Eine andere Asylpolitik: «Als ob das Haus uns gesucht hätte»
Der Kanton St. Gallen ist für seine harte asylpolitische Linie bekannt. Doch hier gibt es seit Jahren auch praktischen Widerstand: Nun wurde im St. Galler Quartier St. Fiden ein Solidaritätshaus eröffnet.
«Hey, wie betest du? Auf den Knien oder im Schniidersitz? Auf den Knien, autsch! Und du, wie betest du? Gar nöd! Na dann viel Glück!» Taschi lacht. Seine Augen wechseln innert Sekunden von Schalk zu Ernst. «Ich kam mit siebzehn in die Schweiz. Ich sprach kein Wort Deutsch», erzählt er. Mittlerweile ist Taschi neunzehn, reisst Witze in Mundart und ist Mitglied einer Schulleitung. Es ist Donnerstagmittag. Sandup Taschi Norbutsang, wie der junge Mann mit vollem Namen heisst, steht im Eingangsbereich eines kleinen Hauses mitten im St. Galler Stadtteil St. Fiden. Aus dem oberen Stock dringt das Scheppern von Geschirr.
Das Haus war vor kurzem noch unbewohnbar. Nun ist es ein Treffpunkt mit Mittagstisch für Flüchtlinge und Einheimische, mit Aufenthalts- und Kursräumen für Migrantinnen und Quartierbewohner, mit Beratungszimmer, Gartensitzplatz, Pingpongtisch und Schaukel – und mit einer selbst organisierten Schule für MigrantInnen und Einheimische gleich gegenüber.
«St. Gallen kann es», lautet der Werbespruch des Kantons. In der Asyl- und Ausländerpolitik ist er für seine harte Linie bekannt. «St. Gallen kann auch anders» könnte das Motto des Solidaritätshauses sein, einem migrationspolitischen Mikrokosmos im Stadtquartier St. Fiden.
Eine Idee entsteht
Die Geschichte beginnt im Dezember 2003. Damals beschloss das Bundesparlament, Asylsuchende mit Nichteintretensentscheid (NEE) von der Sozialhilfe auszuschliessen und sie der Nothilfe zu unterstellen. In St. Gallen regte sich ziviler Widerstand gegen die neue Politik: «Als wir sahen, dass viele Leute, die von der Nothilfe leben mussten, schlicht auf die Strasse gestellt wurden, kamen wir auf die Idee, einen Mittagstisch zu organisieren», erzählt Ursula Surber. Mit Gleichgesinnten engagierte sie sich fortan im Solidaritätsnetz Ostschweiz, einem Bündnis aus linken und kirchlichen Kreisen, Flüchtlingen und Einheimischen. «Bald merkten wir, dass die Leute auch Beratung und Betreuung brauchten – und so ergab sich das eine aus dem anderen», erinnert sich Surber.
Seither beantworten Freiwillige nach dem Mittagessen Fragen von Asylsuchenden, helfen etwa beim Übersetzen amtlicher Briefe.
Eine treibende Kraft der neuen Basisbewegung war Andreas Nufer, Pfarrer der Ökumenischen Gemeinde Halden und Mitbegründer des Solinetzes. Er wusste, wie man Leute zur Mitarbeit motiviert, schuf Kontakte zu Ämtern und PolitikerInnen und vertrat das Netzwerk in der Öffentlichkeit. Mittlerweile zählt es über 1300 Mitglieder, rund 200 Personen engagieren sich aktiv in den verschiedenen Ostschweizer Regionen.
«Die Idee für ein eigenes Haus entstand an Weihnachten vor drei Jahren», erzählt Surber. Aus Protest gegen das neue Asylgesetz – der Sozialhilfestopp wurde auf alle abgewiesenen Asylsuchenden ausgeweitet – veranstaltete das Solinetz im Dezember 2008 ein «solidarisches Weihnachtsfest»: In einem alten, dem Abbruch geweihten Haus fanden während einer Woche Workshops und Konzerte statt. «Hier kamen Flüchtlinge und Einheimische zusammen, assen, diskutierten und feierten gemeinsam.» Inspiriert von Projekten in Bern und Innsbruck machte man sich auf die Suche nach geeigneten Liegenschaften.
Lehrlinge als Chefs
Gut zwei Jahre später hatte das Solinetz sein Haus gefunden – oder umgekehrt, wie Ursula Surber meint: «Es ist, als ob das Haus uns gesucht hätte.» Denn im Haus an der Fidesstrasse spiegelt sich ein Stück Ostschweizer Migrationsgeschichte. Der Historiker Peter Stahlberger hat sie in einer Broschüre mit dem Titel «Mitten am Rand» aufgearbeitet: Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, diente das Haus zunächst als Unterkunft für die italienischen ArbeiterInnen, die den damaligen Aufschwung der St. Galler Stickereien und der Baufirmen der Region entscheidend mittrugen. Im Ersten Weltkrieg erlitten die Textil- und die Baubranche einen markanten Rückschlag. Die ArbeiterInnen aus dem Süden wurden zurückbeordert und in den Krieg geschickt. St. Fiden verlor einen grossen Teil seiner italienischen EinwohnerInnen. Das Haus an der Fidesstrasse diente darauf als Kindergarten und Hort, bis die Stadt Ende 2009 entschied, es sei für diesen Zweck zu heruntergekommen.
