Die Schweiz im Kalten Krieg : Als aus Stalins Tochter die Frau Staehelin wurde

Nr. 49 –

Der Schweizaufenthalt der nun verstorbenen Tochter Stalins im Jahr 1967 war für Bern ein diplomatischer Hochseilakt. Dies zeigen erstmals veröffentlichte Geheimdokumenteaus dem Schweizerischen Bundesarchiv.

Es musste schnell gehen. «Dringend» ersuchte am 7. März 1967 der US-Botschafter in Bern, John S. Hayes, um eine Audienz bei Bundesrat Willy Spühler. Im Gespräch eröffnete er dem Vorsteher des Politischen Departements (EPD, heute EDA) die Lage: Swetlana Allilujewa, die einzige Tochter Stalins (vgl. «Ein Vater als ‹moralisches Monster›») hatte ihren Besuch in Indien anlässlich der Beisetzung ihres Lebenspartners genutzt, um bei der US-Botschaft in Neu-Delhi politisches Asyl zu beantragen. Welch Neuigkeit: ein hochkarätiger «Absprung», der für Moskau peinlicher kaum sein könnte, eine Insiderin, die über kompromittierende Informationen zum Privatleben der Chefetage des Kremls verfügen musste, sucht den Schutz der USA. Ein grosser Triumph der «freien Welt», könnte man meinen. Doch weit gefehlt.

Einreise «zu Erholungszwecken»

Seit 1963 waren Washington und Moskau nämlich im Rahmen einer «Entspannungspolitik» um eine Annäherung, etwa in der Frage der Abrüstung, bemüht. Dass nun in der Gestalt Allilujewas plötzlich eine Überläuferin auf den Plan trat, die den Kreml in eine unangenehme Lage brachte, passte der US-Diplomatie nicht. Zumal Allilujewa brisantes Gepäck mit sich führte: Das Manuskript ihrer Memoiren, die sie unter dem Titel «20 Briefe an einen Freund» veröffentlichen sollte. Eine «Ausschlachtung» dieses Materials und der Person Allilujewas «im Sinne des Kalten Krieges», so die geheime Zusicherung, die das State Department Moskau gab, sollte um jeden Preis verhindert werden. Washington wollte Allilujewa deshalb nicht einreisen lassen.

Da kam die Schweiz ins Spiel. Hayes appellierte an die humanitäre Tradition der Eidgenossenschaft und bat Spühler, Stalins Tochter aufgrund der delikaten Situation – zumindest vorübergehend – in der Schweiz aufzunehmen. Unter Zeitdruck entschloss sich der Bundesrat, dem amerikanischen Gesuch zu entsprechen. Dies jedoch nur unter der Bedingung, dass Allilujewa nicht als Flüchtling, sondern mit einem Touristenvisum «zu Erholungszwecken» in die Schweiz einreiste und sich schriftlich dazu verpflichtete, sich jeglicher politisch-publizistischer Tätigkeiten zu enthalten. Die USA mussten ihrerseits einwilligen, innert dreier Monate ihre «Weiterreise» zu organisieren.

Am 11. März landete Allilujewa mit einer gecharterten Maschine in Genf. Die vom EPD gewünschte «diskrete Übernahme durch die Bundespolizei» (Bupo) wurde «unnötig erschwert», weil die Presse vorgängig von ihrer Ankunft Wind bekommen hatte und ein Aufgebot von Journalisten sie am Flughafen erwartete. Gleichentags wurde Allilujewa ins Berner Oberland verbracht und unter falschem Namen im Hotel Jungfraublick in Beatenberg einquartiert. Justizminister Ludwig von Moos hielt eine Pressekonferenz ab, bei der er betonte, Frau Allilujewa sei erholungsbedürftig und möchte in Ruhe gelassen werden. Mit der Betreuung des «Feriengastes» beauftragte der Bundesrat einen Spitzenbeamten des EPD, den Basler Juristen und damaligen Chef der «Sektion Ost» des Departements, Antonino Janner.

