Syrien und der Nahe Osten: Zu viele unwägbare Risiken
Den libyschen Exdiktator Muammar al-Gaddafi hat die Nato weggebombt. Doch im Fall Syriens schaut der Westen zu, wie das Regime die Opposition niederwalzt. Warum? Liegt es daran, dass es dort kein Öl gibt? Nein, die Sache ist komplizierter.
«Das Regime wird stürzen», schrieb die syrische Menschenrechtsanwältin Rasan Seituneh vor wenigen Wochen, «aber wie wir es stürzen, wird grossen Einfluss darauf haben, wie das neue Syrien aussehen wird und was für eine Zukunft wir haben.» Man sollte an diesen Satz denken, wenn man sich vor Augen führt, was sich kurz darauf in Istanbul abspielte.
Am 1. Oktober trafen sich in einem Hotel am Bosporus Vertreter der syrischen Aufständischen, um einen Nationalen Übergangsrat zu gründen. Bevor die Tagung eröffnet wurde, stürmten rund hundert Syrer in das Hotel: «Wir sind aus Syrien, und ich, Ben Wafian Methgal, bin der Präsident der arabischen Stämme. Wir stehen hier für die syrische Revolution, aber wir sind nicht vertreten in diesem sogenannten Nationalrat, der ausserhalb Syriens gegründet wird», zitierte die türkische Zeitung «Hürriyet» einen der Demonstranten. Es kam zum Handgemenge, die Polizei musste einschreiten.
Erst eine Stunde später konnte die Gründungssitzung des Nationalen Übergangsrats beginnen – ohne Methgal, der danach verkündete, dass man dem Übergangsrat einen Monat Zeit gebe. «Wenn bis dahin das Assad-Regime nicht beseitigt ist, werden wir einen anderen Übergangsrat gründen, einen, der von den Menschen auf den Strassen Syriens ernannt ist und nicht von einer Opposition ausserhalb des Landes.» Und dieser Rat werde den «sogenannten Nationalrat» natürlich nicht als legitime Vertretung der syrischen Opposition anerkennen.
Die Türkei und der Iran
Allein dieser Vorfall zeigt, wie kompliziert die Lage in Syrien ist. Dort hat der arabische Frühling bisher fast 3000 Menschen das Leben gekostet. Rund 10 000 SyrerInnen sind auf der Flucht, etwa drei Viertel von ihnen leben in türkischen Lagern. Über die Zahl der Häftlinge in den Gefängnissen gibt es nicht einmal vernünftige Schätzungen. Die Aufständischen lassen sich zwar von der Gewalt des Regimes in Damaskus nicht unterkriegen – aber sie scheinen auch nicht genügend Kraft zu haben, um Baschar al-Assad entscheidend zu schwächen.
Seit sich die türkische Regierung von der syrischen Regierung abgewandt und sich ohne Vorbehalt auf die Seite der Aufständischen gestellt hat, verfügt zumindest ein Teil der syrischen Opposition über einen sicheren Rückzugsraum. Man werde keinen Syrer gegen seinen Willen nach Syrien oder in ein anderes Land ausschaffen, verkündete das türkische Aussenministerium Mitte September. Als Assad Truppen an der türkischen Grenze aufmarschieren liess, bereitete Ankara ein Militärmanöver im Grenzgebiet vor. Das war zwar eher eine symbolische Geste, aber aufgeschreckt hat sie doch. Zur Beruhigung der Öffentlichkeit erklärte Nato-Generalsekretär Anders Fogh Rasmussen der türkischen Presse, dass die Situation in Syrien nicht für eine internationale Intervention spreche.
Aber warum hält sich die Nato zurück? Weil Syrien – anders als Libyen – keine Ölvorkommen hat? Das wäre zu kurz gegriffen. Syrien unterscheidet noch viel mehr von Libyen.
Russlands Interessen
Das liegt zum einen daran, dass bisher alle SprecherInnen der Oppositionsgruppen Syriens ein militärisches Eingreifen ablehnen. «Wir wollen weder eine Einmischung der Türkei noch irgendwelcher anderer Länder. Die haben in den vergangenen zehn Jahren alle Assad unterstützt», sagte Anfang Oktober Ghajath Naisse, Mitgründer des Komitees für die Verteidigung demokratischer Freiheiten und Menschenrechte in Syrien.
