Das Milgram-Experiment: Das Labor als flackernde Kunstwelt

Nr. 49 –

Zum 50. Geburtstag wird das « Milgram-Experiment» gehörig demoliert: Schlüsse zur «moralischen Integrität» des Menschen lassen sich daraus nicht ziehen. Bei wissenschaftlichen Experimenten ist Vorsicht mit der philosophischen Tiefenschärfe geboten.

Der Mensch ist ein Teufel, ein Schlächter. Oder ein wenig welthistorisch-konkreter: In jedem von uns steckt ein kleiner Nazi, der nur auf die Obrigkeit wartet, die ihm Unmenschliches aufträgt. Dann werden wir zum willfährigen Werkzeug, das keine Moral kennt. So war das während der Schoah, und wenn es noch eines Beweises bedurft hätte, so lieferte ihn die Wissenschaft in der Folge prompt. 1961, vor fünfzig Jahren, belegte das berühmte Experiment des Sozialpsychologen Stanley Milgram (1933–1984) im US-amerikanischen New Haven die These vom bösen Kern des Menschen auf grausige wie unanfechtbare Weise: Fast zwei Drittel der VersuchsteilnehmerInnen waren bereit, eine schusselige Testperson (in Tat und Wahrheit ein Schauspieler) mit Stromstössen bis zum Tod zu quälen, wenn es der Versuchsleiter vorgab.

Da gibt es bloss ein Problem: Die schaurig schöne Schlussfolgerung ist schlicht nicht haltbar. Und das ganze Experiment (und seine tausendfache Nacherzählung) mehr eine Märchenstunde als eine unvoreingenommene Analyse. Aber, und da sind wir dann mitten drin im Schlamassel: Das gilt, bedenkt man es recht, für weite Teile der Wissenschaft. Man muss also aufpassen, wenn man über Milgram den Stab bricht.

Die Rolle der Täuschung

Aber von vorn. Rechtzeitig zum Jubiläum hat der Schweizer Philosoph Hans Bernhard Schmid, der inzwischen in Wien forscht und lehrt, ein Buch vorgelegt, in dem er gewissermassen den philosophischen Gerichtsmediziner gibt. Irgendwas stimmt hier nicht, hat er sich gesagt, und dann hat er sein ganzes Denkinstrumentarium hervorgeholt und das Experiment und seine Rezeption nach allen Regeln der Kunst auseinandergenommen.

Und es bleibt nicht viel übrig: Die These, dass es nicht weit her ist mit der «moralischen Integrität» (so der Titel des Buchs) des Menschen, weist Schmid auf überzeugende Weise zurück. Beziehungsweise spricht er dem Milgram-Experiment diesbezüglich jede Beweiskraft ab. Dabei geht es vor allem um die Rolle von Täuschung: «Es ist eine relevante Frage, worüber der Teilnehmer in einem Experiment getäuscht wird», sagt Schmid. Und diese Täuschung hatte es bei Milgram tatsächlich in sich – denn sie ist nicht nur prinzipiell fragwürdig (es ist wissenschaftsethisch umstritten, inwieweit man Versuchspersonen im Unklaren darüber lassen darf, was der Zweck des Versuchs ist), sondern in diesem Fall auch noch in viel konkreterer Weise problematisch. Schmid zeigt nämlich, dass das Täuschungsmanöver – verkürzt gesagt – nicht wirklich gelingt, dass also im Labor keine schlüssige andere, sondern eine flackernde, irreale Kunstwelt entsteht. Die Welt, die das Milgram-Experiment konstruiert, ist im eigentlichen Wortsinn ein wenig verrückt, und das unterscheidet sie ganz wesentlich von einer nationalsozialistischen Gesellschaft, die ja immer eine Normalität zu behaupten vermochte.

Diese Verrücktheit zeigt sich vor allem an den Reaktionen von «Wallace», dem fiktiven Testobjekt. Im einen Moment noch stöhnend vor Schmerz und mit Vehemenz den Abbruch der Testreihe verlangend, macht er sich im nächsten schon wieder lammfromm an die Beantwortung der gestellten Frage. Auch der Versuchsleiter ist keine Hilfe, was die Schlüssigkeit der Situation angeht: Er reagiert auf die Bedenken der TeilnehmerInnen mit leeren Schablonensätzen, die der Situation immer weniger angemessen scheinen, je brutaler die Stromstösse werden.