Das erste Problem, das sich für Janner stellte, war das Interesse der schweizerischen und internationalen Medien. Schnell wimmelte es im Oberland nur so von rasenden Reportern, Verlegern und wohl auch Geheimdienstagenten. «Under cover» musste die Bupo Stalins Tochter aus Beatenberg wegbringen und versteckte sie unter strikter Geheimhaltung zuerst bei den Klarissinnenschwestern in St. Antoni im Senseland, dann im Visitandinnenkloster in Freiburg. Die Presse war in Aufruhr, vor allem der «Blick» wetterte gegen diese «Verschleierungsaktion der Behörden zur Irreführung der Öffentlichkeit». Für das Revolverblatt gehörten die Sensationsgeschichten Allilujewas – einer «wandelnden politischen Zeitbombe» – in die eigenen Klatschspalten. Alles, was das verhindere, sei «Amtswillkür». Bundesbern dagegen argumentierte mit dem Schutz ihrer Persönlichkeit und kritisierte die «Menschenjagd» der «Gangster»-Reporter aufs Schärfste.

«Die Tragödie Swetlanas»

Die Landesregierung befand sich in einem Dilemma, es galt, zwischen staatlichem Interesse und individuellen Freiheitsrechten abzuwägen. «Die Tragödie Swetlanas ist», erläuterte Janner in zwei geheimen Notizen für die Bundesratssitzung vom 17. März, «dass wir nicht nur den Vereinigten Staaten, sondern selbst der Sowjetunion im jetzigen Moment einen Dienst erweisen, aber nur, indem wir praktisch Swetlana mundtot machen und sie, auch wenn sie, weil ihr nichts anderes übrig bleibt, dazu einwilligt, von der Aussenwelt abschliessen.» Janner, strenger Antikommunist und «Kalter Krieger» helvetischer Prägung, konnte diese «zweifellos bequemste Haltung» nicht gefallen. Er plädierte gegen eine Staatsräson, mit der sich die Schweiz auf Kosten Allilujewas zur Zudienerin von Grossmachtsinteressen machte. Stattdessen schlug er vor, Stalins Tochter von ihrem Schweigegelübde zu befreien. Bern solle sich der freiheitlichen Tradition des Landes entsinnen, «der moralische Gewinn für die Schweiz wäre wohl immens». Dafür wollte Janner auch die Brüskierung der USA und einen Abbruch der Beziehungen zur UdSSR in Kauf nehmen.

Dem Bundesrat ging dies zu weit. Seit Beginn der «Entspannungspolitik» interessierte sich der Schweizer Aussenhandel zunehmend für das Wirtschaften mit dem Osten. «Unsere Beziehungen mit der UdSSR zählen mehr als der Status von Frau A.», gab Bundesrat Nello Celio zu Protokoll.

Wie weiter? Über Geheimdienstkanäle trat Moskau mit der «einzigen vernünftigen Lösung» direkt an den Chef des schweizerischen Nachrichtendienstes, Oberstbrigadier Pierre Musy, heran. Der hochrangige KGB-Offizier Michail Rogow, eine «alte Bekanntschaft» Musys, bat die Schweizer Behörden, sie möchten doch darauf hinwirken, Allilujewa, die «teilweise unzurechnungsfähig» sei, zu überreden, in die Sowjetunion zurückzukehren – unter Zusicherung des Status quo ante. Über seine DiplomatInnen machte der Kreml zunehmend Druck und warnte das EPD vor 
einer Verschlechterung der Beziehungen.

