Sensible Zonen (Teil 6): Ein lebendiger Gegenentwurf im kalten Kanton

Nr. 51 –

Wo der Sudanese kocht, die Eritreerin rechnet und die SchweizerInnen Arabisch lernen: Seit zwei Jahren dient ein ehemaliger Kinderhort in St. Gallen als offenes Haus für Flüchtlinge.

Hausleiter Istvan Deér (links) mit den Flüchtlingen Aisha Moahamed und Sabit Alkhair.

Seit über fünf Jahren erhalten im Kanton St. Gallen abgewiesene AsylbewerberInnen keine Sozialhilfe mehr. Die weitere Verschärfung in der Asylpolitik war der Auslöser dafür, dass in einer Arbeitsgruppe des Ostschweizer Solidaritätsnetzes im Jahr 2008 die Idee für ein Solidaritätshaus geboren wurde. Ende 2010 unterzeichnete der Trägerverein den Mietvertrag mit der Stadt für ein Haus im Quartier St. Fiden, in dem zuvor ein Kinderhort beheimatet war.

Dass das Solihaus in St. Fiden steht, passt: Die meisten umliegenden Häuser wurden Ende des 19. Jahrhunderts gebaut, um italienische Bauarbeiter unterzubringen. Ein gutes Jahrhundert später leben noch immer viele MigrantInnen im Quartier, vor allem aus Exjugoslawien.

Im Haus, wo sich heute vorwiegend jüngere Frauen und Männer aus asiatischen und afrikanischen Ländern einfinden, wohnten vor über hundert Jahren Bau- und TextilarbeiterInnen aus dem norditalienischen Belluno. Heute erinnert das Café Belluna daran: Unter diesem Namen findet im Solihaus jeden Monat ein Abendessen mit Kultur statt, an dem abwechselnd Flüchtlinge ihr Herkunftsland vorstellen und Einheimische ein aktuelles Thema behandeln. Das Haus, dessen Infrastruktur durch Mitglieder und Spenden finanziert wird, steht auch MigrantInnenvereinen und der Quartierbevölkerung offen, die jeweils zum jährlich stattfindenden Solihausfest oder zum grossen internationalen Töggeliturnier mit Wanderpokal eingeladen werden.

Kurz nach zwölf hört man aus dem ersten Stock ein Stimmengewirr und Geschirrgeschepper. Oben öffnet sich der Blick in ein Zimmer, in dem fünfzig Menschen miteinander essen. Asylsuchende können sich Essensgutscheine durch Kochen und andere Hausarbeiten erwerben. BewohnerInnen aus dem Quartier bezahlen fünf Franken pro Mahlzeit.

Esperanto am Mittagstisch

Schnell merkt man, dass es in diesem Haus nicht nur um Solidarität zwischen Einheimischen und Flüchtlingen geht, sondern ebenso um jene unter den Asylsuchenden selbst. Immer häufiger trifft man im Solihaus auch auf junge Mütter. Heute sind Somalierinnen da. Die meisten von ihnen kamen vor etwa zwei Jahren mit ihren Kindern direkt aus Flüchtlingslagern in die Schweiz. Im Solihaus können sie sich nicht nur untereinander austauschen – hier besuchen sie auch Kurse, etwa zur Einführung in das hiesige Schulsystem.

Drei junge Frauen aus Eritrea schöpfen uns das Essen, das sie mit dem Küchenchef, einem gelernten Koch aus dem Sudan, zubereitet haben. Ich setze mich mit Vereinspräsidentin Ursula Surber, Hausleiter Istvan Deér, der vom Verein in einem 40-Prozent-Pensum angestellt ist, und einem jungen Kurden an einen Tisch. Deér berichtet, dass er bei seiner Arbeit von einem Zivildienstler unterstützt wird. Der junge Kurde, der vor drei Jahren aus dem Iran geflohen ist, hat hingegen wenig Zeit für ein Gespräch. Er ist auf dem Sprung in eine Schreinerei. Dank der Vermittlung des Solihauses kann der ausgebildete Elektriker dort ein Praktikum absolvieren.

«Eine Lehre mit Berufsschule ist für unsere Flüchtlinge aus sprachlichen Gründen oft zu schwierig», sagt Deér: «Dafür besteht die Möglichkeit, nach fünf Jahren Arbeit in einem Beruf einen erleichterten Lehrabschluss zu machen.» Es geht hier also auch darum, Flüchtlinge ans Erwerbsleben in der Schweiz heranzuführen. Im Kursraum übt sich nach dem Essen eine Frau aus Eritrea gerade im praktischen Rechnen mit Masseinheiten, unterstützt von einem pensionierten Gymnasiallehrer. Ein Zimmer weiter finden Beratungen statt. Dort steht auch ein Computer mit Internetzugang. Ab Januar wird dort eine Hauswirtschaftslehrerin einen Kurs für Frauen anbieten. Ziel ist, ihnen ein Praktikum in einer Kirchgemeinde, einem Heim oder ähnlichen Institutionen zu vermitteln.

Die Erleichterung, nicht alleine zu sein

Als privilegierter Aussenstehender hat man das Gefühl, dass alle Asylsuchenden mehr oder weniger im gleichen Boot sitzen. Doch die Hintergründe sind mannigfaltig: An den Tischen sitzen TibeterInnen, kurdische Flüchtlinge aus Afghanistan, dem Iran oder der Türkei sowie Frauen und Männer aus Somalia, Eritrea oder Äthiopien. Die einen sind in Aufnahmeverfahren, andere vorläufig aufgenommen, wieder andere bereits abgewiesen. Gerade auch bei Letzteren, die mit acht Franken am Tag auskommen müssen, so Deér, «geht es darum, ihnen mit der Tagesstruktur im Solihaus soziale Kontakte zu ermöglichen».

Kurz vor 14 Uhr begleiten wir die Frauen aus Eritrea zum Deutschunterricht, auf den sie sich zuvor im «Stübli» vorbereitet haben. Der Kurs findet im benachbarten ehemaligen Primarschulhaus statt, in dem Flüchtlinge 2008 die autonome Schule Integra lancierten. Bereits sitzen dort Menschen aus verschiedensten Ländern vor aufgeschlagenen Heften. Man sieht die Ernsthaftigkeit in ihren Gesichtern. Und auch die Erleichterung, nicht allein zu sein: Die Flüchtlinge sind in verschiedenen Gemeinden untergebracht. Da ist es gut, SchicksalsgenossInnen in der Stadt treffen zu können, statt allein in einem abgelegenen Dorf in einer schlecht geheizten Absteige büffeln zu müssen.

Inzwischen besuchen auch SchweizerInnen Kurse bei Flüchtlingen. Besonders beliebt ist Arabisch. Auch in dieser Beziehung ist das Solihaus, wie Ursula Surber beim Mittagessen gesagt hat, «ein Gegenentwurf dafür, wie man es auch etwas anders machen könnte».

Mit diesem Beitrag geht die Serie «Sensible Zonen» zu Ende.