine Formel: «Alle Dinge sind verzauberte Menschen.» Hinter den Leistungsabrechnungen jedes Pflegeheims stehen lebendige Mühen. Weil sie sich in Codes und Abrechnungen verlieren, erscheint das ganze Pflegesystem irgendwann als unkontrollierbare, nur noch durch höhere Mathematik zu begreifende Angelegenheit – als Zahlendschungel, der mit den Beziehungen im Pflegeheim nichts mehr zu tun zu haben scheint.

Wenn eine Frau Stoichkov ihren Job und vielleicht sogar ihre Aufenthaltsbewilligung riskiert, weil sie dieses eine Mal nicht nachgeben will – sie wird an der Beerdigung teilnehmen –, dann erinnert das an die allerersten Arbeiterproteste: als die Glarner ArbeiterInnen der Textildruckerei Egidius Trümpy 1837 wegen der Einführung einer Fabrikglocke streikten. Sie fanden es eine Zumutung, dass sich da ein Herr Trümpy herausnahm, ihren Tagesablauf auf die Minute festzulegen, nur weil er Lohn zahlte. Noch immer erinnern kleine Revolten daran, dass die Vorstellung, man könne seine Zeit verkaufen, einmal stossend gewesen ist.

Der Jargon der Qualität

Die Leistungen einer Angestellten werden zwar differenziert codiert und separat verrechnet, aber sie darf sich nicht darauf beschränken, einzelne Produkte zu liefern. Ihr ganzes Wesen ist gefragt. Marx beschrieb Arbeitskraft als «Verausgabung von Hirn, Muskel, Nerv, Hand usw.». Diese Aufzählung muss heute explizit verlängert werden. Von Angestellten wird erwartet, dass sie sich mit Herz und Seele in den Betrieb einbringen und das Betriebsergebnis zu ihrer persönlichen Angelegenheit machen. Auch Herz und Seele werden dann codiert, zuerst in Begriffen: «Unternehmerisches Denken» heisst das auf den Beurteilungsbögen für die Mitarbeitergespräche, oder «Selbstverantwortung». Es könnte eine lange Liste von Anforderungen folgen. Zusammenfassend wird verlangt, dass Untergebene für das Unternehmen arbeiten, als gehöre es ihnen selbst – und dass sie gleichzeitig akzeptieren, dass ihnen nichts gehört und die Befehlsgewalt eindeutig bei den Vorgesetzten liegt. Von den Pflegehelferinnen wird allenfalls – bei aller Bereitschaft zum Mitdenken – die Einsicht erwartet, dass die grösseren Zusammenhänge zu kompliziert für sie sind und eine Meinungsäusserung ihrerseits nicht kompetent sein kann.

Die Tatsache, dass die meisten Menschen nicht absolut freiwillig ihrer Erwerbsarbeit nachgehen, wird durch einen Jargon verschleiert, der perverserweise an ein sozialistisches Menschenbild anknüpft: Der Mensch wird zum Menschen, indem er sich durch seine Arbeit verwirklicht. Wer sich nicht ständig verbessern will, hat ein persönliches Problem. Der Tramchauffeur muss mit seinem Vorgesetzten von Jahr zu Jahr neue Entwicklungsziele formulieren. Er muss es sich gefallen lassen, dass er von Qualitätskontrolleuren, die inkognito in den Trams mitfahren, überprüft wird: Sind seine Ansagen freundlich? Haben seine Socken die richtige Farbe? Reagiert er auch bei Hektik überlegen? Wenn dann noch darüber verhandelt wird, wie lang er dafür braucht, aufs Klo zu gehen, und wie oft ihn das Bedürfnis durchschnittlich überkommen darf, dann ist das kein triviales Problem. Es zielt ins Herz der Frage, was man denn mitverkauft, wenn man seine Arbeitskraft zur Verfügung stellt: Die Blasenfunktionen? Die Frisur? Die Art, wie man spricht?

Nun ist nichts dagegen einzuwenden, dass Angestellte öffentlicher oder halböffentlicher Betriebe, die vom Volk bezahlt werden, freundlich sind zu den VertreterInnen dieses Volkes und dass sie ihre Arbeit gut machen. Auch als Kundin in einem privaten Geschäft ist man froh, wenn man nicht angeschnauzt wird.

