Menschenrechtspolitik: Herr Aubert und die sowjetischen Dissidenten

Nr. 28 –

Gerne wird von der «humanitären Tradition» der Schweiz gesprochen. Eine eigentliche Menschenrechtspolitik lancierte das Land aber erst vor genau vierzig Jahren.

Unerhört war es schon, was Wladimir Lawrow da bot. Der sowjetische Botschafter in Bern war am frühen Abend des 14. Juli 1978 – kurz vor dem Wochenende – zu einer Unterredung in den Westtrakt des Bundeshauses zitiert worden. Damals wurden in der UdSSR die drakonischen Urteile gegen eine kleine Gruppe von Intellektuellen gefällt, die sich offen für eine Demokratisierung und die Durchsetzung von Menschenrechten einsetzten. Abteilungsleiter Anton Hegner hatte vom Chef des Eidgenössischen Politischen Departements (EPD, ab 1979 EDA) den Auftrag erhalten, Lawrow «im Auftrage des Bundesrates das Unbehagen der Behörden und weiter Volkskreise der Schweiz über die in der jüngsten Vergangenheit gefällten Urteile» auszudrücken. Ausserdem sollte Lawrow der Vorschlag unterbreitet werden, «die von diesem Verfahren betroffenen Dissidenten in unserem Land aufzunehmen». Das sollte schwieriger werden als gedacht.

Premiere nach «Helsinki»

«Sobald er das Wort ‹Prozess› hörte», berichtete Hegner, «unterbrach mich der sowjetische Botschafter und gab mir in einer vehementen Erklärung auf Russisch, die der ihn begleitende Dolmetscher übersetzte, zu verstehen, dass die Dissidentenprozesse eine innenpolitische Angelegenheit der UdSSR seien und dass es für die Beziehungen zwischen den beiden Ländern besser wäre, wenn sich die Schweizer Behörden hier nicht einmischen würden.» Hegner gab sich erstaunt, dass der ausländische Diplomat auf fremdem Boden die Entgegennahme einer Regierungserklärung dreist verweigerte. Seine aufgebrachten Gesprächspartner brachte er damit nicht zur Räson. Schliesslich verlas Hegner das Anliegen in abgehackten Wortfetzen zu Ende, während Lawrow und der Übersetzer förmlich dagegen anbrüllten. Da unklar blieb, ob die Botschaft angekommen war, folgte sie selbentags schriftlich durch den Pressedienst.

Was sich an jenem Freitagabend vor vierzig Jahren in Bern ereignete, war mehr als eine diplomatische Demarche, von deren ungehobelter Form die Öffentlichkeit nie erfahren sollte. Es handelt sich um eines der ersten Male, dass die offizielle Schweiz zugunsten der universellen Gültigkeit von Menschenrechten die Initiative ergriff. Architekt dieser offensiven Menschenrechtspolitik war der SP-Bundesrat und Aussenminister Pierre Aubert. Der Neuenburger Jurist hatte sich seit Beginn der Prozesse gegen Dissidenten in der UdSSR für deren Belange eingesetzt. Im Mai 1977 unterzeichnete er, noch als Ständerat, gemeinsam mit gut fünfzig ParlamentarierInnen einen Aufruf an seinen Amtsvorgänger Pierre Graber. Dieser solle sich auf diplomatischem Weg für die Einhaltung der Grundrechte insbesondere der jüdischen Bevölkerung in der Sowjetunion einsetzen.

Aubert war im Dezember 1977 in den Bundesrat gewählt worden und übernahm die Leitung des EPD. Bereits mit seiner ersten Amtshandlung setzte Aubert ein kraftvolles Zeichen: An seinem ersten Arbeitstag am 1. Februar 1978 forderte er von seinen MitarbeiterInnen einen ausführlichen Bericht über die Möglichkeit der Schweiz ein, ihre «Tätigkeit zu Gunsten der Verteidigung der Menschenrechte auf internationaler Ebene zu intensivieren, ohne unserer gewohnten Politik der Neutralität und der Zurückhaltung zu schaden». Mit der zunehmenden Multilateralisierung der internationalen Politik, der sich auch die Eidgenossenschaft nicht entziehen konnte, eröffneten sich hier ganz neue Handlungsfelder. Das betraf auch den Umgang mit den kommunistischen Regimes in Osteuropa.

