Coronaimpfstoff: Global auf Turbo gestellt
Im Wettrennen um einen Impfstoff gegen Covid-19 nehmen Firmen wie Staaten immer riskantere Abkürzungen. Die Schweizer Ethikerin Ruth Baumann-Hölzle ist besorgt.
Der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer hat sich am 13. August gegen das Coronavirus impfen lassen. Der Impfstoff stammt aus dem Labor der in seiner Stadt ansässigen Firma Curevac, die tags darauf an die Börse gegangen ist. Sie experimentiert öffentlichkeitswirksam mit einem genbasierten Serum und befindet sich momentan in der klinischen Phase 2 mit ein paar Dutzend ProbandInnen.
Der Grünen-Politiker, für provokante Thesen in Coronazeiten nicht unbekannt, gehört zu jenen «Volunteers», ohne die der weltweite Run auf einen Impfstoff gar nicht möglich wäre. Als Teil, aber nicht als finanzielle NutzniesserInnen eines pharmazeutischen Grossgeschäfts flankieren sie eine nie da gewesene, prestigeträchtige Impfstoffoffensive. Auf dem zu besetzenden Territorium stecken Staaten ihre Claims ab und verteidigen ihre Schürfrechte wie im 19. Jahrhundert. Auch die Schweiz hat sich Anfang August vorsorglich 4,5 Millionen Impfstoffdosen des US-Biotechnologieunternehmens Moderna gesichert (siehe WOZ Nr. 33/2020 ).
Menschliche Versuchskaninchen
Es ist eine Wette in die Zukunft, denn Moderna ist Ende Juli zwar in die letzte klinische Phase 3 gestartet, in der ein Impfstoff an Zigtausenden von Versuchspersonen erprobt wird. Doch ob dieser am Ende tatsächlich massenhaft verabreicht werden kann, ist bislang völlig offen. Normalerweise dauert dieser Prozess mindestens zehn Jahre. Das ist bei einem seriösen Studiendesign auch notwendig, um die Dauer des Impfschutzes und längerfristige Nebenwirkungen zu beobachten – und gerade in dieser Phase scheitern zwei Drittel aller Impfstoffe.
Doch nun wurde global auf Turbo gestellt. Speed-Forschung nennt sich das neuerdings, und diese zeitigt Begleiterscheinungen. «Das soziale Klima hat sich verändert», sagt Ruth Baumann-Hölzle, die das Interdisziplinäre Institut für Ethik im Gesundheitswesen in Zürich leitet, seit 1998 Mitglied der Kantonalen Ethikkommission Zürich ist und von 2001 bis 2013 Mitglied der Nationalen Ethikkommission im Bereich Humanmedizin war.
Sie fürchtet, dass sich die Geschwindigkeit der Pandemie und der weltweite Druck auf die ForscherInnen auf die Entscheidungsfindung von Ethikkommissionen auswirken. «Das kann dazu führen, dass Forschung am Menschen viel schneller und nicht nach internationalen Standards durchgeführt wird.»
Der nach der Erfahrung mit den nationalsozialistischen Menschenexperimenten vereinbarte Nürnberger Kodex von 1947 und die Helsinki-Deklaration von 1964 geben hierfür extrem strenge Regeln vor, darunter das informierte Einverständnis der Versuchspersonen und das Recht, jederzeit aus der Studie aussteigen zu können. Ausserdem müssen solche Versuche mit einem hohen wissenschaftlichen Output verbunden sein. All das hat das russische Gamaleja-Institut, das vergangene Woche einen Impfstoff gegen Sars-CoV-2 lanciert hat, in den Wind geschlagen. 38 Versuchspersonen genügten Staatspräsident Wladimir Putin, das Vakzin zuzulassen.
In China werden derzeit fünf Impfstoffe an Menschen erprobt. Die präklinische Phase mit Tierversuchen wurde dabei verkürzt oder ganz ausgelassen. Und nach früheren Skandalen im Zusammenhang mit einem Impfstoff gegen Tollwut ist die Bevölkerung skeptisch, wie der Sender NTV berichtet. Trotz aller Beruhigungsversuche wollen Eltern ihre Kinder eher mit einem aus dem Ausland stammenden Impfstoff immunisieren lassen.