Zum anderen aber, und das ist entscheidender, ist Syrien so etwas wie ein Eckstein in der politischen Statik des gesamten Nahen Ostens. Wer an diesem Stein rüttelt, kann die mühsam austarierten Gleichgewichte des Schreckens und der Abschreckung in der gesamten Region erschüttern – mit unkalkulierbaren Folgen.
Da sind etwa die Interessen Russlands, das sich einen Verlust seines Einflusses in Syrien kaum leisten kann. Es hat bereits durch den Irakkrieg Rüstungs- und Energielieferverträge im Wert von rund zehn Milliarden US-Dollar verloren. Der Sturz von Gaddafi kostet Moskau weitere Milliarden. Zudem verfügt die russische Armee in den Staaten des arabischen Frühlings nur noch über gute Kontakte zum ägyptischen Militär und über einen Militärstützpunkt an der syrischen Küste. Anatolij Isajkin, Chef der staatlichen russischen Waffenhandelsfirma Rosoboronexport, betonte im August gegenüber der russischen Nachrichtenagentur Itar-Tass, seine Firma habe von der Regierung «keine Anweisung erhalten, die militärisch-technische Zusammenarbeit mit Syrien einzuschränken».
Entscheidend für Moskau ist: Fällt das Assad-Regime, dann wird der einzige noch vorbehaltlose Verbündete Russlands in der Region, der Iran, entscheidend geschwächt. Syrien nämlich ist für die Ajatollahs und ihre Militärs der entscheidende Hebel. Ein Sturz der Regierung in Damaskus wäre auch ein Schlag für die Hamas in Syrien und Palästina und die Hisbollah im Libanon – und beide sind so etwas wie ein verlängerter Arm Teherans.
Verliert der Iran seinen Verbündeten Assad und mit ihm eine starke Hisbollah, dann hat die iranische Regierung möglicherweise auch das Nachsehen beim Ringen um die Vormachtstellung in der Region. Hauptkonkurrent ist die Türkei. Bislang hat den beiden Staaten die Mühe um gegenseitige Verständigung mehr Vorteile als Nachteile gebracht. Für die Türkei ist der Iran mit einem Handelsvolumen von knapp drei Milliarden US-Dollar in die Liste der zehn wichtigsten Handelspartner aufgerückt, eine Steigerung von fast dreissig Prozent innerhalb eines Jahres. Doch je mehr sich die Lage in Syrien zuspitzt, desto sichtbarer werden die Risse in den Beziehungen zwischen den beiden Staaten.
So warnte der iranische Generalleutnant Jahja Rahim-Safawi vor wenigen Tagen: «Die türkische Regierung verhält sich gegenüber den Staatsoberhäuptern Syriens und des Iran falsch.» Ankara vertrete die Ziele der USA und müsse auch die Folgen tragen, denn die Nachbarstaaten würden sich von der Türkei abwenden. Der Mann ist militärischer Berater des religiösen Führers und Staatsoberhaupts Ajatollah Chamenei.
Demgegenüber liessen schon Anfang August türkische Medien durchsickern, die türkischen Sicherheitskräfte hätten eine Waffenlieferung des Iran an Syrien in der Südtürkei gestoppt. Die Waffen seien für die Hamas bestimmt gewesen. Und letzte Woche schrieb das regierungsnahe türkische Blatt «Yeni Safak», die iranische Armee habe vor kurzem den zweiten Mann der PKK, Murat Karayilan, im Grenzgebiet zwischen Iran, Irak und Türkei festgenommen und ihn dann wieder, wie böse Zungen sagen, auf die Türkei losgelassen.
Saudi-Arabien und Israel
Nicht nur Ankara und Teheran ringen miteinander. Der beste Feind des Iran in der Region, Saudi-Arabien, hat ein grosses Interesse an der Schwächung Teherans. Aber es hat überhaupt kein Interesse daran, dass auch nur ein Lufthauch des arabischen Frühlings durch die Gassen von Riad weht. Die Unruhen und Aufstände in Tunesien, Ägypten, Libyen, Syrien, Bahrain und im Jemen haben die Widersprüche zwischen den arabischen Ländern vergrössert. Die verschiedenen revolutionären, reformerischen und reaktionären Lager beäugen sich mit grossem Argwohn. Ist der Sturz Assads nicht aufzuhalten, dann werden Saudi-Arabien und auch Ägypten sicherstellen wollen, dass dieser Wandel wenigstens in ihrem Sinne vonstattengeht.