Die Suggestivfalle

Die Versuchspersonen waren also bei Milgram, so Schmids Schluss, nicht willenlose Ausführende eines Befehls, sie waren weder blind autoritätsgläubig, noch entdeckten sie ihre sadistische Ader. Sie wurden, je länger das Experiment dauerte, schlicht immer orientierungsloser. Und entschieden sich in ihrer Verwirrung oft dazu, einfach geradeaus weiterzumarschieren, immer in die von der Autoritätsperson gezeigte Richtung – einfach weil sie dachten, damit einer schon zu Versuchsbeginn getroffenen Abmachung nachzukommen.

Schmid baut seine Argumentation dabei um den Begriff der «Gemeinschaftshandlung» auf und macht deutlich, dass in einer solchen Konstellation die Frage nach der Moral eine viel komplexere ist, als es der Psychologe Milgram wahrhaben mochte.

Insgesamt könnte das Ganze (wäre es nicht eine so ernste Angelegenheit) fast als ein Scherz aus der «Versteckten Kamera» durchgehen. Bloss mit seltsam moralinsaurer statt amüsant-erlösender Auflösung – Milgram pflegte seine ProbandInnen jeweils selbst in das Täuschungsmanöver einzuweihen, wobei er es nicht unterliess, gehörig mit dem Zeigefinger zu fuchteln. So rechtfertigte er überhaupt den ganzen Versuch: Schliesslich hätten die ProbandInnen eine Lektion fürs Leben gelernt, da wiege die Täuschung nicht so schwer.

Den Nerv treffen

Schmids dicke Studie hat ganz konkrete moralphilosophische Methodenkritik im Sinn. Doch kann man sie auch grundsätzlicher lesen. Denn die Sezierung des Experiments zeigt exemplarisch ein Problem auf, das so gut wie jede Forschung betrifft: So etwas wie eine selbstevidente wissenschaftliche Versuchsanordnung gibt es nicht. Oder anders gesagt: Forschung ist nicht einfach ein Scanner, eine Faktenfabrikationsmaschine. Jeder Versuch muss erst gebaut, muss eingestellt und vor allem: muss interpretiert werden. Und da geschieht dann rasch ein Malheur; man könnte es die Suggestivfalle nennen. Auch in der Wissenschaft gilt: Richtig ist, was am plausibelsten ist, und am plausibelsten sind nun einmal die besten Geschichten.

Natürlich sind diese Wissenschaftsgeschichten von besonderer Art (die Tradierung in den Medien geschieht dann nochmals nach anderen Regeln) –, aber auch bei ihnen gilt, dass sie auf fruchtbaren Boden fallen müssen, um spriessen zu können. Das war bei Milgrams Experiment offenbar der Fall, das Grauen des Faschismus harrte einer Einordnung, einer rationalen Erklärung – einer plausiblen wissenschaftlichen Nacherzählung. Kurz: Milgram hatte einen Nerv getroffen.

Grenzen der Wissenschaft

Der Befund ist keineswegs skandalös: Es wurde nicht beschissen, Milgram hat nicht unbrauchbare Forschung gemacht, die in den Mülleimer der Geschichte gehört. Es geht nicht um den Sturz eines wissenschaftlichen Helden, es geht um eine Neubewertung des Erkenntnisgewinns. Fragwürdig am Experiment sei vor allem, dass «die Rolle des Experimentators mitkonstituierend für das Resultat und vor allem, dass diese Rolle nicht reflektiert» sei, sagt Schmid.

Milgram wurde buchstäblich fortgetragen von seiner (vermeintlichen) Erkenntnis. Er betonte immer wieder, wie überrascht er selbst gewesen sei, ein solches Mass an Folgsamkeit zu finden. Man darf ihm das glauben – er war so begeistert, dass er es unterlassen hat, seine Resultate zu hinterfragen. Aber auch das gilt für viele naturwissenschaftliche Erkenntnisse: Sie tragen meist viel weniger weit, als es zunächst den Eindruck macht. Vor allem, wenn sie tief in unser Welt- und Selbstbild hineinzugreifen scheinen – siehe aktuell den Hype um die Neurowissenschaften. Ja, die Wissenschaft ist ein mächtiges Weltbeobachtungsinstrument. Aber wo sie auch noch philosophische Tiefenschärfe behauptet, ist Vorsicht geboten: Da verschwimmt dann oft so einiges.

Hans Bernhard Schmid: Moralische Integrität. Suhrkamp Verlag. Berlin 2011. 307 Seiten. Fr. 19.50

Stanley Milgram: Das Milgram-Experiment. Rowohlt Verlag. Reinbeck 1997 (1961). 255 Seiten. Fr. 13.50