Der Seele gerecht werden

Als Gewerkschafterin kann man nicht glaubhaft über den Begriff «Selbstverantwortung» lästern, schliesslich beruhen gewerkschaftliche Erfolge darauf, dass Leute nicht die Faust im Sack machen, sondern sich gemeinsam wehren – also Verantwortung für ihre Situation übernehmen. Und man hat vielleicht Alexander Kluge im Ohr, der mit der Übersetzerin Galina Antoschewskaja entdeckt, dass in der russischen Marx-Übersetzung das Wort «Seele» in den ganzen Zauber der Verwandlung von Arbeitskraft einfliesst. Kluge dichtet dann vor sich hin: «Ökonomie hat eine Seele, weil sie aus vielen Menschen gebaut ist, die sich Mühe geben. Sie bringt die Menschen zusammen. Ohne Seele könnten sie gar nichts machen.»

Die Seele soll nicht aus der Ökonomie vertrieben werden. Im Gegenteil. Die Ökonomie muss den Seelen gerecht werden. Darüber laut nachzudenken, fällt schwer, denn im Alltag ist zwischen dem Newspeak der Personalverantwortlichen und dem Gegrummel der Buschauffeure mit den falschen Socken viel Sprache abhandengekommen. Nicht nur die Preise der Waren, auch die wechselnden Jargons der Führungskräfte lassen die Geschichten verschwinden, die in den Waren und Pseudoprodukten stecken – die Menschen, die sich Mühe geben, kommen nicht mehr vor.

Im Motivationsgesäusel für MitarbeiterInnen geht auch vergessen, dass nach wie vor ein Verteilkampf um mehr oder weniger gut bezahlte und geachtete Tätigkeiten stattfindet. Allen wird versprochen, sie könnten es weit bringen – aber die gut bezahlten Jobs sind beschränkt, jemand muss für wenig Geld Büroräume putzen. Die Anforderungen an die Bildungsabschlüsse, die nötig sind, um in diesem Verteilkampf zu reüssieren, steigen. So wird das Beherrschen eines technokratischen Jargons betriebswirtschaftlicher, psychologischer, sozialarbeiterischer, künstlerischer Herkunft zur Trophäe. In Kreisen, die einem anderen Bildungsideal folgen, mag er als Peinlichkeit erscheinen, aber für jene, denen ein solcher Jargon am Qualifikationsgespräch lohnwirksam um die Ohren geschlagen wird, ist er ein Zeichen der eigenen Niederlage.

Die Stimmen freilassen

Wenn dann auch ParlamentarierInnen beweisen wollen, dass sie die richtigen Begriffe gelernt und das unternehmerische Denken verinnerlicht haben, verkommt ihre Politik zur Volksbelehrung. Dann wirken auch sie wie Damen und Herren, die von oben herab ein Gespräch mit dem Volk führen und ihm erklären, wo das Gesundheitsverhalten optimiert, wie die Kindererziehung verbessert und die Existenzangst richtig kanalisiert, die Beziehung zum andern Geschlecht ausgewogener gestaltet werden kann – sie führen ein Beurteilungsgespräch im Prozess der gesellschaftlichen Qualitätsentwicklung. Jeder Unterschied von Links, Mitte, Rechts verschwimmt in diesen Posen.

So wie Marx gezwungen ist, poetisch zu werden, wenn er eine Wirtschaft ohne Geld beschreibt, so erhofft man sich von linken PolitikerInnen eine Sprache, die nicht im Jargon der mittleren Führungsebenen festhockt. Es geht darum, die Stimmen und Geschichten freizulassen, die in der heutigen Warenwelt herumgeistern. Aus diesen Geschichten kann deutlich werden, was Freiheit im Sinne der linken Tradition bedeutet – die Freiheit von Frau Stoichkov zu wählen, unter welchen Bedingungen sie alte Leute pflegt und unter welchen Bedingungen eben nicht.


Annette Hug

Die Autorin Annette Hug (41) arbeitet als Gewerkschaftssekretärin in Zürich. Ihre Romane «Lady Berta» und «In Zelenys Zimmer» sind beim Rotpunktverlag erschienen.

Vor den Parlamentswahlen hat die WOZ sechs Autorinnen und Wissenschaftler gebeten, eine mögliche linke Politik zu beschreiben – frei in der Frage und Form.