Und zwischen all diesen Unwägbarkeiten sitzt Israel. Bereits im Juli hatte der israelische Geheimdienst Mossad – und nicht nur er – berichtet, dass der Iran in Ägypten mitmische und zunehmend die Muslimbruderschaft beeinflusse. Israel wird nicht tatenlos zusehen, wie ein Nachbarstaat nach dem anderen ins Chaos abzugleiten droht.
Die Vielzahl religiöser und ethnischer Gruppen macht es den syrischen Aufständischen nicht leicht, sich untereinander zu verständigen. Die Geschichte, die Lage und die Interessen der Alawiten, der Christinnen, Drusen, Ismailitinnen, liberalen Sunniten, sunnitischen Islamisten oder der Kurdinnen sind höchst unterschiedlich. Das erklärt zum Teil den Streit über die richtige Strategie, die Taktik und die Ziele des Aufstands. So sind die loyalen Einheiten Assads meist alawitischen Glaubens, während die Aufständischen mehrheitlich SunnitInnen sind. Je härter beide Seiten aufeinandertreffen, desto eher nimmt der Konflikt auch einen religiösen Charakter an.
Der Irak und der Westen
All diese Bruchlinien machen die Aufständischen besonders anfällig für eine Einmischung von aussen. Die deutsche Stiftung für Politik und Wissenschaft – der Thinktank der deutschen Aussenpolitik – geht aufgrund verschiedener unabhängiger Berichte davon aus, dass in Syrien «zumindest in einigen Fällen bewaffnete Gruppen mit islamistischer Orientierung inmitten der grossen Mehrheit friedlicher Demonstranten operieren und systematisch auf eine Eskalation der Gewalt hinarbeiten». So sollen bereits etliche sunnitische Kämpfer aus dem Irak nach Syrien eingesickert sein. Nun sieht auch der Irak mit seiner schiitischen Armee sorgenvoll einer Machtübernahme der Sunniten in Syrien entgegen.
Noch streitet sich die syrische Opposition: Weiter friedlich demonstrieren? Oder sich bewaffnet wehren? Die einen setzen darauf, dass friedliche Proteste immer mehr Soldaten und zivile Funktionäre des Assad-Regimes dazu bringen könnten, zu ihnen überzulaufen. Doch der Mord am kurdischen Oppositionspolitiker Mischaal al-Tammo vor wenigen Tagen hat ihre Position geschwächt. Al-Tammo war mit seiner liberalen Zukunftspartei für einen friedlichen Übergang und ein demokratisches und pluralistisches Syrien eingetreten. Seine Beerdigung wurde zu einem wütenden Aufschrei der syrischen KurdInnen, immerhin ein Zehntel der Bevölkerung.
Die Gewalt verheisst nichts Gutes. Laut einer Studie der US-amerikanischen Columbia University, die für den Zeitraum 1900 bis 2006 die Folgen von 323 bewaffneten und unbewaffneten Konflikten untersuchte, liegt im Fall eines erfolgreichen bewaffneten Aufstands die Wahrscheinlichkeit für einen demokratischen Übergang innerhalb von fünf Jahren bei nur 3 Prozent. Wurde der Konflikt unbewaffnet ausgetragen, waren es 51 Prozent.
In Syrien könnte ein bewaffneter Aufstand einen lang andauernden Bürgerkrieg auslösen, in dem die verschiedensten Mächte an den Fäden zu ziehen versuchen – mit gravierenden Folgen für die Stabilität der gesamten Nahostregion. Kein Wunder, dass alle PolitikerInnen, die sich mit der Situation beschäftigen, ein offenes Eingreifen etwa der Nato für ein unkalkulierbares Risiko halten. Zumal, wie westliche DiplomatInnen klagen, nicht einmal klar sei, wer im neu gegründeten Nationalen Übergangsrat welche syrische Bevölkerungsgruppe repräsentiere.