Langzeitpflege: Betagte in Windeln für die Rendite

Nr. 5 –

Dauerstress für die Angestellten und schlechte Betreuung für die Betagten: Seit einiger Zeit häufen sich schlimme Nachrichten aus Alters- und Pflegeheimen. Ist auch die Pflege bald nur noch auf Profit ausgerichtet?

Man kann nicht einfach immer schneller pflegen: Altersheim im Kanton Bern. Foto: Ursula Häne

Im Alters- und Pflegeheim Lindenmatte im Berner Simmental ging es in den letzten Monaten strub zu und her. Samuel Burri, Unia-Gewerkschaftssekretär im Berner Oberland, berichtet von schlechten Arbeitsbedingungen und einem «Klima von Angst», von Mobbing und öffentlicher Diskreditierung von Mitarbeitenden.

Der Konflikt zwischen einem Teil der Angestellten und der Heimleitung eskalierte in der Kündigung einer Pflegerin, die sich als Vertreterin der Betriebskommission für bessere Arbeits- und Pflegebedingungen eingesetzt hatte. Die Teamleitungen stellten sich hinter die Heimleitung und distanzierten sich von den Vorwürfen der Gewerkschaft. Die Unia will nun Klage wegen missbräuchlicher Kündigung erheben. «Die Pflegerin hat sich gewehrt und Missstände angeprangert, das darf kein Grund für eine Kündigung sein», sagt auch Natalie Imboden, Grossrätin der Grünen, die im Berner Kantonsparlament mehr Kontrollen im Pflegeheimwesen fordert (vgl. «Vorstösse im Kanton Bern» im Anschluss an diesen Text).

«Wir werden in letzter Zeit vermehrt mit Klagen über schlechte Arbeitsbedingungen konfrontiert», stellt Udo Michel fest, bei der Unia nationaler Verantwortlicher für die Langzeitpflege. Für Michel ist klar: «Das ist die direkte Folge der Sparmassnahmen und der Privatisierungstendenzen in der Langzeitpflege.» Wo bisher neben öffentlichen und gemeinnützigen Heimen nur selten profitorientierte Institutionen am Werk gewesen seien, drängten Letztere heute in den Markt: «Die Pflege von Betagten wird zunehmend zum Kapitalrenditeobjekt.» Doch auch bei öffentlichen und gemeinnützigen Institutionen beobachtet Michel die «Ökonomisierung der Branche», das heisst, die Ausbreitung des Marktdenkens auf Bereiche, in denen ökonomische Überlegungen bislang eine untergeordnete Rolle spielten.

Traumhafter Wachstumsmarkt

Da man aber, wie Michel sagt, «nicht immer schneller pflegen» kann, werden offenbar andere Strategien entwickelt, um die Gewinne zu sichern. Eine Reportage in der «SonntagsZeitung» vom 28. September 2014 zeigt, dass es die Probleme nicht nur im Kanton Bern gibt. Die Zeitung wies nach, wie gewisse Altersheime «Betagte und Behörden austricksen», indem Personalangaben manipuliert oder zu hohe Leistungen verrechnet werden. Beliebt scheint auch, mehr Betten als bewilligt zu belegen; das alles geht auf Kosten der Betagten wie auch des Personals. Im «traumhaften Wachstumsmarkt» der Altersheime («Berner Zeitung») könnten private Anbieter Milliardengeschäfte realisieren. Kein Wunder, steigen international agierende Ketten, die teilweise Immobilien- und Investmentgesellschaften gehören, in das Business ein.

Für Michel ändert sich damit das Klima in der Branche – nicht nur bei profitorientierten, sondern auch bei gemeinnützigen Institutionen wie dem Altersheim Lindenmatte, wo man mit «rabiaten Methoden» gegen die Präsenz der Gewerkschaft vorgegangen sei: «Ich war früher als Gewerkschaftssekretär im Baugewerbe tätig und habe den Eindruck, dass es bei Arbeitskämpfen in der Langzeitpflege ebenso hart wie auf dem Bau zugehen kann.» Für die Unia ist die Verbesserung der Pflege- und Arbeitsbedingungen in der Langzeitpflege jedenfalls «eine der wichtigsten Herausforderungen der nächsten zehn Jahre». Als Ziel sieht Michel einen nationalen Gesamtarbeitsvertrag, mehr und bessere Kontrollen in den Heimen sowie eine politische Grundsatzdiskussion über die Frage, «was uns die Pflege unserer Betagten wert» sei.

