Britannien und die EU: Camerons heikler Alleingang
Wenn jemand aus falschen Gründen das Richtige tut, ist das noch lange nicht gut. Zwei Aspekte vor allem haben den britischen Premierminister David Cameron bewogen, das enge Sparkorsett abzulehnen, das Deutschland den EU-Staaten angelegt hat und das die Euro-Krise noch verschärfen wird (vgl. «Weiter mit Karacho», Seite 9).
Da ist zum einen der Druck aus den Reihen der reaktionären HinterbänklerInnen seiner Tory-Partei, die «splendid isolation» für eine famose Sache halten, internationale Regelungen generell ablehnen und die Europäische Union (EU) am liebsten sofort verlassen würden. Ihnen ist es in den letzten Jahren mithilfe der in Europafragen hysterisch agierenden rechten Massenmedien gelungen, die Stimmung im Land zu drehen. Während vor zehn Jahren noch zwei Drittel der britischen Bevölkerung die Mitgliedschaft Britanniens in der EU begrüssten, lehnt mittlerweile die Hälfte die EU ab.
Und zweitens warf sich Cameron am EU-Gipfel Ende letzter Woche für den britischen Finanzplatz, die City of London, in die Bresche. Er verlangte per se eine Ausnahmegenehmigung für die Banken, die Versicherungen und die Börsen in der britischen Hauptstadt – die die anderen EU-Regierungen so pauschal nicht erteilen wollten. Keine Finanztransaktionssteuer, keine Aufsplittung in Geschäfts- und Investmentbanken, keinerlei Regeln für den Finanzsektor, lautete sein Mantra vor, während und nach dem Gipfeltreffen. Dabei standen diese Themen am Treffen der EU-Staats- und RegierungschefInnen gar nicht im Vordergrund. Und gegen den wichtigsten Beschluss – eine künftig EU-weit geltende Schuldenbremse nach dem Schweizer Modell – hatte er ohnehin nichts einzuwenden. Schliesslich betreibt die britische Koalitionsregierung seit ihrer Wahl 2010 eine noch weitaus rabiatere Kürzungspolitik als viele andere EU-Staaten (siehe WOZ Nr. 46/11).
Woher kommt also Camerons Eifer? Hat er damit zu tun, dass vor allem der Finanzplatz die Tories alimentiert? Das wäre zu kurz gegriffen. Die politische Elite Britanniens machte sich schon immer für den Finanzsektor stark. Schon während der Zeit des britischen Empires dominierten die Banken und Versicherungen, die die Kolonien ausplünderten, die Wirtschaftspolitik. Denn ihre Auslandsgeschäfte warfen Renditen ab, die weit über den Gewinnen lagen, die das Industriekapital erwirtschaften konnte. Nach dem Ersten Weltkrieg und besonders mit dem Ende des Kolonialreichs wuchs die Dominanz der Finanzwirtschaft noch weiter, weil die Reichen ihr Geld lieber in der City anlegten, statt in die Fertigung von Waren zu investieren.
Und die Politik vertiefte die Kluft zwischen Finanz- und Industriekapital weiter: So hat Winston Churchill auf Verlangen der Finanzelite den Goldstandard des Pfunds beibehalten, obwohl die Industrie darunter ächzte. Und Labour-Premier Harold Wilson weigerte sich in den siebziger Jahren, das Pfund abzuwerten (was der angeschlagenen Exportwirtschaft geholfen hätte), weil die Finanzmakler dagegen waren. Kurzum: Wenn es eine Konstante in der britischen Politik gibt, dann ist es die permanente Bevorzugung des Finanzsektors zulasten der Industrie.
Das Resultat ist verheerend. Die Realökonomie liegt am Boden; es gibt kaum noch global wettbewerbsfähige Firmen; das Handelsdefizit wächst; und nächstens versiegt auch noch das Nordseeöl. Kein Wunder, dass viele Industrielle Camerons Veto kritisieren: Sollte Britannien ganz aus der EU ausscheren, bricht ihr grösster Absatzmarkt weg.
Selbst die Finanzgewaltigen der City sind nach ihrem ersten Jubel nachdenklich geworden. Als vollwertiges Mitglied in der EU hätte Londons Regierung eventuelle Pläne zur Regulierung des Finanzsektors torpedieren können. Nun hat vielleicht ausgerechnet Cameron dazu beigetragen, dass ihr das künftig nicht mehr so einfach gelingen wird – und die Londoner City, die Tag für Tag irrwitzig grosse Vermögen rund um den Erdball schickt, dabei Millionen verarmen lässt und Volkswirtschaften ruiniert, endlich an die Kette kommt.