Am 1. August 1975 hatte die Schweiz in Helsinki die Schlussakte der Konferenz über Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa (KSZE) unterzeichnet. Darin verpflichteten sich alle unterzeichnenden Staaten – auch die Sowjetunion – «die Menschenrechte und Grundfreiheiten» zu «achten» und deren «wirksame Ausübung» zu «fördern» und zu «ermutigen». Nach «Helsinki» waren diese Prinzipien eben keine innerstaatliche, sondern eine internationale Angelegenheit. Entsprechend berief sich die Lawrow unterbreitete Demarche explizit auf die KSZE-Schlussakte. Dies hatte die Eidgenossenschaft bereits vorher getan. Allerdings betrafen die früheren Vorstösse ausschliesslich konsularische Interessen der Schweiz, etwa wenn Bern die Ausreise von Schweizer BürgerInnen mit doppelter Staatsbürgerschaft aus der UdSSR, der DDR oder Rumänien einforderte oder Familienzusammenführungen mit EhepartnerInnen und Kindern von SchweizerInnen in diesen Ländern.

«Neuer Stil – Marke Aubert»

Zwar veröffentlichte die Landesregierung schon früher – beim Einmarsch des Warschauer Pakts in die Tschechoslowakei im August 1968 oder anlässlich des Leningrader Prozesses gegen sowjetische «Refuseniks» im Dezember 1970 – Communiqués. Hier schob der Bundesrat jedoch die «Besorgnis» beziehungsweise «Bestürzung» des «Schweizervolkes» vor und schränkte ein, es sei «nicht Aufgabe der Regierung eines neutralen Staates, zu Prozessen im Ausland Stellung zu nehmen». Der Protest von 1970 richtete sich – neutralitätspolitisch korrekt – auch gegen die noch drakonischeren Urteile, die zeitgleich ein franquistisches Militärgericht im spanischen Burgos gegen eine Gruppe baskischer SeparatistInnen gefällt hatte. Als das Franco-Regime in den letzten Monaten seiner Existenz im September 1975, wieder in Burgos, fünf Kommunisten hinrichtete, liess Pierre Graber den Schweizer Botschafter in Madrid zu Konsultationen nach Bern zurückberufen. Zu dieser drastischen Massnahme liess sich der Aussenminister allerdings erst hinreissen, nachdem vierzehn westeuropäische Staaten einen analogen Schritt vollzogen hatten.

Insofern zeugt Auberts überraschender Vorstoss vom Sommer 1978 von einer neuen Qualität. «Das mit dem Protest gegen die Dissidenten-Prozesse in der Sowjetunion gekoppelte Asylangebot der Schweiz stellt ein einmaliges Ereignis in der Geschichte der Aussenpolitik unseres Landes dar», schrieb die Schweizerische Depeschenagentur. Mitten in der Sauregurkenzeit fand die Aktion weitherum positives Echo. Beim «Tages-Anzeiger» musste man die «ausserordentliche Meldung» zweimal lesen, um sie glauben zu können: «Die Schweizer Aussenpolitik lässt ihre sture Zurückhaltung fallen und exponiert sich zugunsten der Menschenrechte.» Auch bei der «Basler Zeitung» war man positiv überrascht darüber, «wie deutlich, und vor allem, wie prompt» die Landesregierung gehandelt hatte. «Bundesrat war forsch wie nie!», titelte die Zürcher «Tat».

Wahrscheinlich eher nicht begeistert waren Bundesratskollegen vom «neuen Stil – Marke Aubert» («Basler Zeitung»). Den Entscheid zur Demarche gegenüber Moskau fällte nämlich nicht etwa der Gesamtbundesrat – die Magistraten weilten in den Sommerferien. Weil auch Justizminister Kurt Furgler abwesend war, gleiste Aubert das Asylangebot gemeinsam mit EJPD-Generalsekretär Benno Schneider auf. Erst nachdem Lawrow zitiert worden war, liess der Aussenminister am Freitagabend den Text am Telefon von Bundespräsident Willi Ritschard, dem zweiten Sozialdemokraten in der Regierung, absegnen. Zur Veröffentlichung des bundesrätlichen Communiqués kam es per Präsidialdekret. Dem Rest der Kollegialbehörde erklärte sich Aubert dann anlässlich der ersten Ratssitzung nach der Sommerpause.