In der Karwoche entsandten die USA ihren profundesten Russland-Spezialisten, George F. Kennan, in geheimer Mission in die Schweiz, um mit den Behörden und Allilujewa zu verhandeln und die «Übernahme» zu besprechen. In der zentralen Frage der Veröffentlichung der Memoiren wurde man schnell handelseinig. Kennan argumentierte, diese seien weniger ein politisches als ein «literarisch hochstehendes und historisch äusserst wertvolles Dokument» und könnten deshalb in den USA publiziert werden. Die Schweizer Behörden erlaubten Allilujewa dafür – Janners Minimallösung –, vorgängig mit dem Verleger Verhandlungen aufzunehmen und die Übertragung ins Englische zu organisieren («Die Übersetzung als solche», so Janner, «ist ja bestimmt keine politische Tätigkeit»).

Dieser diplomatische Geheimdienstkrimi endete für die Schweiz nach sechs Wochen am 21. April 1967, als Allilujewa unter dem Decknamen «Frau Staehelin» eine Swissair-Maschine in Richtung New York bestieg. Dort holte sich die US-Presse die Lorbeeren, die den Schweizer JournalistInnen verwehrt blieben: Allilujewa gab bereitwillig Auskunft über ihre Flucht. Während der «Blick» grollte, war der Bundesrat mit sich zufrieden. Laut EPD-Chef Spühler war die Angelegenheit ausgezeichnet abgewickelt worden. Man habe sich «ungeschoren» aus der Affäre gezogen und den Supermächten erst noch einen Gefallen getan. Auch Allilujewa hatte bei ihrer Abreise eine überschwängliche Dankadresse an die Schweiz hinterlassen. Dennoch, das «Problem der menschlichen Freiheit», gemäss Antonino Janners Notiz der zentrale Punkt im Fall Allilujewa, hatte der Bundesrat mit seinem Kalkül nicht gelöst. Zwischenzeitlich sei sich Stalins Tochter, schreibt Janner, im «freien Westen» gefangener vorgekommen als in Moskau.

Die zitierten Dokumente sowie weiteres Material zum Aufenthalt Swetlana Allilujewas in der Schweiz sind als pdf-Faksimile auf der Onlinedatenbank Dodis des Forschungsprojekts Diplomatische Dokumente der Schweiz unter www.dodis.ch/P40914 einsehbar.

Lana Peters (1926–2011) : Ein Vater als «moralisches Monster»

Lana Peters erlag am 22. November in einem Altersheim im US-Staat Wisconsin ihrem Krebsleiden. Geboren wurde sie 1926 in Moskau unter dem Namen Swetlana Stalina.

Die Sowjetunion stand damals am Scheideweg: Der Richtungsstreit innerhalb der Kommunistischen Partei über den weiteren Kurs hatte sich zu einem veritablen Machtkampf innerhalb der obersten Führungsriege entwickelt. Der Generalsekretär der Partei, Swetlanas Vater, sollte als Sieger hervorgehen. Ab 1929 sicherte sich Josef Stalin die Alleinherrschaft in der Sowjetunion und regierte sein Reich mit beispiellosem Terror und Gewalt. Swetlana Stalina, als Kind Teil der propagandistischen Selbstinszenierung des Diktators, versuchte später, auf Distanz zum Vater zu gehen. Sie arbeitete als Historikerin und Philologin, aus zwei kurzen Ehen gingen ein Sohn und eine Tochter hervor. Nach Stalins Tod 1953 nahm sie den Mädchennamen ihrer Mutter, Allilujewa, an. 1963 lernte sie den indischen Kommunisten Brajesh Singh kennen, mit dem sie bis zu dessen Tod 1966 liiert war – eine Hochzeit hatte ihr die sowjetische Regierung verboten. Nach ihrer Flucht in die USA 1967 verurteilte sie das sowjetische System und die kommunistische Ideologie und nannte ihren Vater ein «moralisches Monster». Ihre Memoiren, die bald nach ihrer Ankunft in den USA publiziert wurden, waren ein Verkaufsschlager. Allilujewa heiratete den Architekten William Peters und bekam eine weitere Tochter. Zu Beginn der Perestroika kehrte sie kurz in die Sowjetunion zurück. Nach einem Aufenthalt in Britannien liess sie sich in den USA nieder. Thomas Bürgisser