Kost & Logis: Dem Leben abgelauscht
Karin Hoffsten über Dramatik im öffentlichen Verkehr und anderswo
«Und vorher dihei häsch nüüt gmerkt?», sagt die Frau in ihr Handy, «das gits jo nöd!» Für mich unhörbar wird die Symptomatik geschildert. «Zu dere Arztpraxis deet?», fragt sie, «und das het immer no nöd ghört gha?» Mit den Worten «– und deet händs nüüt chöne mache?» verlässt sie das Tram. Ich bleibe erschüttert zurück.
Dann beschenkt mich ein junger Mann mit seiner telefonischen Beziehungsklärung: «Wenn du nüüt seisch, chan ich das doch nöd schmöcke –» (…) «Jaa, ich han au schlächti Luune gha!» (…) «Schlächti Luune cha me us vilne Gründ haa –» (…) «Wemmer truurig isch zum Biispil!» (…) «Jo, ma cha au truurig si, wemmer schlächti Luune hätt.» (……) Dann: «Jo, aber jetz bin i froo, seisch es, jetz weiss ichs» (…) und milde: «Was macht der denn so Müe bim Leere?» Ich muss aussteigen, die zwei sind auf gutem Weg.
Menschlich Berührendes begibt sich sogar im öffentlichen WC. «Bist du fertig?», fragt in der Nachbarkabine die hochdeutsch sprechende Mutter das Kind. «Nein! – Nein!! – NEIN!!!», flüstert es mit wachsender Eindringlichkeit. «Jetzt lass dich nicht von allem ablenken, versuch dich zu konzentrieren!», antwortet die Mutter. Weil öffentlich pinkeln gelernt sein und ich dabei nicht stören will, verlasse ich leise die Örtlichkeit.
Dass sich auch Züge gut zur Abwicklung von Geschäften eignen, ist bekannt. Die gepflegte junge Dame, die mir gegenübersitzt, erzählt am Handy, sie brauche 2500 Euro für eine Wohnungskaution; jetzt sei sie unterwegs nach München, um dort übers Wochenende möglichst viel zu verdienen. Wie sie das macht, erfahre ich, als das Handy wieder klingelt. «Wann möchtest du denn kommen?», fragt sie den ihr anscheinend unbekannten Anrufer. «Der früheste Termin geht bei mir um halb sieben, ich bin erst um halb sechs am Hauptbahnhof.» (…) «Also um elf, aber wenn du doch nicht kommst, sag bitte Bescheid, dann kann ich den Termin noch vergeben.» (…) «Wie heisst du?» (…) «Antonio?» (…) «Im zweiten Stock! Du musst bei Alice klingeln.» Antonio kommt wohl nicht zur Klavierstunde, und Alice heisst nicht Alice.
Eine Familientragödie scheint beim Streit zweier Knaben auf, höchstens zwölfjährig und auf dem Weg zur Schule. Es geht um die Frage, ob Jugendliche in der Schweiz mit sechzehn oder mit achtzehn strafmündig werden. Schliesslich gewinnt der mit dem überzeugendsten Argument: «Mini Schwöschter isch mit sächzäni i de Chnascht choo!»
Auf die drei älteren Herren im Zug werde ich beim Satz «Sini Ex schlaat Chind – jetz hät er sie aazeigt!» aufmerksam. Sie sind in einer Männerorganisation aktiv, die fürs gemeinsame Sorgerecht von Eltern kämpft. Aus Rücksicht auf die drei Plaudertäschchen lasse ich hier die Details der Unterhaltung weg. Am Thema Diskretion sollte der Verband noch arbeiten!
Karin Hoffsten lebt in Zürich, schreibt für die WOZ und macht regelmässig Theater.