Schweiz–Nordkorea: Sirenenklänge aus Pjöngjang
169 Schweizer WintersportlerInnen sind derzeit auf der koreanischen Halbinsel im Einsatz – und fünf Offiziere. Ein Blick auf die Beziehungen, die die Schweiz im Kalten Krieg zum geteilten Korea unterhielt: Linke Politiker waren ebenso interessiert wie die Wirtschaft.
«Mir war die Sache nicht ganz geheuer», hielt Claude van Muyden später fest. Ein Vertreter der «Swiss Defence Agency» werde zur Inspektion vorbeikommen, raunte dem Offizier im August 1978 ein chinesischer Militär zu. Van Muyden leitete die sechsköpfige schweizerische Delegation bei der NNSC, der Neutralen Kommission zur Überwachung des Waffenstillstands in Korea in Panmunjeom (vgl. «Die Schweiz als ‹Neutrale des Westens›»). Oft genug beschwerte er sich, dass er auf seinem Posten in der demilitarisierten Zone auf dem 38. Breitengrad bei der Zentrale in Bern vergessen gehe. Doch wenn das Militärdepartement ihm einen offiziellen Besuch abstatten würde, wäre er da nicht vorgängig informiert worden?
Der mysteriöse Besucher entpuppte sich als der Genfer SP-Nationalrat Jean Ziegler. Dieser war als Vizepräsident des Schweizerischen Komitees für die Wiedervereinigung Koreas nach Nordkorea eingeladen worden – selbstredend ohne Mandat der eidgenössischen Behörden. Zieglers Gastgeber und offenbar auch er selbst hatten jedoch ein Interesse daran, der Visite einen offiziellen Anstrich zu geben. So gab Ziegler vor, im Auftrag des Bundesrats in Panmunjeom zu sein, um «mal zu sehen, was diese NNSC-Schweizer eigentlich machen».
«Gang hei, wo d’här cho bisch!»
Vor vierzig Jahren gaben sich linke BesucherInnen aus der Schweiz im Reiche Kim Il Sungs förmlich die Klinke in die Hand. Im September 1978 sollten anlässlich des 30. Geburtstags der Demokratischen Volksrepublik Korea eine Delegation der Progressiven Organisationen Schweiz (Poch), darunter der spätere grüne Nationalrat Daniel Vischer, sowie Vertreter der Partei der Arbeit und der Tessiner SP-Nationalrat Werner Carobbio anreisen. Bereits im Vorjahr war eine Abordnung aus der Schweiz, die an einem internationalen Seminar zur nordkoreanischen Chuch’e-Ideologie teilgenommen hatte, in die Joint Security Area gekommen. «Gang hei, wo d’här cho bisch!», hatte Poch-Präsident Beat Schneider einem von van Muydens Leuten zugerufen: Er hatte die Schweizer Militäruniform erkannt.
Mit Freundlichkeiten hatten die «NNSC-Schweizer» auch von Ziegler nicht zu rechnen. Dieser übernahm die diffusen Vorbehalte seiner nordkoreanischen Gesprächspartner und leitete sie nach seiner Rückkehr seinem Parteikollegen, Bundesrat Pierre Aubert, weiter. In einem euphorischen Bericht schilderte er dem Vorsteher des Eidgenössischen Politischen Departements (heute EDA) seine Erlebnisse in Nordkorea: «Dans une totale liberté» habe er «dieses faszinierende, unbekannte und prächtige Land durchreisen» können. Seine Gesprächspartner an der Spitze von Militär, Regierung und Partei seien offen auf alle seine Fragen eingegangen. Den Aufbau des Sozialismus in Nordkorea, wo selbstbewusst auf politische und wirtschaftliche Unabhängigkeit gepocht wurde, lobte Ziegler als «das Modell für die Dritte Welt».
Diese Aussagen standen in starkem Kontrast zu den Berichten, die etwa Heinz Langenbacher verfasste, der als Schweizer Botschafter in Beijing auch in Pjöngjang akkreditiert war. Wenn das maoistische China ihm als «Luxusgefängnis» erschien, empfand er seinen Antrittsbesuch in Nordkorea 1975 vergleichsweise als «Einzelhaft». Ein vom Aussenministerium zugeteilter «watchdog» sollte ihm von der Ankunft «bis zur Minute der Verabschiedung treuer Begleiter» bleiben. Punktgenau wurde ihm das Besuchsprogramm diktiert. Die Allgegenwart und «Gott-ähnliche» Stellung von Staatschef Kim Il Sung erlebte er als «Personenkult, der alles bisher Erlebte in den Schatten stellt, von Hitler über Stalin bis Mao».
