Linke Medien in China: Auf der Suche nach einer chinesischen WOZ
In der Volksrepublik China schreibt man Zeitungen inzwischen zwar auch von links nach rechts. Aber was kann eine linke Zeitung in einem Land sein, in dem per Definition alles links ist?
«Eine linke Zeitung? Eine linke Zeitung …», wiederholt die junge Frau am Zeitungskiosk. Um sich besser auf eine so schwere Frage konzentrieren zu können, nimmt sie sogar ihren Säugling von der Brust. Aber trotzdem macht die Kioskfrau weiter ein ratloses Gesicht. Dabei ist ihr Angebot nicht eben klein. Es reicht vom «Shipborne Weapons Magazine» bis hin zum «Ruili Home Doctor», insgesamt fast 600 verschiedene Zeitungen und Magazine. Warum ist keine linke Zeitung dabei?
Der freie Journalist, Übersetzer und Schriftsteller Shi Ming hat eine Erklärung dafür. «Links», sagt er, «ist erstens für die chinesische Regierung eine Selbstverständlichkeit. Alle sind links. Müssen es sein. Auch die liberalen Zeitungen nennen sich offiziell nicht liberal. Und rechts geht natürlich erst recht nicht! Zweitens: Links ist für die Jugendlichen ein Reizwort. Sogar die Linken selbst vermeiden es. Sie nennen sich lieber Mao-Zedong-Gedanken-Fraktion oder Gesellschaftliche-Verantwortung-Fraktion.»
Profillos wie die Gewerkschaft
Es gibt natürlich ein paar Zeitungen, bei denen man schon vom Namen her vermuten würde, dass sie linke Positionen vertreten. Da ist zunächst die «Arbeiter-Tageszeitung» des Allchinesischen Gewerkschaftsbunds. Nur: Der ist selbst auf der Suche nach seiner Rolle. Soll er bei Arbeitskonflikten vermitteln oder die Interessen der Beschäftigten vertreten? Wer sind überhaupt die ArbeiterInnen? Was ist mit den WanderarbeiterInnen? «Weil das alles nicht geklärt ist, hat die ‹Arbeiter-Tageszeitung› kein klares Profil. In ihr findet sich keine einzige ernst zu nehmende Debatte», erläutert Shi Ming. Und dann ist da die «Bauern-Tageszeitung» des Landwirtschaftsministeriums. Das steht allerdings sehr unter dem Einfluss US-amerikanischer Gift- und Genkonzerne. Und wird dafür von der Linken – die mit ihrem Engagement für mehr Nahrungsmittelsicherheit bei der Mittelschicht gewaltig punkten kann – heftig angegriffen. «Was würde nun passieren, wenn eines Tages ein Linker Landwirtschaftsminister wird? Sie wissen es nicht. Da ist die ‹Bauern-Tageszeitung› lieber vorsichtig und zu einer reinen Landwirtschaftszeitung verkommen», sagt Shi Ming.
Es liegt also keineswegs an der jungen Zeitungsverkäuferin, dass sie keine linke Zeitung anzubieten hat. Auch ExpertInnen wie Kristin Kupfer, eine promovierte Politikwissenschaftlerin, die früher als Chinakorrespondentin für die deutsche Wochenzeitung «Die Zeit» und das österreichische Nachrichtenmagazin «Profil» arbeitete, kann in dieser Frage nicht weiterhelfen: «Bei den Zeitungen unterteilt man eigentlich eher nach staatsnahen und liberalen», sagt sie.
Die bekannteste liberale Wochenzeitung ist «Nanfang Zhoumo» («Südliches Wochenende»), und sie hat schon früh einen investigativen Stil entwickelt. Vor allem was Wirtschaftsverbrechen anbelangt. Auch das liberale Wirtschaftsmagazin «Caijing» berichtet viel über Wirtschaftsverbrechen. Beim Durchblättern von «Caijing» fällt allerdings zunächst einmal auf, dass China so anders nun auch wieder nicht ist: Auf der ersten Doppelseite der aktuellen Ausgabe ist eine Werbung für die Uhren von Rolex platziert, auf Seite 7 eine von Swatch, Seite 11: Blancpain, Seite 13: TagHeuer, Seite 23: Breitling, Seite 45 eine Anzeige von UBS mit Sumi Jo; dann kommen wieder die Schweizer Uhren.