Tatsächlich kämpfte Aubert auch gegen Widerstände im eigenen Departement. Wenige Wochen vor der eigenwilligen Aktion beschwor Generalsekretär Albert Weitnauer seinen Vorgesetzten eindringlich, sich in der Frage der sowjetischen Dissidentenprozesse nicht ohne Not aus dem Fenster zu lehnen: «Lebhaft» riet der erfahrene Handelsdiplomat alter Schule davon ab, in eine überengagierte «schwedische Aussenpolitik» abzugleiten und mit einem «Gefühlsschuss» vom Königsweg einer «diskreten Politik» abzukommen, «von der wir sehr, sehr lange Zeit enorm profitiert haben». Aubert hatte mit seiner Idee einer «Dynamisierung» der schweizerischen Aussenpolitik anderes im Sinn. Die Differenzen mit seinem Chefdiplomaten sollten schliesslich 1980 zum unrühmlichen Ausscheiden Weitnauers aus dem Departement führen.

Antikommunistischer Konsens

Auberts humanitäres Engagement wurde auch von der Politik des neuen US-Präsidenten Jimmy Carter beflügelt, der seit 1977 die Menschenrechtsidee auf internationaler Ebene vorantrieb. Mit dieser Strategie wollte Carter eine neue Legitimationsbasis für Washingtons globalen Führungsanspruch und gleichzeitig ein Instrument im ideologischen Kampf gegen die Sowjetunion schaffen. Auch die Stossrichtung von Auberts erstem Streich war kaum dem Zufall geschuldet: Mit der Rüge gegen Moskau konnte der Aussenminister im antikommunistischen Konsens der Schweiz auf breite öffentliche Unterstützung zählen. Andernorts geriet der Aussenminister mit seinem Aktivismus bald ins Kreuzfeuer bürgerlicher Kritik.

Der Zielkonflikt zwischen humanitärem Anspruch und praktizierter Aussenwirtschaftspolitik – Beispiel Apartheidregime in Südafrika oder, bis heute aktuell, Kriegsmaterialausfuhr – wurde selbstredend auch nach 1978 nicht gelöst. Auch für die verurteilten Mitglieder der Moskauer Helsinki-Gruppe blieb die Episode im sommerlichen Bundesbern ohne Konsequenzen. Die AktivistInnen um Juri Orlow, Anatoli Scharanski und Alexander Ginsburg mussten Lagerhaft und Zwangsarbeit in Sibirien antreten, bevor sie gegen sowjetische Spione ausgetauscht wurden und schliesslich in den USA, Israel oder Frankreich Exil fanden. Dennoch: Aubert gelang es mit seiner Intervention vor vierzig Jahren, eine aktive Menschenrechtspolitik dauerhaft auf die aussenpolitische Agenda der Schweiz zu setzen.

Der Historiker und WOZ-Autor Thomas Bürgisser ist wissenschaftlicher Mitarbeiter der Forschungsstelle Diplomatische Dokumente der Schweiz (Dodis) in Bern.

Die zitierten Dokumente sind im Web unter dodis.ch/48740 , dodis.ch/48747 , dodis.ch/49960 , dodis.ch/49267 , dodis.ch/35666 , dodis.ch/39103 , dodis.ch/50927 , dodis.ch/48701 und dodis.ch/48700 einsehbar.

Keine Pionierrolle

Die viel beschworene «humanitäre Tradition» der Schweiz geht auf die liberale Asylpraxis des Bundesstaats und die Gründung des Internationalen Komitees vom Roten Kreuz im 19. Jahrhundert zurück. Immer wieder konnte die Schweiz zudem mit «guten Diensten» in internationalen Konflikten vermitteln. Bezüglich einer aktiven Menschenrechtspolitik war die Schweiz aber, wie der Historiker Jon Fanzun (der spätere Kabinettschef des ehemaligen Aussenministers Didier Burkhalter) in seiner Dissertation 2005 festhielt, nicht Vorreiterin, sondern Nachzüglerin. So ratifizierte das Land erst 1974 die Europäische Menschenrechtskonvention (EMRK) von 1950.

Es dauerte bis 1985, bis die Schweiz mit der Antifolterkonvention erstmals ein wichtiges Menschenrechtsübereinkommen der Vereinten Nationen unterzeichnete. Den anderen Uno-Abkommen trat sie erst nach dem Ende des Kalten Kriegs bei. Die anhaltende Skepsis gegenüber völkerrechtlichen Verpflichtungen zeigt sich daran, dass mit der SVP-«Selbstbestimmungsinitiative», über die am 25. November abgestimmt wird, die EMRK-Mitgliedschaft erneut zur Disposition steht.