Ein Traum der Welt: Fliegen und fliegen lassen
Annette Hug bejubelt den Streik in Genf
Wenn ein Streik gut läuft, dann läuft er nicht wie geplant. Dann tritt zum Beispiel ein Gewerkschaftssekretär mit dem Direktor vor die Streikenden und schlägt vor, erst nächste Woche weiterzustreiken, nachdem man den Vorschlag des Direktors diskutiert habe. Aber die sogenannte Basis, in diesem Fall rund 250 Angestellte des Flughafens Genf, haben keinen Kompromissvorschlag gehört, sondern ein Ablenkungsmanöver; sie stimmen über den Vorschlag ihres Sekretärs ab und folgen ihm nicht. Sie beschliessen, ohne Unterbruch weiterzustreiken. Einige Stunden und ausgefallene Flüge später tritt eine Vertreterin der kantonalen Exekutive auf den Plan und handelt einen Kompromiss aus, der einem Sieg der Streikenden gleichkommt. Das Leistungslohnsystem, das die Angestellten zur Weissglut getrieben hat, soll erst 2025 eingeführt werden. Bis dahin bleibt Zeit, ernsthaft zu verhandeln.
Zum ersten Mal in der Geschichte haben Angestellte in der Schweiz einen Flughafen lahmgelegt. Der Gewerkschaftssekretär Jamshid Pouranpir (VPOD) sagt, dass das nicht aus dem Nichts komme. In den vergangenen Jahren hätten sich immer mehr Angestellte organisiert. (Es waren die schwierigen Jahre der Pandemie.) Nach kleinen Erfolgen hat sich die Stimmung nun wieder aufgeheizt, es gibt seit Monaten Versammlungen, und dann beschliesst der Verwaltungsrat am Donnerstag vor Ferienbeginn ein neues Lohnsystem. «Keine Kürzungen», hört man den Direktor am Fernsehen sagen, «vernünftige Anpassungen an verminderte Gewinne.» Wer schon einmal ein Lohnsystem verhandelt hat, weiss, dass es nichts Schlimmeres gibt als eine Totalrevision, bei der Lohnklassen neu definiert und alle Mitarbeiter:innen neu zugeordnet werden. Das ist der Nebelwerfer, bei dem sich erst nach langem Rumgerechne zeigt, wer gewinnt und wer verliert.
Als ich selbst als Gewerkschaftssekretärin arbeitete, hasste ich die Saison der Beurteilungsgespräche. Es ging dann darum, Mitglieder zu beraten, die ihre Benotung durch die Vorgesetzten unfair fanden. Die öffentlichen Betriebe schienen sich in Kindergärten zu verwandeln, in denen erwachsene Leute in Sitzungen darlegen sollten, wie sie ihr Gesprächsverhalten konstruktiver, ihre Erkältungen kürzer und ihren Elan famoser gestalten könnten. Was sinnvolle Gespräche von Anfang an verunmöglichte, war die drohende Lohnkeule: Nur wer eine gute Note bekam, wurde aufgestuft. Das will sich das Genfer Flughafenpersonal nicht bieten lassen. Kein Arbeitsklima, in dem Wohlverhalten vor den Vorgesetzten mit Geld honoriert wird.
Vor etwa zehn Jahren träumte ich einmal von einer kleinen Aktion mit Flugzeugen: Bevor es im Herbst wieder losgehen würde mit dem individuellen Vortanzen und den kollektiven Lohnverhandlungen, würden alle zusammen aufs Dach des Betriebs steigen – es war ein Spital –, und dort würden sie ihre Beurteilungsbogen zu Papierfliegern falten. Die liessen sie dann unter lautem Gejohle vom Dach segeln. «Ich lass mir doch nicht in der Seele rumtreten. Nicht mal für Geld», wäre die Botschaft gewesen.
In Genf waren nun richtige Flugzeuge im Spiel. Und Personal, das sich für Lohnerhöhungen wehrt, während das Leben teurer wird. Dass die Flugzeuge am Boden blieben, ist noch schöner als ein Schwarm fliegendes Papier.
Annette Hug ist Autorin in Zürich und sieht eine Streikwelle von England, Frankreich und Deutschland auf die Schweiz überschwappen, wobei beim Googeln des Worts «Gewerkschaftsboss» immer mehr beeindruckende Frauen zum Vorschein kommen.