In der Schweiz sind diesbezügliche Experimente im Humanforschungsgesetz geregelt. Es besagt, «dass Interessen, Gesundheit und Wohlergehen des einzelnen Menschen den blossen Interessen von Wissenschaft und Gesellschaft vorgehen». Auch die Sektion Impfempfehlungen und Bekämpfungsmassnahmen des Bundesamts für Gesundheit (BAG) betont auf Nachfrage der WOZ, im Zweifelsfall habe das Wohlergehen Vorrang vor dem wissenschaftlichen Erkenntnisinteresse. Baumann-Hölzle erkennt an, dass in der Schweiz «hohe Hürden» für die Zulassung von Forschungsvorhaben am Menschen bestünden. «Aber sobald einmal das ‹Go› gegeben ist, fehlen uns die Ressourcen, zu kontrollieren, ob die Standards eingehalten werden. Und das scheint mir angesichts des Drucks, Ergebnisse vorlegen zu wollen und zu müssen, und im Hinblick auf die finanziellen Anreize problematisch.»
Ausweichen nach Brasilien
Derzeit befinden sich neben Moderna fünf weitere Unternehmen in der kritischen Phase 3: das deutsche Start-up Biontech, das mit Pfizer kooperiert, die beiden chinesischen Bioforschungsunternehmen Sinopharm und Sinovac sowie Astrazeneca. Letzteres lässt zusammen mit der Universität Oxford den von der Weltgesundheitsorganisation WHO als besonders aussichtsreich eingeschätzten Impfstoff AZD 1222 in Grossbritannien, Brasilien und Südafrika testen. Der Pharmariese Johnson & Johnson folgt im September.
In der Regel wird die Wirksamkeit eines Impfstoffs erprobt, indem die ProbandInnen, aufgeteilt in eine Versuchs- und eine Kontrollgruppe, der ein Placebo verabreicht wird, auf natürlichem Wege in Kontakt mit dem Virus gebracht werden. Das setzt voraus, dass das Virus noch ausreichend aktiv ist – was etwa die Schweiz als Testland derzeit ausschliesst. Die ForscherInnen müssen also in Länder ausweichen, in denen Covid-19 grassiert, wie etwa Brasilien und zunehmend auch afrikanische Länder. «Doch wie unabhängig sind die begutachtenden Ethikkommissionen dort?», fragt Baumann-Hölzle. «Nach welchen Standards urteilen sie, wie entwickelt ist das Gesundheitssystem in diesen Ländern und wie informiert sind die Probanden? Und wem kommt der Impfstoff am Ende zugute?»
Unabhängig davon, wo getestet wird: Das Zauberwort heisst «Abkürzung». Das betrifft die Forschungsansätze selbst – etwa in Bezug auf genbasierte Impfstoffe –, aber vor allem das Forschungsdesign. Die präklinische Phase wurde extrem verkürzt und die klinischen Phasen 2 und 3 teilweise zusammengelegt. Russland hat die entscheidende Phase 3 ganz weggelassen. In einigen Fällen wird bereits Impfstoff produziert, bevor überhaupt aussagekräftige Ergebnisse aus den klinischen Studien vorliegen.
Einen besonders riskanten Weg der Beschleunigung haben Ende März die US-amerikanischen Wissenschaftler Nir Eyal, Marc Lipsitch und Peter G. Smith im «Journal of Infectious Diseases» vorgeschlagen. Sie regen an, junge gesunde Menschen absichtlich mit dem Coronavirus zu infizieren, um herauszufinden, ob ein Impfstoff funktioniert. Das würde nicht nur Zeit sparen, sondern auch die Zahl der ProbandInnen erheblich reduzieren.
Was ist ein «angemessenes Risiko»?
