Mario Vargas Llosa: Bruchstellen der europäischen Zivilisation
Der neue Roman des peruanischen Schriftstellers bringt die rechte wie die linke Literaturkritik in Nöte: eine gute Gelegenheit, um über den Kolonialismus und seine Rückkopplung auf Europa nachzudenken.
Die Literaturkritik, speziell die rechte und die linke, tut sich schwer mit Mario Vargas Llosas Roman «Der Traum des Kelten» über den Iren Roger Casement (1864–1916). Die Rechte hat Mühe mit einem antikolonialistischen Inhalt, der aus drei Blöcken besteht: «Der Kongo», «Der Amazonas» und «Irland». Die Linke weiss nicht, wie sie mit einem nach rechts gerückten Autor umgehen soll, der zu linken Themen schreibt.
Der Ethnologe und Journalist David Signer, der den Kolonialismus und seine Folgen zu verharmlosen pflegt, findet, Vargas Llosa gehe es «eigentlich» um den «Umschlag von Idealismus in Totalitarismus» («NZZ am Sonntag»). Damit meint er nicht die kolonialistische «Dreifaltigkeit der drei ‹C› – Christianity, Civilization, Commerce» –, die im Kongo und in Peru in eine Barbarei führte, die Millionen von AfrikanerInnen und Indigenen das Leben kostete. Signer meint die irischen FreiheitskämpferInnen, insbesondere Roger Casement.
In Vargas Llosas Roman sitzt dieser in der Todeszelle eines Londoner Gefängnisses und hält in den Tagen vor seiner Hinrichtung am 3. August 1916 Rückschau auf sein Leben. Wenige Jahre zuvor noch war er für seine Untersuchungsberichte über die Gräueltaten der Belgier im Kongo sowie die der Peruvian Amazon Company im Amazonasgebiet geadelt worden, die er im Auftrag der britischen Regierung veröffentlicht hatte.
Sir Casement wurde aus zwei Gründen gehängt: wegen seines Versuchs, die Deutschen während des Ersten Weltkriegs zur militärischen Unterstützung der irischen Unabhängigkeitsbewegung zu gewinnen, und aus Rache am Osteraufstand vom April 1916 in Dublin, obwohl er diesen wegen Chancenlosigkeit verhindern wollte. Interessant ist, dass bei Vargas Llosa die idealistischen Aufständischen von 1916 besser wegkommen als der realpolitische Casement, der nach dem Grundsatz «die Feinde des Feindes (sind) Freunde» gehandelt hatte.
Von Afrika nach Europa
Der linke Literaturwissenschaftler Uwe Ebel unterstellt Vargas Llosa, letztlich ginge es ihm um die Rehabilitierung des britischen Empire und die Verteidigung einer «katholischen Weltsicht». Die erste Behauptung wird mit einem sarkastischen Satz Casements zu belegen versucht, den er in Berlin schrieb, nachdem seine Hoffnung in die Deutschen enttäuscht worden war: «Mein Hass auf die Deutschen ist inzwischen so gross, dass ich lieber an einem britischen Galgen baumele, als hier zu sterben.»
Tatsächlich findet der protestantisch erzogene Casement, dessen Vater Anglikaner aus Ulster war, in der Todeszelle zum Glauben seiner früh verstorbenen katholischen Mutter. Diese Konversion schildert Vargas Llosa mit viel Empathie. Aber die Schilderung eines Besuchs Casements beim erzkatholischen belgischen König Leopold II., der wie ein «erleuchteter Prediger sprach», zeigt, dass der peruanische Autor sehr wohl weiss, dass es verschiedene Katholizismen gibt. Wie die meisten KritikerInnen verpasst Ebel vor lauter Vargas-Llosa-Bashing ein Dreieck, das im «Traum des Kelten» immer wieder aufgespannt wird: Casements Sehnsucht nach der Mutter, seine Faszination für das Katholische und die homosexuellen Fantasien.