Auch die Adaptionsfähigkeit des nordkoreanischen Modells für die «Dritte Welt» zog Langenbacher in Zweifel. «Wochen in Pjöngjang – gestohlene, verlorene Lebenswochen!», hatte ihm ein Botschafter aus einem sozialistischen Land Afrikas geklagt. Ein asiatischer Diplomat gestand 1978, der Aufenthalt in Nordkorea sei «der schlimmste Albtraum» seines Lebens gewesen. Langenbacher selbst zeigte sich von seinem Besuch zunehmend ermattet: «Auch während diese Zeilen geschrieben werden, liegt über Pjöngjang, wie jeden Tag und jede Nacht, der Lautsprecher-Singsang revolutionärer Lieder und Tremolo-geformter politischer Bekenntnisse», schrieb der Diplomat nach Bern. «Doch, die Lieder tönen wie sentimentale weihnachtliche Engelschöre, die politischen Slogans wie vibrierende Liebeserklärungen. Während der ersten Tage hat diese Dauer-Berieselung den Reiz des Neuen, doch schon nach kurzer Zeit wird sie zur grausamen ‹Nervensäge›.»
«Traktoren in Reih und Glied»
Den Sirenenklängen aus Pjöngjang erlagen im Kalten Krieg jedoch bei weitem nicht nur die Linken. Noch 1973 berichteten Schweizer Diplomaten fasziniert vom «koreanischen Boom», dem «gigantischen materiellen Fortschritt des Landes» mit seinen «wohlgenährten, gut gekleideten und untergebrachten Bürgern». Auch Langenbacher zeigte sich 1975 von der Wirtschaftsleistung der disziplinierten NordkoreanerInnen – «Traktoren in Reih und Glied» – beeindruckt.
Angeregt durch die zaghafte Öffnung Pjöngjangs, spekulierten manche auf das grosse Geschäft. Ab 1972 begaben sich die NordkoreanerInnen nämlich auf eine ausgedehnte Einkaufstour nach Westeuropa, um die im Vergleich zum florierenden Südkorea stagnierende Wirtschaft mit dem Import von Technologien und Kapital anzukurbeln. Sie kauften auch einige komplette Industrieanlagen auf, etwa eine französische Raffinerie, eine finnische Papiermühle – sowie eine schlüsselfertige Uhrenfabrik der Genfer Firma Blanchut & Bertrand.
500 Maschinen verschifften Blanchut & Bertrand in die Retortenstadt Pyeongseong, dazu rund zwanzig für die Installation besorgte Techniker. «Massive» Bestellungen gingen auch für Uhren ein. Für Millionen wurden bei der Basler Chemie Düngemittel und Pestizide gekauft, bei Bührle und Maag Maschinen bestellt. Auch ein Nuklearkraftwerk und eine Kugelschreiberfabrik hoffte man veräussern zu können. Finanzinstitute vergaben Kredite, und der Bund gewährte grosszügige Exportrisikogarantien. Schliesslich galt Nordkorea, «gestützt auf seine Deviseneinnahmen aus dem Export von Mineralien und Rohstoffen (Zink, Graphit, Silber, Gold) anfänglich als guter Zahler», wie das Eidgenössische Volkswirtschaftsdepartement notierte.
Bereits 1975 kippte jedoch die Stimmung, weil die Nordkoreaner schlicht ihre Rechnungen nicht beglichen. Durch Fehlplanungen kam es zur Zahlungsunfähigkeit. Mit satten hundert Millionen Franken blieb Nordkorea bei Schweizer Lieferanten in der Kreide. Heute hält sich der Schweizer Export in Grenzen – wenngleich Nordkorea zu den ausgewählten Ländern zählt, mit denen der Bund Exportstützpunkte samt einem ausgebauten Dienstleistungsangebot unterhält. Für Aufsehen sorgte 2013 das Vorhaben der Flumser Firma Bartholet Maschinenbau, in einem von Kim Jong Un geplanten Skigebiet eine Sesselbahn zu bauen. Das Staatssekretariat für Wirtschaft jedoch stoppte das Projekt: Es handle sich um ein luxuriöses «Prestige- und Propagandaprojekt», das nur für die Polit- und Wirtschaftselite des Landes zugänglich sei.