Beat Ringger, Zentralsekretär der Gewerkschaft VPOD, stimmt ihm zu. «Die Langzeitbetreuung rutscht in eine gewaltige Krise hinein», sagt er. Sie sei unterfinanziert und fehlstrukturiert. Das aktuelle Angebot beinhalte einerseits Hilfe für die Pflege zu Hause durch die Spitex, andererseits die Pflege in Institutionen. Das decke einen wichtigen Bereich nicht ab, nämlich das wachsende Bedürfnis nach Wohnen in altersgerechten, individuellen Wohnungen, in denen Leistungen wie Essen, Reinigung, Notfalldienst und medizinische Versorgung angeboten werden. «Betreutes Wohnen ist heute praktisch nur für Leute mit entsprechenden finanziellen Reserven möglich, weil der Staat keine Ergänzungsleistungen dafür bezahlt», so Ringger.

Für ihn ist es nicht nur eine menschliche Tragödie, sondern ein ökonomischer Unsinn, wenn es «direkt von der eigenen Wohnung ins Heim, direkt von der Autonomie in die totale Abhängigkeit von fremden, immer wechselnden Betreuungspersonen» geht. Viele Menschen könnten unter den Bedingungen des betreuten Wohnens autonom bleiben und müssten nicht in Heimen gepflegt und etwa gar mit Beruhigungsmitteln ruhiggestellt werden. Ringger fordert: «Das Recht auf Ergänzungsleistungen muss auf den Bereich des betreuten Wohnens ausgeweitet werden.»

Auch Ringger sieht die «deutliche Verschiebung Richtung private Anbieter» als Problem. Zwar sei es in der Langzeitpflege nicht so leicht, grosse Gewinne zu machen. «Das grösste Problem entsteht dann, wenn Gemeinden sparen wollen und deshalb die Heime an Private übertragen, weil diese tiefere Löhne bezahlen und oftmals auch weniger gut ausgebildetes Personal beschäftigen. Im Schnitt haben kommerzielle Heime in der Pflege fünfzehn Prozent tiefere Personalkosten.»

Vorbild Waadt

Im Kanton Waadt ist seit 2004 der frühere Gewerkschafter und heutige sozialdemokratische Gesundheits- und Sozialdirektor Pierre-Yves Maillard am Werk. Die zuständige VPOD-Regionalsekretärin Maria Pedrosa ist des Lobes voll über die Situation im Kanton. Natürlich stünden auch hier die Pflegenden unter Druck, und es gebe auch in Waadtländer Heimen Missstände. Doch im Kanton Waadt ist seit 2008 alles ein wenig anders: Seither führen zehn InspektorInnen jährlich rund hundert Kontrollen in den Heimen durch, und zwar unangemeldet. So wird in der Waadt jeder Betrieb durchschnittlich einmal pro Jahr kontrolliert. Das Waadtländer Modell hatte einen durchschlagenden Erfolg: 2008 wurden 24 Waadtländer Betriebe erwischt, die zu wenig Personal angestellt hatten, 2014 waren es nur noch 4 Betriebe.

Kontrolliert wird nicht nur, ob, gemessen an der Anzahl der Betreuten, genügend Pflegende angestellt sind, sondern auch das Wohlbefinden der Betagten und die Anwendung von Zwangsmassnahmen. Zwangsmassnahmen? «Ja, etwa, ob Betagte angebunden werden, ob die Schranken am Bett hochgezogen bleiben, ob die Betagten abends früh ins Bett geschickt werden und im Bett essen müssen, ob sie Windeln anziehen müssen, statt dass sie auf die Toilette begleitet werden, und so fort», listet Pedrosa auf.