Solche im Fachjargon Human Challenge Trials genannten Provokationsstudien sind auch Ziel einer von ein paar amerikanischen DoktorandInnen ins Leben gerufenen Kampagne namens «1 Day Sooner». Rund 35 000 Freiwillige aus über 150 Ländern haben sich seit April bereits gemeldet, um sich für diese Art von Menschenversuchen zur Verfügung zu stellen. Unterstützt werden sie von fünfzehn NobelpreisträgerInnen und über hundert anderen WissenschaftlerInnen, darunter auch Adrian Hill von der Universität Oxford. Er forscht am von Astrazeneca in Aussicht gestellten Impfstoff. Wenn Human-Challenge-Studien den Prozess der Impfstoffentwicklung sicher und effektiv zu beschleunigen verhälfen, schreiben die Supporter in einem offenen Brief, bedürfte es schon einer sehr zwingenden ethischen Begründung, deren Einsatz zu verhindern.
Neu ist das nicht, Provokationsstudien kamen bereits in den 1970er Jahren bei der Choleraforschung zum Einsatz. Auch mit dem Malariaerreger wurden Menschen gezielt infiziert. HIV habe schliesslich zu einem Paradigmenwechsel geführt: Allerdings hätten damals PatientInnen, nicht ProbandInnen, die Teilnahme an der Forschung eingefordert, sagt Baumann-Hölzle: «In einer offenen Gesellschaft haben Menschen die Freiheit zur Selbstschädigung.»
Umstritten sind Provokationsstudien wegen der gesundheitlichen Risiken, die die ProbandInnen eingehen. Es bestehe zwar die Gefahr, so Eyal, Lipsitch und Smith im «Journal of Infectious Diseases», dass Freiwillige sich mit der Infektion schwere Krankheiten zuziehen oder möglicherweise sogar sterben. Doch solche schmerzlichen Verluste würden aufgewogen, indem sie das Leben von Milliarden retteten.
Es geht um die faire Verteilung
Risikovergleiche in der Forschung seien Alltag, sagt Baumann-Hölzle. Die Frage sei, «was bei Menschen, die sich an Forschungsexperimenten beteiligen, ein angemessenes Risiko ist. Wie gross ist das Risiko für reversible oder auch irreversible Schäden? Solche Risikoeinschätzungen verlaufen mehr nach Intuition als nach verbindlichen Kriterien.» Die WHO, die Anfang des Jahres zwar sehr strikte Leitlinien für Provokationsstudien in Zusammenhang mit Corona herausgegeben hat, scheint in dieser Frage ebenfalls gespalten zu sein: Die meisten Human-Challenge-Studien, erklärt sie, bezögen sich auf heilbare Krankheiten. Für Covid-19 aber gebe es keine Heilung. Die Gesundheitsorganisation befürchtet ausserdem, dass solche Provokationsstudien zu einem Vertrauensverlust führen, der ImpfgegnerInnen befeuert.
Niemand wolle hierzulande Impfstoffe anwenden, die nicht sicher seien, erklärt die Eidgenössische Kommission für Impffragen des BAG gegenüber der WOZ. Die Infektion mit einem tödlichen Virus sei in der Schweiz aus strafrechtlicher Sicht eine schwere Körperverletzung. Versuche am Menschen seien jedoch unerlässlich, betont Kommissionsleiter Christoph Berger. Dabei sei es aber wichtig, dass Phase-3-Studien «ethisch einwandfrei und ohne Druck» erfolgten – auch im Hinblick auf die entscheidenden Ethikkommissionen.
Baumann-Hölzle ist skeptischer, auch was die prioritäre Coronaforschung betrifft: «Angesichts beschränkter Forschungsressourcen müssen wir stets fragen, wie wir diese fair verteilen. Derzeit sterben in der Schweiz zum Beispiel mehr Menschen an anderen Erkrankungen.» Die finanziellen Mittel einseitig nur für die Behandlung oder Prävention für ein Erkrankungsrisiko zu priorisieren, müsse gut begründet werden. «Wie die globale Verteilung des Impfstoffs ist auch dies eine Frage der Verteilungs- und Zugangsgerechtigkeit.»