Literatur: Die Leere der Welt füllen

Nr. 5 –

Yukio Mishima war Schriftsteller genug, um seine rechtsextremen Überzeugungen hinter seine Figuren zurücktreten zu lassen. Das zeigt auch der nun neu übersetzte Roman «Der Held der See».

Yukio Mishima bei einem Anlass der rechtsextremen Tatenokai-Miliz
Eine schillernde Figur: Yukio Mishima bei einem Anlass der rechtsextremen Tatenokai-Miliz. Foto: Imago

Manche Autor:innen gewinnen Jahre nach ihrem Tod plötzlich wieder an Bedeutung. Einer, für den das mit Sicherheit stimmt, ist der 1970 verstorbene Japaner Yukio Mishima. Seine Bücher, die seit einigen Jahren im Zürcher Verlag Kein & Aber in neuen Übersetzungen erscheinen, wirken angesichts der globalen autoritären Wende hochaktuell. Nicht zuletzt wegen Mishimas Biografie: Der Avantgardist war schon zu Lebzeiten eine schillernde Figur. In den sechziger Jahren wurde Mishima als Anwärter für den Nobelpreis gehandelt. Weil dem Komitee die politischen Überzeugungen Mishimas nicht geheuer waren, wie es heisst, wurde dann aber sein Landsmann Yasunari Kawabata – als erster Japaner überhaupt – ausgezeichnet.

Dass die Befürchtungen des Nobelpreiskomitees nicht unbegründet waren, zeigte sich schon kurze Zeit später. Als Anhänger der rechtsextremen Tatenokai-Miliz träumte der Schriftsteller schon länger davon, den autoritären Kaiserstaat in Japan wiederherzustellen, der in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts überall in Ostasien schwere Kolonialverbrechen begangen hatte. 1970 liess Mishima seinen Ideen Taten folgen: Mit vier Kampfgefährten versuchte er einen Staatsstreich, der sich allerdings als Operettenputsch erwies und scheiterte. Um die Familienehre zu wahren, wählte Mishima den Suizid mittels Kurzschwert. Während sich anderswo die Popstars mit Heroin und anderen Drogen umbrachten, griff der damals 45-Jährige auf den ritualisierten Freitod der japanischen Samuraikrieger zurück.

Ein verstörender Dreizehnjähriger

Dem nun von Ursula Gräfe neu übersetzten Roman «Der Held der See» ist von diesem politischen Hintergrund erst einmal wenig anzumerken. Man täte Mishima Unrecht, wenn man ihn als japanischen Ernst Jünger betrachtete: Er ist Literat genug, um seine Überzeugungen weit hinter die Romanfiguren zurücktreten zu lassen. So wird in «Der Held der See» eine auf den ersten Blick einfache Geschichte aus dem Japan der Nachkriegszeit erzählt. Der dreizehnjährige Noburo lebt allein mit seiner Mutter Fusako in behüteten Verhältnissen. Der Vater ist früh verstorben, die Mutter führt eine gut laufende, westlich orientierte Luxusboutique. Weil Noburo nachts ausbüxt, um Zeit mit seiner Jugendbande zu verbringen, sperrt die Mutter ihn ein. Wie aus Trotz beginnt er, heimlich durch ein Loch in der Wand zu spionieren, was Bedeutung erlangt, weil die Mutter einen neuen Mann kennengelernt hat – den Seemann Ryuji.

Alle Akteur:innen dieser Dreiecksgeschichte sind innerlich zerrissen: Ryuji liebt das Meer und sehnt sich gleichzeitig nach einer Familie. Fusako will einen neuen Mann in ihrem Leben, aber auch keinen Fehler machen. Und Noburo hat zwar ein enges Verhältnis zu seiner Mutter, bewundert jedoch auch sofort den neuen Stiefvater, den er als «Held der See» betrachtet. Bemerkenswerterweise macht Mishima aus dieser Konstellation aber keinen Familienroman über die Eifersucht eines Jugendlichen, sondern zeichnet das Profil eines extrem verstörenden Dreizehnjährigen.

Noburo trainiert sich mit seinen Freunden Gefühlskälte an. Schon am Anfang der Geschichte tötet seine Bande eine Katze. Die Kinder reissen dem Tier das Herz heraus, wollen beweisen, dass ihnen die läppischen Gefühle der Erwachsenen nichts bedeuten. Oder in den Worten Mishimas: «Noburo suchte in seinem Herzen nach Anzeichen von Mitgefühl und war erleichtert, als es nach einem kurzen Aufflackern wieder verschwand. Wie das Aufblitzen eines erleuchteten Fensters, gesehen aus einem vorüberrasenden Schnellzug. Der Anführer behauptete immer, solche Aktionen seien notwendig, um die Leere der Welt zu füllen. Nur das Töten könne diese Leere füllen, so wie Risse einen Spiegel. Nur so würden sie wahre Macht über das Dasein erlangen.»

Gegen die «Verwestlichung»

Noburo findet es auch verweichlicht, dass der neue Stiefvater das heldenhafte Leben auf See gegen eine spiessige Familienexistenz eintauschen möchte, und fasst mit seinen Freunden einen düsteren Plan. Man könnte sagen, dass diese Geschichte auf ungefilterte Weise von einem Todestrieb erzählt: Angesichts einer zerbröckelnden Welt entscheiden sich die Figuren Mishimas für ein nihilistisches Begehren, das vom Schriftsteller weder gefeiert noch verurteilt, sondern urteilsfrei aus der Perspektive der Hauptperson geschildert wird.

Der knapp und präzise geschriebene Roman erscheint vor allem deshalb so virulent, weil emotionale Regression und Männlichkeitsbilder im Faschismus seit jeher eine zentrale Rolle spielen. Mishima selbst liefert keine Antwort darauf, wie dieses Verhältnis verstanden werden könnte. Aber in seiner Coming-of-Age-Geschichte schildert er Noburo als Verteidiger des traditionellen Lebensstils gegen die Verwestlichung der japanischen Welt: In dieser Hinsicht ist sein Buch auch eine Charakterstudie. Darüber, ob der Faschismus als eine Art nihilistischer Todestrieb gelesen werden kann, wie es Denker der Frankfurter Schule nahegelegt haben, lässt sich streiten. Sicher ist jedoch, dass Mishimas dichter Roman so etwas wie eine Innenperspektive auf den autoritären Charakter ermöglicht.

Buchcover von «Der Held der See»
Yukio Mishima: «Der Held der See». Aus dem Japanischen von Ursula Gräfe. Kein & Aber Verlag. Zürich 2024. 208 Seiten.