Auch der unpolitischeren Kritik fällt es schwer, Casements Entdeckung des irischen Schicksals in den «Tiefen des Kongos» zu verstehen und Vargas Llosas Sprung von Afrika nach Europa nachzuvollziehen. Dabei macht es die freizügige Übersetzung den deutschsprachigen LeserInnen unnötig schwer. Ein Beispiel: Während Vargas Llosa zur Beschreibung der kolonialen Folgen bei den KongolesInnen und bei den IrInnen wohl bewusst dasselbe Wort «automatas» wählt, übersetzt das Angelica Ammar unterschiedlich. «Das Dorf wirkte wie von apathischen Wesen bewohnt» und: «Wir müssen jetzt handeln, ein für alle Mal, bevor es zu spät ist und wir zu Automaten geworden sind.»
Der Bezug zu Hannah Arendt
Um den Weg von Afrika nach Europa zu weisen, ist im «Traum des Kelten», der auch der Titel eines Versepos Casements aus dem Jahre 1906 ist, eine auffällige Fährte gelegt. Sie heisst «Das Herz der Finsternis» (1903) und führt uns über dessen Autor Joseph Conrad, einem Freund Casements, zu Hannah Arendts «Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft» (1951).
Vargas Llosa stiess bei Recherchen über den polnisch-britischen Schriftsteller, der einst als Kapitän den Fluss Kongo befahren hatte, auf Casement. Die Barbarei, die Conrad belletristisch zu bewältigen versuchte, hatte Casement dokumentarisch verarbeitet. Beide Werke wurden um die vorletzte Jahrhundertwende berühmt, die Erzählung blieb es, die Dokumentation wurde es wieder – dank Vargas Llosa.
In Arendts Totalitarismusbuch ist Conrads «Herz der Finsternis» eine wichtige Referenz im Hauptkapitel «Imperialismus». Darin erklärt sie, dass es sich beim Rassismus, bei der Entmenschlichung ganzer Volksgruppen, die in Europa in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts zu Gewaltexzessen, zum Faschismus und zur Schoah führten, um einen Rückschlag europäischer Kolonialpolitik in Afrika handelte. Casement, der wusste, dass die «Kolonialisierungsmethoden in Europa raffinierter waren» als in Afrika und Südamerika, sah seine Kritik am Empire bestätigt durch dessen brutales Vorgehen gegen den Osteraufstand von 1916. Die weissen «Parias» mit ihrer «modernen Mobmentalität», die laut Arendt und wie Conrads «Herrn Kurtz» lieber «einem Herrenvolk» (Arendt) angehören wollten, lernte Casement bei den Ulster Volunteers kennen, die lieber britische Herren als irische Untertanen waren.
Die Urkatastrophe, die der Erste Weltkrieg war, beschreibt Vargas Llosa mit einer berührenden Geschichte. Der patriotisch-britische Sheriff, der den landesverräterischen Casement zu versorgen hatte, begann nach anfänglicher Distanzierung bei diesem für den Verlust seines einzigen Sohns Trost zu suchen, der 1915 auf einem der vielen Schlachtfelder umgekommen war. «Irgendwann hatte der Wärter Roger nach einem langen Schweigen gestanden, wie schwer die Erinnerung auf ihm laste, Alex als kleinen Jungen einmal verprügelt zu haben, weil er in der Bäckerei in der Ecke einen Kuchen geklaut habe.» Der Sheriff, der sich ein Gewissen macht, seinen Sohn geschlagen zu haben, steht im loyalen Dienst eines der Staaten, die Millionen von Söhnen in den Tod schicken. Und der zum Tod verurteilte Casement, «bedauert, nichts tun zu können, ihn aufzumuntern». Wie verwüstet ist eine Welt, in der eine Todeszelle eine Oase der Humanität scheint!
Vargas Llosa, Arendt und Casement vertreten einen gemeinsamen Grundwert: den der Würde und Freiheit des Individuums. Die Rechten müssen – auch im «Traum des Kelten» – zur Kenntnis nehmen, dass die normative Basis der Moderne unvereinbar ist mit einer Verharmlosung oder gar Verteidigung des Kolonialismus. Wir Linken müssen uns fragen, warum ein lateinamerikanischer Vertreter dieses Grundwerts im rechten Lager gelandet ist.
Der Historiker Josef Lang ist Mitglied des Vorstands der GSoA und sass von 2003 bis 2011 für die Grün-Alternativen des Kantons Zug im Nationalrat.
Mario Vargas Llosa: Der Traum des Kelten. Aus dem Spanischen von Angelica Ammar. Suhrkamp. Berlin 2011. 444 Seiten. Fr. 35.50