Kim junior «gut integriert» in Köniz
Der wohl augenfälligste Bezug, den die Schweiz zum nordkoreanischen Regime hat, ist die Tatsache, dass der derzeitige Diktator Kim Jong Un offenbar über Jahre in der Schweiz gelebt hatte. Ab 2009 erfuhr die Öffentlichkeit, dass der 1984 geborene Kim als Kind wahrscheinlich nicht nur bei einer Tante in Liebefeld in Köniz bei Bern gewohnt und die private International School in Gümligen besucht hatte. Gemäss Medienberichten soll Nordkoreas «geliebter Führer» zwischen 1998 und 2000 auch – getarnt als Sohn eines nordkoreanischen Botschaftsangestellten – in die öffentliche Schule Liebefeld-Steinhölzli gegangen sein. Er sei «gut integriert, fleissig und ehrgeizig gewesen».
Offiziell ist das alles nicht, und einiges bleibt im Dunkeln. Der Beginn der ausbildungstechnischen Kontakte zwischen der Schweiz und Nordkorea reicht jedenfalls auch schon vierzig Jahre zurück. 1975 fragte das Regime in Pjöngjang an, ob fünfzehn nordkoreanische SchülerInnen an Genfer Schulen aufgenommen werden könnten. Im Berner Aussendepartement gab man sich hocherfreut. Es sei «begrüssenswert, wenn kommunistische Regimes Asiens unserem Land ausgewählte Vertreter ihrer Jugend zur Ausbildung anvertrauen», so eine Notiz. «Wenn diese Jugendlichen auch ausserhalb der Schule vermutlich wenig Freiheit geniessen, dürfte der Eindruck, den einige Jahre an schweizerischen Schulen in diesem empfänglichen Alter hinterlassen, beträchtlich sein und indirekt zur Öffnung dieser Länder gegenüber der Schweiz und dem westlichen Denken beitragen.»
Der Tatbeweis, dass diese Strategie verfangen hat, bleibt bislang aus.
Der Historiker und WOZ-Autor Thomas Bürgisser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) in Bern.
Die zitierten Dokumente sind im Web unter dodis.ch/50834 , dodis.ch/50827 , dodis.ch/50835 , dodis.ch/49572 , dodis.ch/39309 , dodis.ch/39301 , dodis.ch/39274 , dodis.ch/39276 , dodis.ch/39265 und dodis.ch/39310 einsehbar.
Vom Waffenstillstand bis zur gegenseitigen Diplomatie: Die Schweiz als «Neutrale des Westens»
Mindestens zweieinhalb Millionen Opfer forderte der 1950 mit dem nordkoreanischen Angriff auf den Süden initiierte Koreakrieg, die meisten davon ZivilistInnen. Durch das Eingreifen der Sowjetunion, der Uno und der USA sowie Chinas war der Konflikt ein Stellvertreterkrieg von weltpolitischer Dimension.
Der Waffenstillstand vom 27. Juli 1953 bot der Schweizer Diplomatie eine einzigartige Möglichkeit, die Neutralität des Landes auf internationaler Ebene zu profilieren. Ein Kontingent von zuerst fast 150 Schweizer Armeeangehörigen beteiligte sich an den Arbeiten einer neutralen Repatriierungskommission für die Kriegsgefangenen und an der Kommission zur Überwachung des Waffenstillstands. Im Rahmen dieses ersten Engagements der Schweiz im Bereich der militärischen Friedensförderung markieren bis heute fünf Offiziere Präsenz an der innerkoreanischen Demarkationslinie.
Die Schweiz absolvierte ihre «guten Dienste» gemeinsam mit Schweden sowie mit Polen und der Tschechoslowakei, die die Sowjets als «ihre Neutralen» in die demilitarisierte Zone schickten. Das hiess im Umkehrschluss, dass die Schweiz, die von den USA angefragt worden war, zu den «Neutralen des Westens» gehörte. Puristischen ExegetInnen der «immerwährenden Neutralität» musste das problematisch erscheinen. Bedenken bestanden auch bezüglich der Aufnahme diplomatischer Beziehungen mit den koreanischen Staaten. Seoul und Bern akkreditierten erst 1963 und 1964 gegenseitig einen Botschafter.
Massgeblich war das ökonomische Interesse an engeren Kontakten zum sich rasch entwickelnden Südkorea. Pjöngjang liess man mit seinen Anerkennungsavancen bis 1974 abblitzen, um Seoul nicht zu verärgern.
Thomas Bürgisser