«Caijing» greift zwar auch kontroverse Themen auf, wie der Abriss von Wanderarbeiterkinderschulen um Peking (wegen schlechter Pädagogik und Bauqualität? Oder um Platz für neue Immobilienprojekte zu schaffen?), und bringt ein Foto von jemandem, der aus einem Gully Öl abschöpft, was dann (gefiltert) wieder auf dem Tisch landet – der neuste Nahrungsmittelskandal. Aber trotzdem kann «Caijing» als «der chinesische ‹Economist›» natürlich nicht gleichzeitig die chinesische WOZ sein.
Viel Uhrenwerbung
Und das «Südliche Wochenende»? Im Vergleich zu «Caijing» sind die Anzeigen bodenständiger. Auf dem Titelblatt wirbt die Schnapsmarke Xinlang mit ihrem «harmonischen Geschmack», auf der zweiten Seite erklärt sich die Schnapsmarke Shuijingfang zum «Platinum-Sponsor» des China-Open-Tennisturniers, und passend zum martialisch bebilderten Artikel über US-Waffenverkäufe an Taiwan wirbt der «strategische Partner der Militärberichterstattung des Zentralfernsehens CCTV», die Schnapsmarke Lang, mit dem Foto eines Flugzeugträgers. Leider sind aber auch die Themen eher hausbacken: Während «Caijing» über die ägyptische Revolution berichtet hatte, die – auch wenn die Machtverhältnisse unangetastet geblieben seien – eine Demokratisierung angestossen habe, bringt das «Südliche Wochenende» nur einen langatmigen Artikel über «Das Grüne Buch» von Muammar al-Gaddafi.
Was Lenin damals gesagt hat
Inzwischen hat sich die junge Frau am Zeitungskiosk einen Ruck gegeben. «Muss es eine Zeitung sein, oder geht vielleicht auch ein Magazin?», fragt sie. «Weil, dann …» – sie legt ihren achtmonatigen Sohn auf einem Zeitungsstapel ab und greift tief unter die Theke –, «dann gibt es diese. Die sind relativ links.» Sie klingt nicht so, als wäre sie sich ihrer politischen Einstufung sicher. Doch das kann auch an der Zeitschrift liegen, die sie jetzt hervorholt.
«Fenghuang», auf Deutsch «Phönix», ist verboten. «Die darf ich nicht verkaufen. Die muss man abonnieren. Nur so kann man die beziehen.» Das Titelthema ist die (bürgerliche) Xinhai-Revolution vor genau hundert Jahren. Darüber berichten die anderen Zeitungen auch. Aber hier ist es inklusive eines Artikels, der beschreibt, was Lenin damals darüber gesagt hat. Und der erste Abschnitt dieses Artikels lautet: «Von all dem, was die Sowjetunion und Russland zu der Xinhai-Revolution gesagt haben, sind wir aus geschichtlichen Gründen bisher fast ausschliesslich mit der bolschewistischen Interpretation in Kontakt gekommen. Denn erst in den neunziger Jahren des letzten Jahrhunderts kam geschichtliches Material der russischen Sozialdemokraten, Sozialrevolutionäre und Anarchisten zum Vorschein.» Das klingt immerhin nach jemandem, der sich einigermassen mit der Linken auskennt.
Wenn der Polizeichef verprügelt wird
Auch wenn «Phönix» die sensiblen Sachen oft von ausländischen ExpertInnen schreiben lässt oder so tut, als gehe es in Artikeln vorrangig ums Ausland (etwa die beschämend langsame Entschädigung von durch Blutspenden mit HIV Infizierten), wird hier wirklich viel berichtet, was sonst nirgendwo steht – beispielsweise über den Widerstand der BürgerInnen von Dalian gegen ein Chemiewerk, dessen Werkschutz nicht nur die CCTV-Reporter, sondern den Vizeparteisekretär der Stadt, den Leiter der städtischen Propagandaabteilung und den lokalen Polizeichef gleich mit verprügelt hat. Zudem zeigt die von der Zeitungsfrau hervorgekramte Nummer, wenn auch kommentarlos, Fotografien von Taxistreiks. Nur hier lässt sich ein «Macht etwas, ändert die Verhältnisse!» herauslesen.
«Phönix» könnte die beste linke Wochenzeitschrift Chinas sein. Ist es aber nicht. Denn obwohl die Zeitschrift von links nach rechts geschrieben ist, kommt sie doch aus Hongkong – wo ansonsten von rechts nach links und von oben nach unten gelesen wird. Eine linke Wochenzeitung gibt es in der Volksrepublik nicht. Und das ist wieder ganz anders als in der Schweiz.