Robert Bober: «Wer einmal die Augen öffnet …»: All die verstreuten Erinnerungen

Nr. 48 –

Robert Bobers Roman über einen Überlebenden in Paris liegt wunderbar übersetzt auf Deutsch vor. Ein Buch, das das populäre Paris erschliesst – voller Zuneigung zu allen, die nicht willens sind, die Vergangenheit abzutun.

Mitten in seinem neuen Roman über einen jungen Mann, der als Kind jüdischer Flüchtlinge in Frankreich überlebt hat, äussert sich Robert Bober zu künstlerischen Fragen – nicht als 
Autor oder Erzählinstanz, sondern als Freund seines Protagonisten Bernard Appelbaum, den er nach der Befreiung von der Naziherrschaft in einer Kinderkolonie betreute. Robert Bober, der Schriftsteller und Filmemacher, sagt, was er von Filmen über die Jahre der Verfolgung hält, die glauben, sich «mit der Fiktion begnügen» zu dürfen: «Die Geschichte muss zunächst von denen erzählt werden, die sie erlitten haben, von denen, die sie überlebt haben.»

Der Roman «Wer einmal die Augen öffnet …» spielt Anfang der sechziger Jahre, als Robert Bober schon erste Erfahrungen als Assistent des Regisseurs François Truffaut gesammelt hat und nun selbst Filme drehen will – Dokumentarfilme, denen er eher zutraut, die Wahrheit zu ergründen, als den anderen, der Wirklichkeit nachgestellten, die Gefahr laufen, sie eines gelungenen Einfalls wegen zu verraten.

Auf dem Flohmarkt

Bei den Dreharbeiten zu «Jim et Jules» (1962) waren Bober und Truffaut einander wieder begegnet. In Bobers Roman lernt Bernard Appelbaum, der in ebendiesem Film eine Statistenrolle spielt, im Gespräch mit seiner Mutter eine ähnlich leidenschaftliche Dreiecksgeschichte wie in Truffauts berühmt gewordenem Werk kennen: die seiner Mutter Hannah, seines – später von der Gestapo aufgegriffenen und deportierten – Vaters Yankel, der sich in Frankreich Jacques nannte, und seines Stiefvaters Leizer, der nach dem Krieg bei einem Flugzeugabsturz ums Leben kam. Die Vorgeschichte seiner Familie also, die im polnischen Dorf Przytyk bei Radom begonnen hatte. Und dorthin, nach Polen nämlich, macht Appelbaum sich am Ende auch auf, zu seinem ermordeten, verschwundenen Vater. «Ich fahre nach Polen zurück, ohne jemals dort gewesen zu sein. Ich sitze im Bus, der von Krakau nach Auschwitz fährt.»

Robert Bober schreibt – wie schon in seinen früheren Romanen «Was gibt’s Neues vom Krieg?» (1993) und «Berg und Beck» (1999) – mit grosser Zärtlichkeit von seinen Romanfiguren, und ebenso zärtlich gehen sie miteinander um. Allein die Passagen, in denen Bernard von seinem jüngeren Stiefbruder Alex erzählt, werden dem Leser, der Leserin wegen ihrer behutsamen Menschenfreundlichkeit lange nicht aus dem Sinn gehen. Erstaunlich auch seine scharfe, dabei nie verletzende Beobachtungsgabe, die uns das populäre Paris erschliesst, seine Zuneigung zu Revolutionärinnen, Handwerkern, Kneipengeherinnen – zu allen, die nicht willens sind, die Vergangenheit als vergangen abzutun, selbst wenn sie, wie Bernard, absolut kein Bedürfnis haben, sie «erneut zu durchleben». Schritthalten mit den viel beschworenen Herausforderungen der Gegenwart, das würde bedeuten, sich dem Vergessen zu ergeben und um das Verstehen zu drücken. So verwundert es nicht, dass Bernard auf der Suche nach seiner Bestimmung häufig den Flohmarkt besucht, «wo all die verstreuten Erinnerungen durcheinander herumliegen, sich manchmal voneinander lösen. Ich mochte an dem Ort auch, dass er seiner eigenen Unordnung treu blieb.»

Versteckte Fallen

Appelbaums topografisches Gedächtnis lässt an einen wenig bekannten Text von Bobers Freund Georges Perec denken, in dem dieser eine detailbesessene Beschreibung einer Strasse gegeben und dabei festgehalten hatte, wie sie sich über die Jahre und Jahrzehnte veränderte.

Was dort als Rapport eines Flaneurs, hier als Etüde erscheint, ist Ausdruck der in den Jahren der Verfolgung erworbenen Fähigkeit, sich die Umgebung genau einzuprägen – ihre Fallen, ihre Fluchtwege. In Friedenszeiten und in Unkenntnis der traumatischen Kindheit des Protagonisten wirkt sie wie reine Neugier – auf die Menschen, auf Strassen, Läden, Fassaden. «Die Zukunft», so Jim zu Jules in Truffauts Film, «gehört den Neugierigen von Beruf.» In Bobers schlichter, dabei vor Erwartung flirrenden Sprache, die Tobias Scheffel diskret, wie selbstvergessen übersetzt hat, sodass sich die deutsche Fassung nie vor das Original schiebt, erscheint diese Zukunft in einem sepiafarbenen Ton.

Robert Bober: «Wer einmal die Augen öffnet, kann nicht mehr ruhig schlafen». Aus dem Französischen 
von Tobias Scheffel. Verlag Antje Kunstmann. München 2011. 
255 Seiten. Fr. 32.90.