Ihrer Erfahrung nach gebe es ganz selten Fälle von individuellen Misshandlungen durch eine Pflegeperson. In der Regel sei es so: «Wenn das Personal überlastet und das Arbeitsklima schlecht ist und wenn viel Personalwechsel stattfindet, werden mehr Zwangsmassnahmen angewandt, und dann leiden die Patienten.» Und weil Missstände bei der Behandlung von PatientInnen auf Missstände bei den Arbeitsbedingungen hindeuten und umgekehrt, können auch die Gewerkschaften bei der «Heimpolizei» vorstellig werden, wenn sie von schlechten Arbeitsbedingungen oder unterdotierten Personalbeständen wissen. Pedrosa schätzt sehr, dass auf diese Weise die Gewerkschaften in die Kontrolle eingebunden sind. Auch hat Maillard Direktiven über eine obligatorische Mindestausbildung von Pflegepersonen erlassen. Und er hat Druck auf die Sozialpartner ausgeübt: Sie haben einen Gesamtarbeitsvertrag abgeschlossen, dem Angestellte von Regionalspitälern, subventionierten Alters- und Pflegeheimen sowie der Spitex gleichermassen unterstellt sind. Maillard hat ihn anschliessend für obligatorisch erklärt.

Das Qualitäts- und Kontrolldispositiv hat offenbar auch eine abschreckende Wirkung auf private Pflegeketten. Jedenfalls könne man im Kanton Waadt nicht sagen, dass gewinnorientierte Private massiv ins Geschäft drängten, sagt Maillard gegenüber der WOZ; in der Waadt ist nur rund ein Viertel der Anbieter profitorientiert – im gesamtschweizerischen Durchschnitt ist es bereits ein Drittel. Private Anbieter im Waadtland seien meist kleine, familiäre oder gemeinnützige Strukturen, die der Kanton mit Subventionen unterstütze. «Wir haben im Gesetz», so Maillard, «Grenzen für die Ausschüttung von Dividenden und für die Direktorenlöhne festgelegt. Das hat private Akteure davon abgehalten, sich bei uns auf die Liste der subventionierten Anbieter setzen zu lassen. Das gilt auch für die Spitalliste.» Jeder einzelne Schritt der Reformen seines Departements sei «mit Klagen bis vor Bundesgericht» bekämpft worden. Ohne Erfolg: «Das ganze System wurde von den Gerichten bestätigt.»

Doch nicht nur bei der Kontrolle der Lebens- und Betreuungsqualität in den Heimen und der Regelung der Arbeitsbedingungen beschreitet der Kanton neue Wege. Wenn Angehörige ihre Verwandten zu Hause pflegen, können sie sich für eine Auszeit durch Fachkräfte rund um die Uhr oder übers Wochenende entlasten lassen. Unter Maillard wird die Spitex stark subventioniert: «Das führt dazu, dass wir im Kanton rund 25 Prozent weniger Heimplätze haben als im Schweizer Durchschnitt.» Und im Bereich des betreuten Wohnens? «Wir sorgen dafür, dass sich das nicht nur Betuchte leisten können.» Das erreicht Maillard, indem der Kanton Anbieter subventioniert, die bereit sind, kontrollierte Mietzinsen für ihre Alterswohnungen einzuführen. «Das alles kostet Geld», ist sich Maillard bewusst, aber da gleichzeitig die Spitäler und Pflegeheime entlastet würden, habe man die Kosten im Griff. «Ohne starkes politisches Engagement des Kantons und eine globale und langfristige finanzielle Sicht geht es aber nicht.»

Vorstösse im Kanton Bern

Nach Berichten über Missstände in Berner Alters- und Pflegeheimen reichte Natalie Imboden, Kantonsrätin der Grünen Partei, im November 2014 Vorstösse im Grossen Rat ein, in denen sie vermehrte Kontrollen im Alters- und Pflegeheimwesen fordert. Anders als in der Waadt werden im Kanton Bern wenig Ressourcen dafür eingesetzt: Jedes Heim wird im Schnitt nur alle fünf Jahre einmal kontrolliert, die Besuche werden angemeldet. Auch die Grünliberalen reichten eine Motion für ein Inspektorat nach dem Waadtländer Modell ein.

Am 21. Januar wies der Grossrat den Vorstoss ab, obwohl die Regierung zugab, dass der vorgeschriebene Stellenplan in 17 von 303 Heimen unterschritten werde.