«Das Haus war in einem desolaten Zustand», erinnert sich der Architekt Martin Widmer. Um die Kosten tief zu halten, organisierte der Verein Solidaritätshaus den Umbau selbst und suchte nach Freiwilligen, die sich finanziell oder praktisch an der Arbeit beteiligten. Ende Februar wurde mit der Arbeit begonnen: Flüchtlinge und Einheimische zimmerten während dreier Monate an ihrem Haus, spitzten, verputzten, strichen, nähten Vorhänge und statteten die Räume mit Möbeln aus. Bezahlt wurden einzig das Material und die Angestellten der beteiligten Baufirmen. Und auch diese zeigten sich solidarisch: «Wir bekamen Rabatte, die unsere Erwartungen weit übertrafen», erzählt Widmer. Für die Profiarbeit schickten mehrere Firmen ihre Lehrlinge, womit ebenfalls Kosten eingespart wurden. «Hier waren die Lehrlinge für einige Wochen die Chefs. Als der Umbau fertig war, gingen sie drei Köpfe grösser aus dem Haus», so Martin Widmer. Ende Mai konnten die ersten Räume bezogen werden.
Deutsch- und Arabischstunden
Über eine steile Treppe kommt man in den Dachstock, zu Küche und Speisesaal. Jetzt ist es ruhig im Saal, ein junger Mann macht sich daran, die Tische sauber zu wischen. Vor einer halben Stunde herrschte Hochbetrieb: An die vierzig Leute kamen zum Mittagstisch, Frauen, Männer und Kinder, alle Tische waren besetzt, es mussten zusätzliche Stühle geholt werden, damit niemand im Stehen essen musste.
Aus einem Raum hinter der Küche klingt Musik, grell und blechern, wie es nur ein altes Handy zustande bringt: Ahmed sitzt auf einem Sofa im kleinen, mit Kissen und Tüchern ausgestatteten Aufenthaltsraum. «Das ist kurdische Volksmusik. Die höre ich gerne zur Entspannung», erzählt er.
Über einen Kiesweg, an Schrebergärten vorbei, kommt man zur ehemaligen Primarschule von St. Fiden. Als Anfang der achtziger Jahre die Schule mangels Kindern schliessen musste, wurden die Räumlichkeiten der Missione Cattolica Italiana vermietet. Fortan sollten hier Kinder italienischer MigrantInnen in ihrer zweiten Muttersprache unterrichtet werden. Nach gut zwanzig Jahren zog auch die «Italienerschule» mangels Nachfrage aus.
Italienisch wird hier heute nicht mehr unterrichtet, dafür beispielsweise Deutsch: «Ich bin mit dem Velo …» – «Gefahren!», hallt es von den Schulbänken. «Ich habe Spaghetti …» – «Gegessen!», rufen die 23 Lernenden der Lehrerin zu. Im alten Schulhaus hat sich die Integra, die autonome Schule des Solinetzes, eingemietet. Anfang 2008 wurde sie auf Initiative von Flüchtlingen gegründet, heute wird sie von sechzig Personen besucht. Die Kurse werden von Flüchtlingen und Einheimischen geleitet. Der Unterricht ist gratis – die LehrerInnen arbeiten ehrenamtlich – und steht allen Interessierten offen. Von Schweizerdeutsch über Französisch bis zu Arabisch oder Amharisch kann man alles Mögliche lernen. «Bei den Schweizerinnen sind zurzeit die Arabischstunden hoch im Kurs», erzählt Myrta Strub, die seit drei Jahren an der Integra unterrichtet.
Das Erfolgsprojekt hat sich im Raum St. Gallen schnell herumgesprochen. Gewisse Gemeinden vermitteln Flüchtlinge, für die es in näherer Umgebung keine Schulungsmöglichkeiten gibt, direkt an die Integra. «Natürlich schauen wir, dass wir nicht zur Konkurrenz werden. Wir wollen nicht, dass die staatlichen Strukturen, die es noch gibt, abgebaut werden. Wir nehmen nur Leute auf, für die es keine andere Möglichkeit gibt», sagt Strub.
Taschi war ein solcher Fall: Als Asylsuchender im Aufnahmeverfahren zahlte ihm die Gemeinde keinen Deutschkurs. «Ein Bekannter erzählte mir von der Integra, also kam ich hierher. Jetzt gehe ich viermal pro Woche in den Deutschunterricht.» Als Mitglied der Schulleitung ist er zudem für die Materialbeschaffung verantwortlich: «Ich schaue, dass es immer genügend Schreibstifte und Hefte hat.»
Bedenken sind verflogen
Auch das Solidaritätshaus wird von Flüchtlingen und Einheimischen gemeinsam betrieben. Sei es mit Kochen, Putzen oder dem Organisieren von Anlässen – wer die Räume benützen möchte, soll sich am Betrieb des Hauses beteiligen. An den Wochenenden können sie gemietet werden. «Der Einbezug des Quartiers ist uns wichtig», sagt Ursula Surber. «Schliesslich geht es uns auch darum, Ängste oder die Kontaktscheu der Leute abzubauen. Die Unwissenheit vieler über die Lebenssituation der Flüchtlinge führt letztlich auch zu einer solch ignoranten Politik, wie sie zurzeit betrieben wird.»
Anfang September wurde das Solihaus mit einem Fest eingeweiht. An die Feier wurden auch NachbarInnen eingeladen, die anfänglich mit Einsprachen gegen das Projekt protestiert hatten. «Die Nachbarn mischten sich unter die Leute und blieben den ganzen Nachmittag», erzählt Ursula Surber. «Beim Abschied meinten sie, es habe ihnen entgegen ihren ursprünglichen Bedenken sehr gut gefallen.»
Es ist kurz nach drei, Taschi sitzt seit einer Stunde drüben im Schulhaus und widmet sich dem Genitiv, während auf dem Kiesplatz neben dem Solidaritätshaus zwei junge Männer Pingpong spielen. «Ah, zu weg!», ruft der eine. «Nein, es heisst zu weit», korrigiert der andere.